Die Schuld am Holocaust bürdet Österreich und Deutschland eine moralische Verpflichtung gegenüber Israel auf, die zu Verhaltensweisen mit sektenähnlichen Zügen geführt hat. Intellektuelle aus den USA, Deutschland, Österreich und Israel mahnen schon lange ein Umdenken an. Ihre Ideen liefern Lösungsansätze für den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. 

Essay von Liza Ulizka Chefredakteurin von “Die Krähe”

Greta Thunberg, die Jeanne d’Arc der Fridays For Future-Klima-Bewegung, ist einen Schritt zu weit gegangen. Erst rief sie zum Generalstreik für Gaza auf. Wenig später veröffentlicht Fridays For Future International einen medienpolitischen Beitrag auf der Online-Plattform Instagram. Das Posting, das inzwischen gelöscht wurde, bezeichnete die westliche Medienberichterstattung über den neu aufgeflammten Krieg zwischen Israelis und Palästinensern als Gehirnwäsche. „Es gibt keine zwei Seiten. Der eine ist der Unterdrücker, der andere der Unterdrückte“, zitiert die Kronen Zeitung aus dem Posting. „Die Medien“ würden das verschweigen und nicht die ganze Geschichte erzählen. Westliche Medien seien nicht unabhängig, sondern wären von imperialistischen Regierungen gegründet worden, die an der Seite Israels stehen, nicht um der Menschheit willen, sondern um ihrer selbst willen. Die Kronen Zeitung leitete ihren Artikel über das FFF-Posting folgendermaßen ein: „Die Klimabewegung Fridays for Future hat über einen ihrer Accounts antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet. Das Posting bildet den bisherigen Höhepunkt des Judenhasses, der in Teilen der Gruppierung offenbar überhandnimmt.“Weiter unten schreibt die Kronen Zeitung, in dem FFF-Posting „werden Fakten verdreht und Hass geschürt“ und es würde eine „israelische Weltverschwörung der Medien nahegelegt“. 

Was macht einen Kult aus, in unserem Fall den „Schuld-Kult“? Ein Kult braucht ein Objekt oder eine Gottheit zur Anbetung. Ein Kult folgt Ritualen, Handlungen, die in bestimmten periodischen Abständen immer wiederholt werden. Ein Kult sollte von seinen Gefolgsleuten nicht hinterfragt werden. Nun also zum „Schuld-Kult“: Wenn es um Kritik an Israel geht, dann gibt es die immergleichen Reaktionen darauf, womit wir beim Ritual wären. Im Fall des FFF-Postings werfen die Medien den Urhebern „Judenhass“ vor. Mit keinem Wort wird in dem Posting der Hass auf Juden propagiert. Es ist eine schlichte Tatsache, dass der Staat Israel seit seiner Gründung Palästinenser ermordet, unterdrückt und gängelt. Die Palästinenser sind den Juden in Israel in allen Sphären des Lebens untergeordnet. Diese Tatsache zu benennen, hat nichts mit Judenhass zu tun, es ist traurige Realität. Es ist in dem Posting auch keine Rede davon, dass Juden an sich minderwärtig wären oder, wenn man nach der Definition für Antisemitismus nach der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung geht, „die Existenz der Juden als Ursache für alle Probleme“ genannt wird. Das Wort „Jude“ fällt nicht ein Mal. Ebensowenig wird eine „israelische Weltverschwörung der Medien“ nahgelegt. Es ist zwar falsch zu behaupten, die Medien wurden alle von Regierungen gegründet, denn Medien wurden und werden in der westlichen Welt fast ausschließlich von privaten Unternehmern gegründet, oft von Journalisten selbst. Dass Medien mit wachsendem Erfolg und Reichweite allerdings zu einem Objekt der Begierde für politische Parteien und große Unternehmen werden und ihre Ideale schnell einmal über Board werfen, wenn der Betrag stimmt, ist kein Geheimnis. In Österreich wurde der Korruptionssumpf rund um Politik und Medien nicht zuletzt durch die Ibiza-Enthüllungen erneut vor Augen geführt. Besonders viel Einfluss üben die jeweils Regierenden aus, weil sie über die staatlichen Werbebudgets verfügen, die sie je nach Willfährigkeit der Berichterstattung verteilen können. Auch das ist Message Control. Politisch und wirschaftlich unabhängigen Journalismus gibt es in den etablierten Medien nicht. Wenn die Staatsraison von Washington bis Paris „We stand with Israel – Wir stehen hinter Israel“ lautet, dann wird diese Losung auch von den Medien so transportiert – das ist eine täglich zu beobachtende Tatsache und kein Antisemitismus.

