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Ein Brief an Theodor Herzl


27. November 2024

den Gründer der zionistischen Bewegung, der vor 100 Jahren starb (Juli 1904)
Von Ilan Pappé

Lieber Dr. Herzl,

erlauben Sie mir, mit einer persönlichen Bemerkung zu beginnen: ich fühle mich irgendwie Ihrer Welt nahe, da meine Eltern aus Deutschland kamen – sie fanden, dank Ihrer Bemühungen, den Weg nach Palästina. Andere Mitglieder meiner Familie waren von Ihrer Vision, Palästina in einen jüdischen Staat zu verwandeln, nicht so beeindruckt: einige blieben in Deutschland und wurden im Holocaust umgebracht; andere – in der Tat die Mehrheit – wählte England, die USA oder Australien. Ihre Voraussage, dass die Juden in Europa einem entsetzlichen Unglück entgegen gehen, hat sich bestätigt. Ihre Lösung für die bevorstehende Katastrophe war … aber genau darum geht es mir in diesem Brief.

Die Juden, die Osteuropa und die deutschsprachige Welt verließen, um in die angelsächsische zu gehen, halfen – so möchte ich wenigstens glauben – der Menschheit im allgemeinen und den Juden besonders, eine viel bessere Welt zu gründen. Es ist keine perfekte Welt – weit entfernt davon – aber sie war besser als die, die sich zwischen den beiden Weltkriegen auf dem europäischen Kontinent entwickelte.

Doch haben Sie nie solch einen Weg empfohlen. Stattdessen waren sie von zwei Ideen faszinierzt: vom Nationalismus und Kolonialismus. Sie wollten die Juden nicht nur davor warnen, dass Assimilation und Integration (für sie) in Europa nicht funktioniert – Sie wollten sie zu einer Nation wie alle anderen machen. Ihre Wahl aus der Palette der Nationalismen war jedoch nicht der der liberal-demokratischen Art, sondern eher der, der in Wien damals unter Ihren Landleuten kursierte und die sich weigerten, Sie wie einen der ihren aufzunehmen. Es war der schwärmerische / zelotische Nationalismus von Rasse und Blut. Die Leute wurden nach ihrer Rasse und Religion ausgewählt, nicht nach einer (eigenen) Wahl, Teil einer neuen Nation zu werden. Dieser Nationalismus eines Fichte und seiner Freunde brachte die Nazi-Verwirrung schließlich hervor; er säte auch wilden Messianismus in die Herzen der frühen Zionisten und ihrer Nachfolger – und dies wurde mit den Jahren immer schlimmer.

Ich schreibe Ihnen aus Haifa – es ist die Stadt, die Sie visionär als eine Art Paris des jüdischen Staates gesehen hatten. Und ich sitze hier voller Schrecken und denke darüber nach, was unsere nationalistischen Zeloten als nächstes auf ihrer verheerenden Kampagne gegen wirkliche und eingebildete Feinde erfinden werden. Ach, und Sie haben auch all den vorausgegangenen Wahnsinn nicht mitbekommen, der im Namen dieser von Ihnen in die jüdische Seele und Existenz eingeflößten Schwärmerei begangen wurde. Doch waren Sie nicht nur ein Phantast, der seine privaten Träume in eine mächtige Ideologie verwandelte. Sie waren – und das müssen Sie, lieber Theo zugeben – auch ein Kolonialist. Als Sie die Karriere eines Stückeschreibers und Journalisten verfehlten – übrigens waren Sie gar nicht so schlecht und ich bedaure mit meinen palästinensischen Freunden, dass Sie so schnell aufgaben – gingen Sie auf die wirkliche Bühne der hohen globalen Politik. Weil Sie die Chancen, Europa zu reformieren, aufgaben, schlossen Sie sich der europäisch imperialistischen Bemühung an, alle anderen, nur nicht die Europäer zu reformieren.

