Die Anti-UNRWA-Gesetzgebung der Knesset vom 28. Okt. 2024: Schlusspunkt eines zielgerichteten Vernichtungsfeldzugs?
12. November 2024
Dieser Text bildet den Schlussteil einer noch unveröffentlichten Dokumentation mit dem Titel: „Israels ‘Kreuzzug’ gegen das UNRWA-Hilfswerk als Etappe zur Auslöschung des palästinensischen Volkes“
Maya Rosenfeld, Soziologin und Anthropologin, Institut für Politikwissenschaft der Hebräischen Universität in Jerusalem:
Das Verbot des Palästinenserhilfswerks UNRWA durch die Knesset „untergräbt die Legitimität Israels selbst“.
Am letzten Tag vor der Parlamentspause im Herbst, am 28. Oktober 2024, verabschiedete die Knesset zwei Gesetzesvorlagen. Mit dem ersten Gesetz wird dem UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge, der UNRWA, die Arbeit im gesamten Hoheitsgebiet des Staates Israel verboten, einschließlich in Ostjerusalem, obwohl dieser Stadtteil kein israelisches Hoheitsgebiet ist, sondern als Teil des Westjordanlandes von Israel völkerrechtswidrig besetzt gehaltenes Gebiet. Die beiden Gesetze sollen drei Monate nach der Verabschiedung in Kraft treten.
Vor deren Verabschiedung hatte Adalah, das Rechtszentrum für Minderheitenrechte in Israel, einen Brief an die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara und an die Rechtsberaterin der Knesset, Sagit Afik, geschickt, in dem sie aufgefordert wurden, diese Gesetzgebung zu stoppen. In dem Schreiben betonte Dr. Suhad Bishara, die Rechtsanwältin von Adalah, dass sie verheerende Folgen für palästinensische Flüchtlinge haben würde, und argumentierte, dass sie gegen die Grundsätze des humanitären Völkerrechts und die Verpflichtungen Israels gemäß der UN-Charta verstiessen. Sie wies auch darauf hin, dass diese Gesetze gegen die einstweiligen Verfügungen verstoßen würden, die der Internationale Gerichtshof in Den Haag auf Antrag Südafrikas gegen Israel erlassen hat.
Israel war in den Wochen davor wachsender internationaler Kritik ausgesetzt. Länder, die sich nun gegen die neuen Knesset-Gesetze aussprechen wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Deutschland, Spanien, Belgien, Irland und Australien hatten Israel schon im Vorfeld gewarnt, dass niemand in der Lage sein werde, die Rolle bei der täglichen Verteilung der Hilfsgüter zu übernehmen, wenn es keine Alternative zur UNRWA gebe.
Die Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Australiens, Kanadas, Japans und Südkoreas – alles Länder, die als freundlich und wohlwollend gegenüber Israel gelten – hatten zwei Tage vor den Knesset-Beschlüssen eine Erklärung veröffentlicht, in der sie die Gesetzesvorlagen kritisierten und die Regierung aufforderten, sie zu stoppen. Sie warnten, dass die Verabschiedung „verheerende Folgen“ haben könnte. „Ohne die Arbeit [des UNRWA] wäre die Bereitstellung solcher Hilfe und Dienstleistungen, einschließlich Bildung, Gesundheitsversorgung und Brennstoffverteilung im Gazastreifen und im Westjordanland, stark eingeschränkt, wenn nicht gar unmöglich, mit verheerenden Folgen für eine bereits kritische und sich rapide verschlechternde humanitäre Lage, insbesondere im Norden des Gazastreifens“, heißt es in der Erklärung.
