Im November 2024 wurde vor dem Verwaltungsgericht Wien die Maßnahmenbeschwerde gegen die Auflösung der Kundgebung “Intifada für Demokratie” am 23. Mai vor dem Innenministerium in der Herrengasse ( Ankündigung, Pensionist verhaftet, Auflösung) entschieden. Das Urteil ist in mehrerer Hinsicht ein ungeheurer Skandal.
1. In dem Urteil werden die Reden der Kundgebungsteilnehmer:innen angeführt und es wird der Behörde Recht gegeben, dass die “Kundgebung einen für die öffentliche Ordnung bedrohenden Charakter angenommen” hätte, weil durch die Redebeiträge “auch Personengruppen” erreicht würden, “welche keine friedliche Lösung des Nahostkonflikts anstreben und welche sich durch die öffentliche Äußerung der Parolen in den Redebeiträgen bei einer Versammlung in einer westlichen demokratischen Republik bestärkt fühlen”. Wer ist gemeint? Wer könnte keine friedliche Lösung des Nahostkonflikts anstreben? Militante Zionisten? Der israelische Staat, der gerade einen Völkermord begeht? Mitnichten. Gemeint sind Menschen, die sich durch friedliche Demonstrationen für das Recht auf Meinungsfreiheit und für Menschenrechte anstatt Kriegsverbrechen zur Gewalt veranlasst fühlen könnten – das ist die Sicht der Behörde auf Menschen in Solidarität mit Palästina: Jede und jeder steht unter dem Generalverdacht der Gutheißung, wenn er oder sie sagt, dass es Demokratie und Menschenrechte geben soll “from the river to the sea”.
2. Aber nicht nur wird die Entscheidung der Polizei zur Auflösung durch das Urteil bestätigt, sondern es wird eine geradezu hanebüchene Begründung ergänzt, nach einer “Interessensabwägung zwischen dem Recht auf Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers und den demokratischen Grundwerten sowie den außenpolitischen Interessen der Republik Österreich”. Moment. Das Recht auf Versammlungsfreiheit als Verfassungsgrundrecht ist den demokratischen Grundwerten abwägend gegenüberzustellen? Und die “außenpolitischen Interessen der Republik Österreich” geben den Ausschlag? Es scheint so, da das Verwaltungsgericht hier staatstragend und analog zur (anders als die Grundrechte in der Verfassung nirgendwo rechtlich festgeschriebenen) “deutschen Staatsräson” eine “österreichische Staatsräson” erklärt: Die Auflösung der Versammlung wäre gerechtfertigt gewesen, da die Versammlung “den politischen Interessen von Drittstaatsangehörigen und den völkerrechtlichen Verpflichtungen bzw. außenpolitischen Interessen, aber jedenfalls den demokratischen Grundwerten der Republik Österreich zuwiderlaufen, da die Republik Österreich Israel als Staat anerkannt hat. Die Verharmlosung, Verherrlichung und Förderung von Gewalt jeglicher Art gegen einen anerkannten Staat, widerspricht den demokratischen Grundwerten der Republik Österreich und würde die Tolerierung diese[sic!] Aussagen die außenpolitischen Beziehungen zu Israel belasten.”
Das macht sprachlos. Die Anerkennung des Staates Israel und die außenpolitischen Beziehungen zu Israel sollen dazu zwingen, jeglichen Bruch des Völkerrechtes (durch Besatzung), jedes Kriegsverbrechen, den Genozid an den Palästinenser:innen zu verschweigen, sollen die Aushebelung demokratischer verfassungsgemäßer Grundrechte in Österreich rechtfertigen? Und im Umkehrschluss: Wenn Palästina nicht als Staat anerkannt ist, kann dann die Gewalt gegen Palästinenser:innen, deren Verharmlosung und Verherrlichung und Förderung (vielfach durch das offizielle Österreich in Wort und Tat geschehen) nach Lust und Laune betrieben und propagiert werden?
3. Freilich wird diese Begründung noch weiter ausgeführt: Durch das Aussprechen des Wortes “Intifada” hätte die Polizei berechtigt den Schluss ziehen können, “dass der Beschwerdeführer, welcher seine Rede auf dem Boden der Republik Österreich, einer aufrechten demokratischen Gesellschaft, gehalten hat, zu einem Volksaufstand bzw. Erhebung gegen Israel aufruft, wobei in diesem Redebeitrag keine, in einer demokratischen Gesellschaft legitime Mittel (wie z.B. Petitionen, Volksbegehren, etc.) erwähnt werden, sondern explizit der Aufruf zur ‘Intifada‘, somit zum Volksaufstand (somit mit Gewalt) und in diesem Zusammenhang ganz bewusst nicht mit Wortwendungen und/oder Inhalten, wie diese in einer demokratischen Gesellschaft zur Verfügung stehen.”