Zum Kult-Objekt degradiert

Dass jegliche Kritik an Israel und an den Medien reflexartig in den Antisemitismus-Rahmen gequetscht wird, sehe ich als Folge des Schuld-Kults. Österreichs und Deutschlands Schuld am Holocaust wurde zum Kult-Objekt degradiert. Ich sage degradiert, weil wir durch das Stellen des Holocaust in einen historischen Schrein des einzigartig Bösen taub und blind für das Leid anderer geworden sind und so auch nicht mehr den Opfern des Nationalsozialismus gerecht werden. „Niemals vergessen“, „Wir tragen Verantwortung“, „Ein einzigartiges Verbrechen,“ „grassierender Antisemitismus“ – Politik, Medien, wir alle leiern diese zu leeren Chitin-Panzern gewordenen Floskeln herunter und merken nicht, wie der Schuld-Kult schichtweise die Empathie in uns abträgt. Die Empathie sowohl für die Opfer des Nationalsozialismus als auch für die Opfer anderer Gräueltaten auf der Welt. Damit tun wir niemandem einen Gefallen. Im Gegenteil: Die Schuld am Holocaust wird so zu einem Machtinstrument: „Du musst dich schuldig fühlen und zu Israel stehen oder du bist ein Antisemit!“ Wer tut schon aus Überzeugung das, was er muss? Der Schuld-Kult wirbelt wie ein Sandsturm durch die öffentliche Debatte und lähmt jegliches kritische Denken. Daraus folgt, dass historische Tatsachen negiert oder verschwiegen werden oder das Wissen darüber schlicht nicht vorhanden ist. „Das ist zu kompliziert, da kenne ich mich nicht aus“ heißt es oft, wenn unter Freunden oder Kollegen die Sprache auf den Nahost-Konflikt kommt. Einerseits haben die Menschen Angst davor, sich mit dem Thema zu beschäftigen, weil die Antisemitismus-Falle schnell zuschnappen kann. Andererseits wird über die Menschenrechtsverletzungen, die seit Jahrzehnten im Gaza-Streifen und im Westjordanland stattfinden, ein wohliger Mantel des Schweigens gebreitet. Mit dem Holocaust und dem Antisemitismus-Vorwurf im Nacken, wird man sich davor hüten, die von israelischer Seite begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuklagen. Die Hamas hat angegriffen. Israel hat das Recht, sich zu verteidigen. Punkt. Statt uns für einen Friedensprozess einzusetzen, rezitieren wir perspektivenlos das Mantra des Schuld-Kultes: Bedingungslos zu Israel. Bruno Kreisky würde dazu sagen: Lernen Sie Geschichte, Herr Redakteur!

