Der „neue israelische Antisemitismus“ am Beispiel der
zionistischen Kampagne gegen Omri Boehms „Rede an Europa“
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Inhaltsübersicht:
1. Der Hintergrund der Kampagne
2. Omri Boehms Positionen zum israelischen Staat
3. Warum Omri Boehms liberale Positionen den Israel-Lobbyisten ein Dorn im Auge sind
4. Föderation und Binationalität ohne Berufung auf ein „historisches Recht“ –
Die Vordenker eines binationalen jüdisch-arabischen Staates
5. Weitere prominente Befürworter eines vollständig demokratischen Staates
Noam Chomsky – Peter Beinart – Gerald Lehner über Leopold Kohr
6. Das Schweigen zionistischer Lobbyisten zum Demokratieabbau in der israelischen Politik
7. Der Paradigmenwechsel von der religiösen zur jüdisch-nationalstaatlichen Identität
8. Die Folgen des Identitätswechsels für den „Antisemitismus“-Begriff
9. Zionismus als totalitäre Ideologie
10. Der „neue israelische Antisemitismus“ ist auch hierzulande im Anstieg begriffen.
(Vorspann / Abstract:)
Im Staate Israel tobt seit Jahrzehnten ein Kulturkampf, der im Wesentlichen ausgetragen wird zwischen religiösen Ultranationalisten, die den Staat in einen halachischen Rabbinerstaat zwischen Jordanfluss und Mittelmeer umbauen wollen, und liberal-demokratischen Bürgern, die um seinen säkularen Charakter kämpfen. Dass jüdische Menschen, die sich entweder aus traditionell-religiösen oder aus liberal-demokratischen Beweggründen gegenüber der Ideologie des Zionismus und ihren praktischen Auswirkungen kritisch äußern und deswegen von radikalen Zionisten angegriffen und diffamiert werden, ist praktisch so alt wie die zionistische Bewegung selbst; in der jüngeren Vergangenheit haben sie jedoch an Schärfe zugenommen. Der palästinensisch-christliche Schriftsteller und Sozialaktivist Odeh Bisharat hat die zionistische Strategie, jüdische Menschenrechtsbewegte zu bekämpfen und zum Schweigen zu bringen, als den „neuen israelischen Antisemitismus“ bezeichnet.
Dass derartige Attacken auch in Europa und in aller Öffentlichkeit geritten werden, ist ein eher junges Phänomen. Zu einem prominenten Fallbeispiel in naher Vergangenheit werden die Hintergründe analysiert.
„Israels Existenzrecht darf nicht infrage gestellt werden.
Das bedeutet aber nicht, dass es sich weiterhin als jüdischer Staat definieren muss,
zumal ja die Hälfte der Menschen, die in Israel und den besetzten Gebieten leben, Palästinenser sind.“
Omri Boehm im Interview, Oktober 2022[1]
Der israelisch-deutsche Philosoph, Hochschullehrer und Buchautor Omri Boehm war eingeladen, am Wiener Judenplatz vor dem Holocaust-Mahnmal zur Eröffnung der Wiener Festwochen 2024 eine Rede zu halten. Sie war angekündigt als „Rede an Europa 2024“.[2] Der Buchautor war kurz davor mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für sein 2022 auf Deutsch erschienenes Buch „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität“ ausgezeichnet worden.
Omri Boehm, geboren 1979 in Haifa und Enkelsohn jüdischer Großeltern, besitzt die israelisch-deutsche Doppelstaatsbürgerschaft und lehrt als Philosophieprofessor an der New School for Social Research in New York. Nachdem er seinen Militärdienst im israelischen Inlandsgeheimdienst Shin Bet absolviert hat, ist es bemerkenswert, dass bereits im Vorfeld der Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), Präsident Oskar Deutsch, und sein Vorgänger Ariel Muzicant (aktuell Interimspräsident des Europäischen Jüdischen Kongresses und Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses), aber auch hochrangige Regierungspolitiker:innen heftige Kritik an der Wahl des jüdischen Redners und insbesondere des Veranstaltungsorts übten. Die IKG setzte sich bis zuletzt dafür ein, dass Boehm nicht vor dem Schoah-Erinnerungsdenkmal auf dem Judenplatz reden dürfe, weil der IKG-Präsident die Ortswahl wegen Boehms (angeblicher) „Relativierung der Schoah als Affront“ empfand. Nach eigenen Angaben hatte er bei der Stadt Wien interveniert und sich für eine Verlegung der Rede Boehms an einen anderen Ort ausgesprochen. Er behauptete, dass er zwar das Programm der Festwochen nicht für antisemitisch halte, dass aber die Veranstaltung „den Antisemitismus fördere“. Und er kritisierte, dass seine Bitte um Verlegung von der Stadt Wien abgelehnt worden ist.
Der ehemalige IKG-Präsident Ariel Muzicant gab an, im Fall des Auftritts am Judenplatz mit Eiern nach Boehm werfen zu wollen, wenn er [Muzicant] denn nur 30 Jahre jünger wäre.
Scharfe Kritik kam auch von Verfassungsministerin Karoline Edtstadler. Es sei dringend an der Zeit zu überdenken, „jemandem, der hier an Israel Kritik übt, die keine Kritik an Israel ist, sondern purer Antizionismus und damit Antisemitismus, tatsächlich eine Bühne mitten in Wien zu geben“, war Edtstadler im Ö1-Mittagsjournal zu hören.