Es ist bemerkenswert, dass das Verwaltungsgericht Wien die Bedingungen für Meinungsfreiheit festlegt, wenn gesagt wird, dass in einer Rede zu Palästina, wobei in Gaza gerade eine beim Internationalen Gerichtshof anhängige genozidale Kampagne stattfindet, den Palästinenser:innen “Petitionen und Volksbegehren” ans Herz gelegt werden müssen, für die sich wohlgemerkt beim Besatzungsstaat Israel kein Adressat finden würde, schließlich sind sie Besatzer. Der wesentliche Inhalt der Versammlung bestand zudem darin, die Herstellung einer demokratischen Gesellschaft zu verlangen, die weder in einem Apartheidstaat noch unter einer Militärbesatzung gegeben ist.
4. “Der Behördenvertreter konnte mit gutem Grund davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer Inhalte einer Terrororganisation, der Hamas propagiert, da er sich des Vokabulars (‘Intifada’ als Begriff, der vor allem während zwei palästinensischen Aufstände gegen Israel Bekanntheit erlangte) und einer in diesem Zusammenhang verwendete Parole ‘From the river to the sea, Palestine will be free’ bediente und den propagierten Volksaufstand (der in diesem Zusammenhang nach dem objektiven Erklärungswert nur mit Mitteln der Gewalt zu verstehen ist) mit Gewalttaten Israels an Palästinensern begründete bzw. diesen sogar legitimierte.”
Das habe ich gesagt: “Intifada! Intifada für Demokratie! Für demokratische Zustände! Für Gleichheit! Gegen Apartheid, Kolonialismus und Völkermord!”
Es wird in dem Urteil völlig außer Acht gelassen, dass der Sinn und Zweck der Kundgebung Entwicklungen in Österreich waren, eben genau jene Verbotspolitik, mit der die Regierenden die Solidarität mit Palästina zum Schweigen bringen wollen, die Verbote von “Wörtern”, “Begriffen” und “Aussprüchen”, die Kriegsverbrechen, Apartheid und Unrecht Demokratie, Menschenrechte, Gleichheit gegenüberstellen. Ich habe in meiner Rede betont:
„from the river to the sea, Palestine will be free“ für verboten zu erklären und in das Licht zu stellen, dass es sich um eine Verhetzung handeln würde, die zu Gewalt gegen jüdische Menschen und Israelis führen würde, was eindeutig nicht der Fall ist und was wir immer und immer wieder betont haben, dass das nicht der Fall ist.“
Das Urteil ignoriert damit den Kontext völlig. Es liegt darin ein großes Gefährdungspotenzial für den Rechtsstaat, wenn solcherart politische Meinungsdelikte nach einem Generalverdacht unterstellt werden und in ein juristisches Urteil einfließen – daraus kommt Gesinnungsjustiz. Mit dem unerhörten Erlass zu “From the river to the sea” (Geheimerlass) und der “Einschätzung” des Verfassungsschutzes zu Wort und Bedeutung von “Intifada” (Auflösung Studentencamp) – die beide keinerlei rechtsstaatliches Verbot darstellen und auch nicht darstellen können – wurde faktisch die historische Forderung nach Menschenrechten und Demokratie für alle in der Region lebenden Menschen illegalisiert; schlimmer noch, wer diese Forderung konsequent erhebt, gegen Besatzung, Vertreibung, Apartheid, Kriegsverbrechen, Völkermord, wird zu “Terrorist:in”, propagiert “Hamas”.
In der Konsequenz bedeutet das, dass mit diesem Urteil die Politik das Recht bestimmt hat – nicht umgekehrt, wie es die kontrollierende Aufgabe des Rechtes in einer demokratischen Republik wäre. Es ist ein politisches Urteil und ein sehr gefährliches obendrein, indem nicht nur die Argumentation der Polizei übernommen wird, sondern auch noch eine eigene juristisch formulierte politische Begründung geliefert wird, wie sie auch aus dem Innenministerium kommen könnte. Alles an diesem Urteil erweckt den Eindruck eines Zirkelschlusses (Intifada=Gewalt=Hamas=Terrorismus=Bedrohung der Ordnung=zu unterdrücken) und einer (im wesentlichen politischen) Argumentation (analog zur Behörde), die dazu dient, den Anschein zu erwecken, Paragraphen des Versammlungsgesetzes anwenden zu können. Verräterisch ist hier die Verwendung von “demokratisch”, “demokratischen Grundwerten” usw. Es steht “Demokratie” drauf, ist aber nicht drin.
Wenn solcherart mit den Grund- und Menschenrechten verfahren wird, dass die Polizei nach Belieben Wörter und Sätze für verboten erklären kann, als Verhetzung qualifizieren, Versammlungen demnach untersagen und auflösen kann, wie es den politischen Machthabern Recht ist, dann ist die Demokratie in Österreich nämlich gefährdet, dann ist der Rechtsstaat in Gefahr. Wir werden deshalb den Verfassungsgerichtshof anrufen, damit das Recht gewahrt bleibt.
Martin Weinberger