Die Geschichte der Staatsgründung Israels

In diesem Sinne ein kurzer historischer Exkurs: Dass es aufgrund des Antisemitismus einen eigenen Staat als Schutzmacht für die Juden braucht, ist eine Idee des Zionismus, einer politischen Strömung kolonialistischer Prägung, die der österreichische Journalist Theodor Herzl 1896 ersonnen hat. Wenige Jahre später begannen jüdisch-europäische Einwanderer, beseelt von der Idee des Zionismus, sukzessive Land in Palästina aufzukaufen. Die arabische Bevölkerung, die damals sowohl aus Muslimen als auch aus Christen und Juden bestand, wehrte sich von Beginn an gegen die zionischte Besiedelung und die Entstehung eines jüdischen Staates in ihrem Land. Die Gründung des Staates Israel 1948 war keine direkte Folge des Holocaust. Das gab sogar Staatsgründer David Ben Gurion zu Protokoll: „Die Rettung von Juden aus dem nationalsozialistischen Europa, davon hatte ich wenig Kenntnis. Meine Tätigkeit war das Judentum für die Gründung des jüdischen Staates zu gewinnen.“ Nachzulesen ist dieses Zitat in der spannenden geschichtlichen Aufarbeitung „Es war einmal ein Palästina“ des jüdisch-israelischen Journalisten und Historikers Tom Segev. 

Welche Rolle der Holocaust für die Gründung des Staates Israel 1948 spielte, beschreibt Segev folgendermaßen: „Die häufige Behauptung, die Staatsgründung sei eine Folge des Holocaust gewesen, entbehrt jeder Grundlage, auch wenn natürlich der Schock, das Entsetzen und die Schuldgefühle, die viele empfanden, ein tiefes Mitgefühl für die Juden im Allgemeinen und die zionistische Bewegung im Besonderen erzeugten. Dieses Mitgefühl kam den Zionisten bei ihren diplomatischen Bemühungen und ihrer Propaganda zugute. Es beeinflusste ihre Strategie dahingehend, dass sie sich auf die jüdischen Überlebenden konzentrierten und von den anderen Nationen forderten, sie nach Palästina zu schicken.“ Was bei der geschichtlichen Analyse auch nicht außer Acht gelassen werden darf, ist die Rolle der Briten, unter deren Mandat Palästina nach dem ersten Weltkrieg stand. Sie unterstützten die zionistische Bewegung aus einem antisemitischen Motiv heraus, wie Segev schreibt: „Durch die Parteinahme für die zionistische Bewegung glaubten die Briten, die Unterstützung eines starken und einflussreichen Verbündeten zu gewinnen. Dahinter steckte die Vorstellung, dass die Juden den Lauf der Geschichte lenkten – eine Vorstellung in der sich auf einzigartige Weise klassische antisemitische Vorurteile mit romantischer Verehrung des Heiligen Landes und seines Volkes vermischten.“ Das jüdische Volk sei allerdings ohnmächtig gewesen und hätte nichts außer diesem Mythos über ihre geheime Macht aufzubieten gehabt. „Die Briten taten so, als wäre die Errichtung einer nationalen Heimstätte für die Juden durchführbar, ohne den Arabern zu schaden, und manche mögen dies tatsächlich geglaubt haben. Aber natürlich war es unmöglich,“ beschreibt Segev die Situation damals. 

Der Holocaust und die finanzstarke Lobbyarbeit der Jewish Agency haben dann den gerade gegründeten Vereinten Nationen den finalen Ruck für ihre Zustimmung zum eigenen Staat der Juden gegeben. Man wollte die Juden für den Holocaust entschädigen. Dabei wurden die Anliegen der in Palästina ansäßigen Bevölkerung von der internationalen Gemeinschaft ignoriert. Dieses Ignorieren setzt sich bis heute fort. 

Die israelische Anthropologin Norma Musih, mit der Die Krähe im Frühjahr dieses Jahres ein langes Interview führte, kritisiert die Vermengung von Holocaust und Staatsgründung, die auch in Israel betrieben wird. In Israel ist der Gedenktag für die Opfer des Holocaust ein Nationalfeiertag. „Es ist die Frage, ob das ein Nationalfeiertag ist oder ein Tag, an dem es auch um Menschen gehen sollte, die getötet wurden, nicht weil sie Juden oder Zionisten waren, sondern einfach, weil sie anders waren. Der Ansatz den Holocaust für die Zwecke des Zionismus einzuspannen, finde ich sehr problematisch,“ sagt Musih. „Ich würde sagen, der Holocaust ist zuallererst etwas, das Menschen erlitten haben.