Für den 1. März 2025 wurden im Rahmen eines bundesweiten palästinasolidarischen Aktionstages „From the river to the sea – all people will be free“ Versammlungen in Wien, Linz, Innsbruck und Graz angemeldet.
Während die Versammlungen in Oberösterreich, Tirol und der Steiermark anstandslos genehmigt wurden, verbot die Polizei in Wien die Kundgebung kurzerhand. Die antidemokratische Maßnahme wurde in geradezu absurder Weise gerechtfertigt, die der Manier der Verbote aus dem Herbst und Winter 2023 noch eines draufsetzt.
Das sind die Gründe:
Erstens: Keine Freiheit und Gleichheit für alle – nur Apartheid-Israel darf gelten
Die Forderung nach einer Freiheit und Gleichheit aller Menschen, die im Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer leben, die Forderung nach einem Zustand gleicher demokratischer Rechte und Schutz der Menschenrechte, wie es in „From the river to the sea – all people will be free“ zum Ausdruck gebracht wird, wird von der Polizei als deckungsgleich mit „From the river to the sea, Palestine will be free“ gewertet, was wiederum als kodierter „Vernichtungsaufruf“ gegen Israel geframed wird. In kurz: Im Gebiet zwischen Fluss und Meer darf es nur Apartheid-Israel geben.
Im Untersagungsbescheid heißt es:
„Der von Ihnen angegebene Versammlungszweck ‚From the river to the sea, all people will be free‘ ist offensichtlich in Anlehnung an den Slogan ‚From The River To The Sea, Palestine Will Be Free‘ gewählt. Bei dem Slogan ‚From The River To The Sea, Palestine Will Be Free‘ handelt es sich um einen Code, der zur Beseitigung des Staates Israel aufruft. Diese Parole bedeutet im Grunde, dass Israel kein Recht habe, auf dem Land zwischen Jordan und Mittelmeer zu existieren, und wird seit Langem von islamistischen Gruppen unterstützt, die offen zur Beseitigung Israels aufrufen. Die Verwendung letztgenannten Slogans führte in der Vergangenheit zu Untersagungen bzw. Auflösungen von Versammlungen. Der von Ihnen gewählte Versammlungszweck hat nach Ansicht der Versammlungsbehörde denselben Bedeutungsgehalt wie der Slogan ‚From The River To The Sea, Palestine Will Be Free‘.“
Dazu ist zu beachten: „From the river to the sea – all people will be free“ ist im Einklang mit Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Die Behörden werten Artikel 1 der AEMR, wenn es um das Gebiet zwischen Fluss und Meer geht, jedoch als einen Kode für „From the river to the sea, Palestine will be free“. „From the river to the sea, Palestine will be free“ wiederum wird auch als ein Kode „zur Beseitigung des Staates Israel“ gewertet. Als Begründung dafür wird angeführt, dass er „seit Langem von islamistischen Gruppen unterstützt“ wird.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Eine Versammlung zum ersten (!) Artikel der Erklärung der Menschenrechte wird verboten, weil es sich um einen Kode für einen Kode für den Aufruf zur Vernichtung Israels handle, der ein solcher Kode ist, weil ihn auch „islamistische Gruppen“ unterstützen. Eine entlarvendere, zugleich dürftigere Argumentation lässt sich schwer finden – es geht einzig darum, die Stimme der Demokratie und gleicher Rechte für alle zum Schweigen zu bringen.
„Nach Ansicht der Versammlungsbehörde weist der zuletzt genannte Slogan […all people will be free] jedoch denselben Bedeutungsgehalt wie der Slogan ‚From The River To The Sea, Palestine Will Be Free‘ auf, und zielt die Verwendung des neuen Slogans auf dieselbe Wirkung ab.“
Zweitens:
15 Monate Völkermord ist irrelevant – Nur der 7. Oktober ist der „aktuelle Kontext“
„From the river to the sea, Palestine will be free“ wird mit Verweis auf die Einschätzung der „Dokumentationsstelle Politischer Islam“ (vom Oktober 2023) bewertet. Die Dokustelle wiederum hält fest, dass aufgrund der Historie ersichtlich wird, „dass der medial oft als ein ‚Code für die Vernichtung Israels‘ interpretierte Slogan ‚From the River to the Sea‘ auch abweichende Bedeutungsinhalte transportieren kann“, eben auch unter c. „ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen in einem mehr oder weniger säkularen Staatswesen unter arabischer (wahrscheinlich muslimischer) Mehrheit“.