Anfang Oktober hatten der US-Außenminister Antony Blinken und der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin einen Brief an ihre israelischen Amtskollegen geschickt, in dem sie mit einem Waffenembargo drohten, falls Israel die Blockade der humanitären Hilfe für den Gazastreifen nicht aufhebt. Sie merkten an, dass die Verabschiedung der Gesetzesvorlagen die humanitären Bemühungen im Gazastreifen zunichte machen und zehntausende Palästinenser in Ostjerusalem ihrer Bildung und Sozialleistungen berauben würde. Sie forderten Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf, die Verabschiedung der Gesetzesvorlagen abzulehnen.[2]
Trotz der zunehmenden internationalen Kritik und trotz des Fehlens einer alternativen Institution, die die Arbeit der UNRWA in Gaza oder Ostjerusalem übernehmen könnte, wurden die beiden Gesetzesvorlagen in dritter und letzter Lesung am 28. Oktober 2024 mit überwiegender Mehrheit verabschiedet. Sie waren von Knesset-Abgeordneten der rechtsnationalistischen Likud-Partei, der sephardisch-ultraorthodoxen Shas-Partei und der Vereinigte Rechte-Neue Hoffnung-Partei initiiert worden.
Ein ursprünglicher Vorschlag der säkular-rechtsextremen Yisrael Beiteinu-Abgeordneten Yulia Malinovsky zielte darauf ab, die UNRWA als „terroristische Organisation“ einzustufen; er wurde jedoch „aufgrund rechtlicher Hindernisse“ in abgeschwächter Form in den zweiten Gesetzesentwurf integriert. Dieser zielt darauf ab, die bisher der UNRWA gewährten Ausnahmen, darunter Steuerbefreiungen, diplomatischer Status und Immunität, zu widerrufen. Demnach soll der Koordinator der Regierungsaktivitäten in den [besetzten] Gebieten (COGAT) seine Arbeitsbeziehungen mit der UNRWA einstellen.
Für das erste Gesetz stimmten 92 Abgeordnete, 10 stimmten dagegen; 87 für das zweite Gesetz und 9 dagegen. Auch Abgeordnete mehrerer Oppositionsgruppen, darunter der als „gemäßigt“ geltenden Yesh Atid-Partei von Yair Lapid, stimmten mit der Regierungskoalition von Premierminister Benjamin Netanjahu. Dies sei insofern weniger verwunderlich, schrieb die Kommentatorin Rachel Fink, wenn man bedenke, dass einer der Befürworter des Gesetzes, Ron Katz, aus dieser Partei (Yesh Atid) stammt. Selbst Abgeordnete der Demokraten – der neu gegründeten Allianz, zu der auch die Arbeitspartei (Labour) gehört und die von Yair Golan angeführt wird, der seit Jahren als der vielversprechendste Anführer der israelischen Linken gilt – konnten sich nicht dazu durchringen, gegen das UNRWA-Verbot Stellung zu beziehen, sondern haben sich der Stimme enthalten.[3]Labour-Abgeordnete blieben der Abstimmung fern.
Anscheinend sind die wenigen Abgeordneten, die es für eine schlechte Idee halten, die einzige Hilfsorganisation mit einer nennenswerten Präsenz im Westjordanland und im Gazastreifen vollständig zu zerschlagen, die Abgeordneten der gemeinsamen jüdisch-arabischen Liste Chadash-Ta’al, die mit 5 Sitzen in der Knesset vertreten ist. (Anm.: Offenbar ist diese Liste die einzige echte demokratische Fraktion in der Knesset, wie schon deren Vorgängerliste Joint List.). Die Vorbehalte der Liste waren in dem Gesetzesentwurf dargelegt. Darin hieß es, dass die Gesetzesvorlagen darauf abzielen, die für palästinensische Flüchtlinge erbrachten Leistungen einzustellen und sie und ihre Nachkommen „obdachlos und zu einem Leben in Armut und Krise verdammt“ zu lassen. Sie würden „ohne Bildung, Gesundheitsversorgung, Sozialleistungen und finanzielle Unterstützung zurückgelassen, ohne dass eine geeignete Alternative angeboten wird“. Darüber hinaus, so die Partei, ziele das Gesetz darauf ab, Israels Verpflichtungen gegenüber internationalen Konventionen aufzuheben und Israel von der Verpflichtung zu befreien, das Völkerrecht einzuhalten. Der Gesetzesentwurf, so Chadash-Ta’al, müsse jedoch mit dem Völkerrecht und den Konventionen, denen Israel beigetreten ist, in Einklang stehen.
