Zum 80. jährigen Jubiläum der Befreiung von Auschwitz am 27.01.2025, sieht sich Kolumnist Christian Ortner mit einem eklatanten Widerspruch konfrontiert, den er in einem Meinungsartikel der Presse 1 hervorhebt. Er stellt nämlich konsterniert fest, dass trotz “ausgeleierten” Rekapitulationen des “Nie Wieder” und der ad nauseam eingeforderten “unverbrüchlichen Solidarität mit Israel”, das “jüdische Leben in Europa gefährdet [sei] wie nie” zuvor und folgert aus dieser außerordentlichen Erkenntnis: “Die Verantwortlichen sollten nicht gedenken, sondern sich schämen.” 1 An diesem Punkt, stellt sich die Frage, auf welche “Verantwortlichen” die “sich lieber schämen” sollten Ortner Bezug nimmt?
Aufmerksamen Beobachtern ist nämlich bestimmt nicht entgangen, dass am 21. November 2024 der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Haftbefehle gegen den amtierenden israelischen Premierminister Benjamin Netanyahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant 2 erlassen hat. Den Beschuldigten werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Es ist dementsprechend schon eine bittere Ironie der Geschichte, dass zwar der deutsche Kanzler an der Auschwitz Gedenkzeremonie teilnimmt, Benjamin Netanyahu jedoch mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit durch Abwesenheit auffallen wird, da das internationale Recht wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf schwebt, ein Umstand den man zur Zeit der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz bestimmt für unvorstellbar gehalten hätte.
Vor 80 Jahren, so berichten es Zeitzeugen, gingen “aus Auschwitz zwei Kategorien von Menschen hervor: eine Minderheit, die behauptet, ‘Das wird nie wieder passieren’, und eine verängstigte Mehrheit, die behauptet, ‘Das wird uns nie wieder passieren.’” 3 4 Israel hat sich offensichtlich für die zweite Auslegung entschieden, “allerdings mit einem fatalen Zusatz: Nach Auschwitz ist den Juden alles erlaubt.” 5
Es war, zu Recht, immer schon tabu, Vergleiche mit dem von den Nationalsozialisten verübten Holocaust zu ziehen. Die Dimension der Gräueltaten, insbesondere in Auschwitz, stellen nämlich unumstritten ein bedrückendes Alleinstellungsmerkmal in der Menschheitsgeschichte dar und so herb es ist, muss man nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass die schlimmsten Verbrechen der israelischen Besatzungsmacht im Vergleich zu den Verbrechen von Auschwitz verblassen. Nichtsdestotrotz drängen sich unter den Trümmern und Massengräbern in Gaza zunehmend Vergleiche auf, die noch vor einem Jahr unvorstellbar erschienen. Der Haaretz Kolumnist Gideon Levy hebt diese Analogien eindrücklich durch folgende ausdrucksstarke Exempel hervor:
“When Palestinians in Gaza know that where packs of stray dogs prowl, there are human corpses eaten by the dogs, Holocaust memories begin to surface.” 5
“When in occupied Gaza there is an imaginary line of death, and anyone who crosses it is doomed to death, even a hungry or disabled child, the memory of the Holocaust begins to whisper.” 5
“And when ethnic cleansing is carried out in northern Gaza, followed by clear signs of genocide throughout the Strip, the memory of the Holocaust is already roaring.” 5
Wer vor diesem Hintergrund angenommen hat, dass Ortner als “Verantwortliche” für den Umstand, dass “das Konzept der Erinnerungskultur gescheitert [ist]” und als Konsequenz “jüdisches Leben in weiten Teilen Europas heute nicht mehr sicher ist” exemplarisch Benjamin Netanyahu und Yoav Gallant im Sinn hatte, muss leider enttäuscht werden.
Ortners Feststellung ist zwar dahingehend korrekt dass “die Rede von ≫Nie wieder≪ und der unverbrüchlichen Solidarität mit Israel“ durch Vertreter und Verbündete der israelischen Administration diesmal “noch verlogener klingen [wird] als bisher”, beweist aber durch seine Unfähigkeit bei der Ursachenanalyse der durchaus besorgniserregenden Tendenzen, dass er nicht in der Lage ist über den Tellerrand des Antisemitismus hinaus zu kommen. Laut Ortner gehen nämlich “alte und junge Nazis wenigstens noch verschwitzt in irgendwelche Keller” um “sich eine Dosis Antisemitismus” zu “gönnen”. Der “aktuelle Antisemitismus [speist] sich [jedoch] nicht primär aus dem rechten politischen Lager” sondern aus “der politischen Linken” die “aufseiten der vermeintlich Unterdrückten (Palästinensische Zivilbevölkerung) gegen die vermeintlichen Unterdrücker (Israelischer Staat) zu sein hat”.
Durch diese Charakterisierung fabelt Ortner eine paradoxe Querfront-Ideologie hervor, in der die linken und rechten Extreme zusammenfinden und somit wesensähnlich sind, um diese Darstellung schließlich prompt folgendermaßen zu beurteilen:
“Das klingt nicht nur verrückt, das ist auch verrückt, folgt aber einer verrückten Logik.”