Halten wir also fest: Die Polizei setzt „From the river to the sea – all people will be free“ (per se die Forderung nach einen gleichberechtigten Zusammenleben) gleich mit „From the river to the sea, Palestine will be free“ und interpretiert dann diese Forderung unter mehreren Möglichkeiten wortwörtlich im „medial oft interpretierten Sinne“ als „Code für die Vernichtung Israels“. Das tut sie wiederum in Berufung auf die Dokustelle, die im Oktober 2023 abschließend festhält:
„Vor dem aktuellen Hintergrund, sowie im Kontext der jeweiligen ideologischen Ausrichtung der diesen Slogan verwendenden Strömungen, bleibt daher abschließend festzuhalten, dass es nicht auszuschließen ist, dass durch den Slogan ‚From the River to the Sea‘ auch eine dezidierte Vernichtungsphantasie des Staates Israel und ein ideologisches Naheverhältnis zur Hamas, zum Ausdruck gebracht werden kann. Der aktuelle Kontext lässt auch diesen Schluss zu.“
Das ist ein rhetorisches Meisterwerk: Von „im Kontext“ „nicht auszuschließen“ wird „Der aktuelle Kontext lässt auch diesen Schluss zu“. Aus „nicht auszuschließen“ (geringste Wahrscheinlichkeit) wird eine Schlussfolgerung (begründbare Wahrscheinlichkeit). Dabei handelt es sich um nichts anderes als die Freigabe für die Polizei zu verbieten, zu untersagen und aufzulösen. Der Erlass aus dem Justizministerium gab dann das endgültige Go auch für die strafrechtliche Verfolgung.
Was ist nun der „aktuelle Kontext“? Es handelt sich um die Ereignisse des 7. Oktobers 2023, was die Behörde im Untersagungsbescheid auch ausführt: „Im Ergebnis bedeutet dies, dass dieser Slogan im Kontext mit dem aktuellen Terrorangriff der HAMAS auf Israel am 07.10.2023 als Aufruf zur gewaltsamen Auslöschung des Staates Israel zu verstehen ist.“
Der „aktuelle Kontext“ ist also der „Terrorangriff der HAMAS“, nicht der fünfzehnmonatige Völkermord in Gaza, nicht die Terrorwelle Israels im Westjordanland, nicht die Anklage Netanjahus als Kriegsverbrecher, nicht die Zerstörung von Krankenhäusern, das Verbot der UNWRA durch die Knesset, nicht die tausendfache Verletzung der Menschenrechte, die Völkerrechtsbrüche… Alle diese Ereignisse, die die Welt erschüttert haben, sie alle sind nicht der „aktuelle Kontext“! Das ist himmelschreiende Polizeiwillkür.
Drittens:
Menschen der Palästina-Solidarität – keine Rechtsgültigkeit für diese „Personengruppe“
Die Polizei beruft sich darauf, dass die „Kontextbeurteilung“ ergibt, „dass hinter der Verwendung des neuen Slogans dieselbe Personengruppe steht, die sich seit dem Terrorüberfall der Hamas vom 07.10.2023 in oben dargestellter Art und Weise mehrmals hervorgetan hat und zu zahlreichen Untersagungen bzw. Auflösungen von Versammlungen führte.“
Welche Personengruppe ist gemeint? Die Personengruppe „palästinasolidarischer Menschen“, die, wenn man zuhören würde, immer und immer wieder für die Gleichheit aller Menschen in der Region zwischen Fluss und Meer, für Demokratie, gegen Völkermord und Kriegsverbrechen auftreten, für eine friedliche, nicht eine militärische Lösung. Die Behörde kann nicht anders zu verstehen sein, dass eine Einzelfallbeurteilung nicht stattgefunden hat, sondern eine Vorverurteilung, da man gesagt hat, wurde schon untersagt, machen wir es wieder. Andere Umstände, gleiche Entscheidung.