Die neu verabschiedeten Gesetze könnten auch die Zusammenarbeit von Banken in Israel mit der UNRWA erschweren. Hochrangige Beamte des Hilfswerks äußerten Bedenken, dass dies zum Zusammenbruch des Verwaltungssystems der UNRWA im Westjordanland und im Gazastreifen führen könnte, da es Schwierigkeiten bei der Zahlung von Gehältern und Lieferanten gebe, die ebenfalls über die israelische Bank Leumi abgewickelt werden.
Insbesondere würden die Gesetze die UNRWA effektiv daran hindern, in Ostjerusalem tätig zu sein. Das Hilfswerk ist derzeit im Ostjerusalemer Flüchtlingslager Shuafat tätig, wo sie den Bewohnern Reinigungs-, Bildungs-, Gesundheits- und andere Dienstleistungen anbietet und wo etwa 16.500 Palästinenser:innen die Dienste der UNRWA in Anspruch nehmen. Das Hilfswerk betreibt dort drei Schulen mit über 600 Schüler:innen. Wenn diese Schulen schließen, müsste das israelische Bildungsministerium die Lücke schließen. Chris Whitman, Landesdirektor für Israel/Palästina bei der NGO Medico International, erklärte, dass die UNWA-Schulen eine bessere Bildungsqualität bieten als die Einrichtungen der Palästinensischen Autonomiebehörde, und dass eine Schliessung dieser Schulen zu einer weiteren Verschlechterung des Bildungssystems führen könnte.
Experten warnen vor einem massiven Dominoeffekt. Die Auflösung der UNRWA werde auch Konsequenzen für andere Hilfsgruppen und NGOs haben, die mit palästinensischen Flüchtlingen arbeiten, sagte Whitman. „Als Gesprächspartner, als Netzwerker, als Vermittler sind sie für die Arbeit, die überall mit palästinensischen Flüchtlingen geleistet wird, von entscheidender Bedeutung.“ Auf einer sehr allgemeinen Ebene, so erklärte er, legitimiert die UNRWA als Vertreterin der Vereinten Nationen „die Arbeit, die die internationalen NGOs hier leisten. Sie hat bei weitem die größte Kapazität. Sie verfügt in der Regel über einige der besten Experten der Welt. Und sie ist auch in der Lage, Partner, Diplomaten, Entscheidungsträger und Interessengruppen zu vernetzen und zu kanalisieren, wie es internationale NGOs nicht können“, sagte Whitman. Wenn die UNRWA ein Projekt genehmigt, fügte er hinzu, „hat sie die Kapazität, Studien durchzuführen und der Arbeit, die internationale NGOs letztendlich leisten, Legitimität zu verleihen.“
Einer der weniger diskutierten Aspekte der neuen Gesetzgebung ist die Aufhebung des Immunitätsstatus für UNRWA-Mitarbeiter und die Einschränkung der Kommunikation zwischen der UNRWA und COGAT im zweiten verabschiedeten Gesetz. Dies könnte besonders gravierende Folgen in Gaza haben. „UNRWA leistet Hilfe für sehr grundlegende Dinge“, erklärte Dotan Halevy, Professor für den modernen Nahen Osten an der Universität Tel Aviv.[4] Und weiter: „Das UNRWA-Hilfswerk hat sehr offizielle Institutionen, es ist nicht einfach nur eine weitere Wohltätigkeitsorganisation. Es bildet die Grundlage für das Schul- und das Gesundheitssystem und versorgt eine sehr große Bevölkerung. NGOs können diese Rolle nicht übernehmen. Es funktioniert wie eine Gesundheitsorganisation – mit Hausärzten und allem. Es stellt Lebensmittel bereit und verfügt über ein Netzwerk von Schulen. In dieser Hinsicht ist es fast wie eine Regierung, was die Dienstleistungen betrifft: Es ersetzt den Staat in Bezug auf die Wohlfahrt. Es bietet auch Dienstleistungen im Zusammenhang mit psychologischer Behandlung und Trauma-Unterstützung an.“