Dies war Kolonialismus – in Ihrer Zeit ein volkstümlicher und anerkannter Terminus. Sie benutzten oft, wenn Sie den Gesamtplan des Zionismus beschrieben, oft den Ausdruck „Palästina kolonisieren“. Ich kann Ihnen aus persönlicher Erfahrung sagen, falls Sie in meiner Universität eine Dissertation über den frühen Zionismus geschrieben und diesen Terminus zu seiner Beschreibung verwendet hätten, dann wären Sie sofort disqualifiziert und hinausgeworfen worden. Sie sehen, dass nach Ihrem Tod der Kolonialismus seine PR-Kampagne verloren hat. Er wurde zum Synonym für Unterdrückung, Vertreibung und Zerstörung. Dies ist übrigens genau das, was der zionistische Kolonialismus der einheimischen Bevölkerung von Palästina aufgebürdet hat. Dennoch wird dies im jüdischen Staat, den Sie aufzubauen mithalfen, abgestritten und verdreht. Nachdem Sie den zelotischen Nationalismus mit dem Kolonialismus den Seelen der Leute ohne Land eingaben, die in ein Land mit vielen Menschen kamen, ist vielleicht ethnische Reinigung die unvermeidliche Folge, so wie sie sich dann tatsächlich 1948 ereignete. Bis zu jenem Jahr waren die Zionisten unter dem britischen Mandat eine Minorität innerhalb der palästinensischen Kolonie – und deshalb außerstande, solch einen Plan auszuführen. Aber die Führer der Bewegung konnten warten und hatten (im Rückblick) recht getan, sich mit den Britten zu verbünden, wie Sie empfohlen hatten.

Als dann das Mandat zu Ende war, nahmen unsere Vorfahren scheinbar einen Ihrer seltenen Kommentare über das vorgesehene Schicksal der einheimischen Bevölkerung im begehrten Zion ernst. Sie schlugen vor, dass die Eingeborenen „unbemerkt“ und „ behutsam“ vertrieben werden. Öffentlich sprachen Sie jedoch von dem Wunsch, die Interessen der „eingeborenen Bevölkerung“ zu berücksichtigen. Nun, mit diesem Ausspruch versorgten Sie die zionistische Aktion von 1948 mit Doppelzüngigkeit. Während die zionistischen Führer laut ihren Wunsch verkündeten, die Palästinenser mit allem Notwendigen zu versorgen, befahlen sie die Vertreibung der Palästinenser.

Sie haben nicht hebräisch gesprochen – aber Sie erfanden den zionistischen Diskurs. Das ist wirklich ein Erfolg, glauben Sie mir. Seit Jahren führt er die Welt an der Nase herum und verbirgt die fortdauernde Zerstörung Palästinas. …. Auf jeden Fall trieben die Juden 1948 die Araber nicht diskret aber tatsächlich von den meisten unbemerkt in die „Wüste“ und säuberten Palästina von seiner lokalen Bevölkerung. Es wird Zeit, Schluss zu machen, lieber Herzl. Der Rest – so sagt man – ist Geschichte. Und was jetzt geschieht, ist nicht besser – im Gegenteil, es wird schlimmer. Falls Sie jemals mehr wissen wollen, kann ich Ihnen im nächsten Brief mehr erzählen.

Doch bevor ich schließe: ich hoffe, Sie sind nicht beleidigt, wenn ich Ihnen eine Frage stelle, die mich sehr umtreibt. Warum Ihnen? Rund um Sie gab es hervorragende Juden, die Humanisten, Intellektuelle und Visionäre waren. Keiner von ihnen ist ein Zionist geworden, und leider ist keiner von ihnen ein Vorbild für die Juden geworden, die in Palästina einen Staat errichteten, (tatsächlich wurden diese von meinem inzwischen verstorbenen Freund, dem herausragenden palästinensischen Intellektuellen Edward Said, mehr bewundert als irgend ein Intellektueller im modernen Staat Israel.)

Ich warte auf Ihre Antwort.

Ilan Pappe

Erschienen in: News from Within, AIC, Vol.XX No 5 / ZNet 01.08.2004, Übersetzt von: Ellen Rohlfs