Die Ironie dieser Aussage ist durchaus bemerkenswert, da Ortners Beobachtung treffend seine eben dargelegte “Logik” beschreibt und sorgsame Leser sich mitunter konsterniert wundern, ob er als Nächstes vorschlägt sich in Folge dieser Selbstdiagnose in eine Nervenheilanstalt zur stationären Behandlung einweisen zu lassen. Diese Sorgen wischt Ortner jedoch gekonnt vom Tisch, in dem er umgehend klarstellt, dass er nicht seine eigene “verrückte Logik” meint, sondern den Umstand, dass der palästinensische Widerstand historisch schon immer mit “linksextremen Terrororganisationen” liiert war, was wiederum “oft mit Unterstützung […] des ≫realen Sozialismus≪” ermöglicht wurde, und dies laut Ortner die Nachwirkungen bis in die Gegenwart erklären soll. “Da hat zusammengefunden, was zusammengehört” stellt er selbstgefällig fest, ohne darauf einzugehen, was diese von ihm postulierte Liaison mit der Gegenwart zu tun hat.
Nach diesem Crescendo an absurden Schlussfolgerungen kulminiert der Artikel in einem ≫Meltdown≪ als Ortner verzweifelt feststellt, dass er außerstande ist sich zu “entscheiden, was [er] widerwärtiger findet – dass 80 Jahre nach dem Holocaust Juden in Europa nicht mehr ihres Lebens […] sicher sind, oder aber dass der Staat, der sonst jeden Temposünder zur Strecke bringt, den islamistischen Mob weitgehend unbehelligt lässt.” 1
Mit dem Dysphemismus “islamistischer Mob” meint Ortner die Palästina Solidaritätsbewegung, die er in Folge als “Abschaum [der] eine angemessene Behandlung zukommen” sollte verunglimpft, da diese “auf den Straßen offen zum Mord an Juden [aufrufen].” Wenig überraschend wird vom Leser erwartet, diese Behauptung als Tatsache ohne weitere Ausführungen und Referenzen unkritisch zu akzeptieren. Erschwerend kommt hinzu, dass gerade die Anschuldigung, dass “auf den Straßen offen zum Mord an Juden aufgerufen wird,” jeglicher Grundlage entbehrt. Wäre dies nämlich der Fall, wäre der Strafbestand der Verhetzung erfüllt, bei der Freiheitsstrafen von mehreren Jahren vom Gericht verhängt werden könnten.
Zu guter Letzt wendet Ortner “dehumanisierende Dämonisierungen, ausgedrückt durch […] Unrats- und Krankheitsmetaphern wie ≫Abschaum≪, die bereits im Mittelalter benutzt wurden, um Juden zu diskriminieren und zu stigmatisieren”, 6 gegen die Palästina Solidarität an, ein Maß an grotesker Heuchelei das wahrlich seinesgleichen sucht.
Am Ende des Artikels angelangt kann man als emphatischer Leser nur Mitleid für Ortner empfinden, da er offensichtlich nicht in der Lage ist zu erkennen, warum es den Menschen schwerfällt “unverbrüchliche Solidarität mit Israel” zu signalisieren nach dem internationalen Haftbefehl gegen Schlüsselfiguren der israelischen Administration; dem Massenmord an zehn tausenden von palästinensischen Frauen, Kindern und Männern; dem Abwurf einer Menge von Fliegerbomben auf Gaza, die die kombinierte Sprengkraft der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki in den Schatten stellen; der beispiellosen Ermordungen so vieler Journalisten (Vertreter der Berufsgruppe des Herrn Ortner) wie dies noch in keinem anderen Konflikt der Fall war und einer Armee die voller Stolz horrende Kriegsverbrechen hochauflösend auf Social Media zur Schau stellt.
“Die Distanz zwischen Auschwitz und Gaza – mit einem Zwischenstopp in Den Haag – ist zwar immer noch enorm, dennoch kann niemand mehr behaupten, dass der Vergleich absurd ist.” – Gideon Levy 5
- Christian Ortner, Das scheinheilige Holocaust-Gedenken: Schmiert es euch bitte in die Haare, DiePresse, Jan.23, 2025. ↩︎
- AP, Reuters, Haaretz Jonathan Lis and Ben Samuels, ICC Issues Arrest Warrants for Netanyahu, Gallant, for Alleged Gaza War Crimes, Haaretz, Nov.21, 2024. ↩︎
- Yehuda Elkana, “In Defense of Forgetting,” Haaretz, Mar.2, 1988. ↩︎
- Avraham Burg, The Holocaust is Over; We Must Rise From Its Ashes, Macmillan Publishers, Oct.28, 2008. ↩︎
- Gideon Levy, From Auschwitz to Gaza, With a Stopover in The Hague, Haaretz, Dec.23, 2024. ↩︎
- Joshua Trachtenberg, The Devil and the Jews. The Medieval Conception of the Jew and its Relation to Modern Antisemitism, New Haven, 1943. ↩︎