Auch Maya Rosenfeld, Soziologin und Anthropologin, die über die UNRWA forscht und am Institut für Politikwissenschaft der Hebräischen Universität lehrt, sagte: „Sobald das Gesetz in Kraft tritt, wird es dort schrecklichen Schaden anrichten.Wenn die UNRWA in der Stadt nicht arbeiten darf, kann sie die Menschen dort nicht mit den üblichen Dienstleistungen versorgen – Bildung, Gesundheitsversorgung, Ernährung. Jahrelang befand sich der Hauptsitz der UNRWA im Westjordanland in (Ost-) Jerusalem, was ebenfalls Konsequenzen haben wird. […] Ein Großteil der Arbeit der UNRWA ist lebensrettend und steht unter [militärischem] Beschuss. […] Wenn es keine Koordination gibt, sind diese Menschen ihrem Schicksal überlassen. Für die Tausenden von Mitarbeitern, die im Gesundheitswesen und in der Lebensmittelverteilung usw. arbeiten, bedeutet dies, dass sie ohne Kommunikation anfällig für Angriffe sind.“ Einige UNRWA-Mitarbeiter seien bereits bei israelischen Angriffen getötet worden, während sie ihrer Arbeit nachgingen, erwähnte sie. „Wenn die Koordination eingeschränkt wird, sind sie noch verwundbarer, als sie es ohnehin schon sind.“
Israel hatte schon immer ein paradoxes Verhältnis zur UNRWA. Während der Staat Israel auf die UN-Hilfsagentur angewiesen ist, die sich um palästinensische Flüchtlinge kümmert, hat es lange Zeit daran gearbeitet, sie zu untergraben. Maya Rosenfeld wies darauf hin, dass das Mandat der UNRWA aus derselben Quelle stammt wie die Eigenstaatlichkeit Israels: einer UN-Resolution: „Das israelische Parlament könnte alle möglichen Entscheidungen treffen, die den Vereinten Nationen zuwiderlaufen, aber ein vernünftiges, rationales Land würde so etwas sicherlich nicht tun, denn es leitet seine Legitimität aus denselben UN-Resolutionen ab, die den Weg für die UNRWA ebneten – Resolution 181, der Teilungsplan, der die Geburtsstunde Israels einläutete. Die UNRWA ist eine Art zweite Generation dieser Entscheidung. In gewisser Weise untergräbt [das Verbot] die Legitimität Israels selbst.“[5]
In einer Erklärung am selben Tag der Knesset-Beschlussfassung wies UN-Generalsekretär António Guterres darauf hin, dass Israel keine anderen Optionen für die Dienstleistungen der UNRWA zur Unterstützung der Palästinenser vorgeschlagen hat. „Es gibt keine Alternative zur UNRWA“, sagte er. „Die Umsetzung dieser Gesetze wäre schädlich für die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts und für Frieden und Sicherheit in der gesamten Region. Wie ich bereits sagte, ist die UNRWA unverzichtbar.“
Der Generalkommissar des UNRWA, Philippe Lazzarini, sagte, die Gesetzesvorlagen würden einen „gefährlichen Präzedenzfall“ schaffen, indem sie die Menschenrechts- und Unterstützungsarbeit des Hilfswerks delegitimierten. Sie würden „über 650.000 Mädchen und Jungen dort der Bildung berauben und damit eine ganze Generation von Kindern gefährden“, sagte er in einer Erklärung.[6]„Diese Gesetzesvorlagen vergrößern das Leid der Palästinenser und sind nichts anderes als eine kollektive Bestrafung“, fügte er hinzu. „Die Beendigung der UNRWA und ihrer Dienste wird den Palästinensern nicht ihren Flüchtlingsstatus nehmen. Dieser Status wird durch eine weitere Resolution der UN-Generalversammlung geschützt, bis eine gerechte und dauerhafte Lösung für die Notlage der Palästinenser gefunden ist. […] Dies sollte allen ein Anliegen sein.“
Kurz nach der Verabschiedung der Gesetze gab Ministerpräsident Netanjahu eine Erklärung auf Englisch ab, in der er erklärte, dass die humanitäre Hilfe „jetzt und in Zukunft“ weiterhin in Gaza ankommen müsse. Dazu bemerkte ein westlicher Diplomat, der an den Gesprächen zu diesem Thema beteiligt war, dass er glaube, Netanjahus Erklärung sei eine direkte Reaktion auf die Warnungen gewesen, die Israel vor der Verabschiedung der Gesetze bezüglich der internationalen rechtlichen Konsequenzen der Gesetzgebung erhalten habe (s. o., Pkt. 2 bis 5).[7]
Der israelische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Danny Danon, veröffentlichte nach der Verabschiedung der Gesetzesvorlagen eine Videobotschaft auf X, in der er erklärte, dass Israel „weiterhin mit humanitären Organisationen zusammenarbeiten werde, jedoch“ – in Anspielung an die UNRWA: – „nicht mit denen, die mit Hamas-Terroristen kooperieren“.