Viertens:
Antifaschist:innen fördern „nationsalsozialistische Bestrebungen“
Besonders schwer wiegt aber, dass die Polizei für die Untersagung aber eine Relevanz für die Situation in Österreich nachweisen muss, denn die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht und es müssen ebenso schwere wie konkrete Gründe angeführt werden, darin einzugreifen. Hier wird es despektierlich.
Die Behörde hält fest (auf der Basis der Allgemeinbehauptung „all people will be free“ wäre mit „Palestine will be free“ gleichzusetzen):
„Darüber hinaus werden durch das Skandieren des Slogans ‚From The River To The Sea, Palestine Will Be Free‘ Ressentiments gegen die jüdischen Mitbürger in Österreich hevorgerufen und antisemitische Bestrebungen gestärkt. Dadurch könnten in weiterer Folge auch nationalsozialistische Bestrebungen und Gedankengänge gefördert werden.
Eine Versammlung setzt ein gemeinsames Wirken voraus. Wenn das gemeinsame Wirken u.a. darin besteht, zur gewaltsamen Auslöschung des Staates Israel aufzurufen, wird damit ein Klima geschaffen, diesen gewalttätigen Konflikt auf die Straßen Wiens zu tragen. Es wird hierdurch ein gewalttätiges, antisemitisches Gedankengut verbreitet, welches sich konkret schon dadurch geäußert hat, dass zahlreiche in der Öffentlichkeit sichtbar angebrachte israelische Flaggen in Wien und österreichweit heruntergerissen und beschädigt wurden.
Es wird vor diesem Hintergrund davon ausgegangen, dass weitere Auseinandersetzungen, die im Sinne der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht hingenommen werden können, geradezu zu erwarten sind.“
Das schlägt dem Fass den Boden aus. Die obengenannte Personengruppe hat immer und immer wieder gesagt: „Niemals vergessen. Niemals wieder – Freiheit für Palästina!“ und damit den Geist des Antifaschismus zum Ausdruck gebracht. Unsere jüdischen Mitkämpfer:innen haben immer und immer wieder deutlich gemacht, dass Judentum und Zionismus, dass eine jüdische Identität und Israel nicht dasselbe sind, dass der Staat Israel durch sein verbrecherisches Handeln den Antisemitismus fördert. Nicht Völkermord, Kriegsführung, einseitige Parteinahme, zionistischer Rassismus, Apartheid, Siedlerkolonialismus gefährden die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“, sondern die Demonstrationen für Gleichheit, gerechten Frieden und Demokratie. Wir werden verantwortlich gemacht für „Flaggenbeschädigungen“, nicht der Völkermord. Und damit man den Knüppel gegen die demokratischen Grundrechte wirklich niedersausen lassen kann, wird die Folge beschworen, dass „nationalsozialistische Bestrebungen und Gedankengänge gefördert“ werden. Diese Orwell’sche Umkehrung sucht ihresgleichen. Diese rhetorischen Manöver dienen vor allem einem Zweck: Das NS-Verbotsgesetz in den diskursiven Raum zu holen.
Wenn wir uns nicht einig hinter die Grund- und Menschenrechte, hinter die Verfassung mit ihren demokratischen Rechten und der Neutralität Österreichs stellen, kann es bald ein „Palästina-Verbotsgesetz“ geben.
Wehret den Anfängen!
Schluss mit den Demoverboten!
Kommt alle zur Ersatzkundgebung: Freiheit für Palästina! Gleiche Rechte für alle! Schluss mit Demoverboten!
Martin Weinberger (Palästina Solidarität Österreich)