Zuvor hatte der UN-Sicherheitsrat in einer einstimmigen Stellungnahme erklärt,[8] jede Unterbrechung oder Aussetzung der Arbeit des UNRWA hätte schwerwiegende humanitäre Folgen für Millionen palästinensischer Flüchtlinge.
Ungeachtet dessen informierte die israelische Administration die UNO offiziell über die Umsetzung des beschlossenen Arbeitsverbots für das Palästinenserhilfswerk UNRWA. Das teilte der israelische UNO-Botschafter Danny Danon auf der Plattform X mit.
Die britische UNO-Botschafterin Barbara Woodward sagte:
„Die Vorwürfe gegen UNRWA-Mitarbeiter zu Beginn dieses Jahres wurden umfassend untersucht. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, die Beziehungen zu UNRWA abzubrechen.“[9]
Was nun?
Aufgrund bisheriger Erfahrungen könnten – wenn überhaupt – nur härtester internationaler Druck gegen die verantwortlichen Gesetzgeber und Regierenden Israels (nicht: gegen die Bevölkerung Israels) und der Boykott ihrer Genozid-Politik zur palästinensischen „Endlösung“ zwischen Fluss und Meer Einhalt gebieten und diese Gesetzgebung zu Fall zu bringen. Gleichzeitig müssten alle liberal-demokratisch und sozial gesinnten Menschen und Institutionen im Staat Israel und ihre Partnerorganisationen im Ausland,[10] die dagegen aufstehen, nachhaltig unterstützt werden.
Nach der UNO-Konvention gegen Völkermord von 1948 ist Völkermord ein Straftatbestand im Völkerstrafrecht. Er ist durch die Absicht gekennzeichnet, auf direkte oder indirekte Weise „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“; er unterliegt nicht der Verjährung. Als solche Handlungen sind in Artikel II genannt:
a) das Töten von Angehörigen der Gruppe,
b) das Zufügen von schweren körperlichen oder seelischen Schäden bei Angehörigen der Gruppe,
c) die absichtliche Unterwerfung unter Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen.
Nur die erste Bedingung (a) nennt das Töten, die beiden weiteren setzen das Töten nicht voraus.[11] Die israelische Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte erfüllt alle drei Bedingungen, dabei würde bereits eine von dreien Bedingungen für den Bruch der UN-Konvention ausreichen. Kann dies aufrichtigerweise in Abrede gestellt werden, insbesondere nach der Tötung durch israelische Streitkräfte von mittlerweile 43.000 Palästinenser:innen nach 13 Monaten Gaza-Krieg, darunter 15.000 Kindern?[12]
Ohne plausiblen Rechtfertigungsgrund hat nun das 120 Mitglieder umfassende israelische Parlament die beiden Anti-UNRWA-Gesetze – bei nur neun bzw. zehn Gegenstimmen – verabschiedet. Diese Gesetzgebung wird sowohl nach israelischen als auch nach internationalen Expertenkommentaren als kollektive Bestrafung gedeutet, mit der absehbaren und nachhaltigen Zerstörung des Kollektivs.
Die UN-Sonderberichterstatterin für den Nahen Osten, Francesca Albanese, schrieb in ihrem jüngsten Bericht:
„Der Schwerpunkt sollte darauf liegen, ob alle Handlungen – z. B. Aushungern, Foltern, Töten, Zwangsumsiedlung, Ausrottung – zusammengenommen ein Verhaltensmuster bilden, das auf eine genozidale Absicht hindeutet. […] Israel hat ein Verhaltensmuster verfolgt, das darauf abzielt, einer Gruppe Lebensbedingungen aufzuzwingen, die auf ihre physische Zerstörung abzielen.“[13]
Am Tag nach der Veröffentlichung ihres Berichts sprach sie vor einem UN-Ausschuss in New York über die unveräußerlichen Rechte des palästinensischen Volkes und sagte, kein anderes Land habe sich so lange so vielen UN-Resolutionen widersetzt wie der israelische Staat, und zog folgenden Schluss:
„Es ist an der Zeit, die Suspendierung der Mitgliedschaftsrechte Israels in der UNO in Betracht zu ziehen.“
[6] Noa Shpigel, Jack Khoury, Etan Nechin, Ben Samuels, Reuters: “Knesset Approves Bills Banning UN Relief Agency UNRWA From Operating in Israel”, Ha’aretz Oct 28, 2024.
[7] Amir Tibon: “U.S. and European Countries Warn Israel Its Laws Curbing UNRWA’s Gaza Operations Could Complicate Its Defense in Courts in The Hague”, Ha’aretz Oct 29, 2024. „Die Verabschiedung des Gesetzes könnte Auswirkungen auf das US-Recht und die US-Politik haben“, hatte der Sprecher des Außenministeriums, Matt Miller, der israelischen Regierung gegenüber „deutlich gemacht“ (Noa Shpigel, Jack Khoury, Etan Nechin, Ben Samuels, Reuters: “Knesset Approves Bills Banning UN Relief Agency UNRWA From Operating in Israel”, Ha’aretz Oct 28, 2024).
[8] „Israel benachrichtigt UNO über Umsetzung von UNRWA-Verbot“, ORF online 04. November 2024.
[10] Beispiele sind Friedensbewegungen wie Peace Now und Combatants for Peace. Rabbi Margo Hughes-Robinson, Geschäftsführerin von Partners for Progressive Israel (PPI) in den USA, sagte gegenüber Ha’aretz (30. Okt. 2024): „Wir unterstützen die Hunderttausenden von Israelis, die weiterhin für ein Ende dieses Krieges und die Rückkehr sowohl der lebenden Geiseln als auch der Leichen der Getöteten demonstrieren.“
[11] So wäre etwa eine gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe, die überhaupt keine Tötung beinhaltet, ein völkermörderischer Akt.
[12] Unter dem Titel „Völkermord in Gaza“ auf der englischsprachigen Wikipedia-Seite „Liste der Völkermorde“ (List of Genozides) heißt es:
„Israel wurde von Experten, Regierungen, UN-Organisationen und Nichtregierungsorganisationen beschuldigt, während seiner Invasion und Bombardierung des Gazastreifens während des andauernden Israel-Hamas-Krieges einen Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung begangen zu haben. Bis März 2024, nach fünf Monaten der Angriffe, hatten die Militäraktionen Israels zum Tod von über 31.500 Palästinensern geführt – einem von 75 Menschen in Gaza – durchschnittlich 195 Morde pro Tag und fast 40.000 bestätigte Todesfälle bis Juli. Die meisten Opfer sind Zivilisten, darunter über 25.000 Frauen und Kinder und 108 Journalisten. Tausende weitere Tote befinden sich unter den Trümmern zerstörter Gebäude.“
Der britische Wikipedianer Stuart Marshall schrieb zur vorangegangenen Debatte um die Aufnahme des Artikels abschließend: „Es gibt eine Wagenladung voller wissenschaftlicher Quellen, die in dieser Diskussion verlinkt sind und die eine klare Mehrheit der Akademiker zeigen, die sagen, dass es so ist [d. h. ein Völkermord]. Wir folgen den Gelehrten.“ (Rahel Fink: “Wikipedia Editors Add Article Titled ‘Gaza Genocide’ to ‘List of Genocides’ Page”, Ha’aretz Nov 7, 2024).
Vgl. auch die aktuelle Analyse des deutschen Politikwissenschaftlers und Publizisten Dr. Michael Lüders: „Wasteland“, Video 55 Minuten https://youtu.be/iS9Wze8YSaI (1. Nov. 2024). Seine neueste Buchveröffentlichung: „Krieg ohne Ende? Warum wir für Frieden im Nahen Osten unsere Haltung zu Israel ändern müssen“, München 2024.
[13] Patrick Wintour: “UN should consider suspending Israel over ‘genocide’ against Palestinians, says special rapporteur”, The Guardian 31 Oct 2024.