2. Omri Boehms Positionen zum israelischen Staat
Omri Boehms „Rede an Europa“ am 7. Mai 2024 wurde von Protesten begleitet. Gleich zu Beginn rief er die vor ihm stehenden Protestierenden aus der jüdischen Gemeinde auf zuzuhören und einander zu respektieren; er werde ihnen auch zuhören.[3]
Warum stieß Boehms „Rede an Europa“ auf eine derart extreme Ablehnung seitens der Vertreter der führenden jüdischen Institution, sodass ihm „Antizionismus“ und sogar „Antisemitismus“ nachgesagt wurde? Es liegt an den Positionen Boehms zum Staat Israels und seiner Vorstellung zur Lösung des Nahost-Konflikts. In seinen Büchern, Vorlesungen und Interviews vertritt er folgende Positionen:
3. Warum Omri Boehms liberale Positionen den Israel-Lobbyisten ein Dorn im Auge sind
Indem Omri Boehm die „Überwindung des Nationalstaates“ fordert, steht er in diametralem Gegensatz zur herrschenden Doktrin des Staates Israel und seiner Sekundanten. Jede einzelne seiner Forderungen konterkariert dessen real existierende Politik (1) der Segregation, (2) des Suprematismus und (3) des Expansionismus. Boehms „Radikaler Universalismus“ stellt implizit die Menschenrechtswidrigkeit des radikalen Partikularismus im nationalistischen „Judenstaat“ an den Pranger, und sein Konzept des Föderalismus als Lösung zum Konflikt[5] der Nahost-Krise lässt den 1948 gegründeten jüdisch-nationalistischen Einkammer-Zentralstaat alt aussehen.
4. Föderation und Binationalität ohne Berufung auf ein „historisches Recht“ – Die Vordenker eines binationalen jüdisch-arabischen Staates
Dabei ist Omri Boehms Modellvorschlag[6] für den Nahost-Konflikt nicht neu. Seit 1918/19 hatte der Gedanke eines binationalen jüdisch-arabischen Staates in Palästina begonnen, konkrete Formen anzunehmen. Im jüdischen Milieu des konfliktreichen übernationalen Geschichtsraumes der Habsburgermonarchie hatten sich die Grundlagen der binationalen Überlegungen von Hugo Bergmann (Philosoph), Max Brod (Schriftsteller), Hans Kohn (Historiker) und Robert Weltsch (Publizist) als den führenden Köpfen des sogenannten „Prager Zionismus“ gebildet. Dabei ist festzuhalten, dass deren „Zionismus“ (Hans Kohn: „ethischer Zionismus“) etwas völlig anderes bedeutete als das Bemühen um die Errichtung eines jüdischen Nationalstaates, sodass er zum Widerstand gegen einen solchen führte.[7]
Der in Prag gebürtige, promovierte Historiker Hans Kohn (1891-1971), einer der Mitbegründer des Vereins „Brit Schalom“, der für supranationale, universale Werte eintrat und ein grundsätzlicher Gegner des „Siedlerzionismus“ war, gilt als einer der Väter der Nationalismusforschung. Anders als Martin Buber lehnte er das Überlegenheitsgefühl der Zionisten gegenüber den Arabern als „gefährlichen Dünkel“ entschieden ab.[8] Nach seiner Einwanderung in Palästina 1925 arbeitete Hans Kohn unermüdlich auf die Errichtung eines arabisch-jüdischen Nationalitätenstaates (nicht: Nationalstaat) hin. Um die jüdisch-arabische Koexistenz zu erleichtern, plädierte er dafür, dass die Juden auf den Diskurs über ihr „historisches Recht“ auf das Land verzichteten, während er freilich ebenso wenig den Arabern ein exklusives Recht auf das Land zuerkannte, denn „das Land gehört denen, die es mit der Kraft ihrer Gehirne und Hände so fruchtbar machen, dass sie ihren Lebensunterhalt darin finden.“[9]
Schließlich erkannte Kohn, dass seine ethischen Ideale und die „Realpolitik“ vieler Zionisten nicht zusammenpassten, wie er dies in seinen Briefen an seinen Freund Martin Buber (1878-1965) darlegte. Angesichts der Streitigkeiten um die Klagemauer 1928 und der schweren Ausschreitungen gegen Juden 1929 konnte sich Hans Kohn nicht mehr länger mit dieser Form des Zionismus identifizieren. Seine Hoffnungen auf eine friedliche Koexistenz mit den Arabern schwanden vor allem deshalb, weil die Juden den Weg der Gewalt anstelle von Verhandlungen gewählt hätten, die, wie Kohn überzeugt war, zu einem Konsens hätten führen können. „Judentum ist nicht Zionismus“, betitelte er einen Brief am 21. November 1929 an einen befreundeten zionistischen Politiker:
„Jede Hinausschiebung des Friedensschlusses macht den Frieden nicht etwa möglicher, sondern erweitert die Kluft zwischen den beiden Völkern.“
In nüchterner Klarsicht sagte er voraus – heute aktueller denn je –, dass angesichts des Wachsens der arabischen Nationalbewegung sich die Juden nur noch mit ihren „Bajonetten, die wir schamhaft Haganah nennen“ (hebr. „Verteidigung“), helfen werden können.
„Wir werden aber dann der Bajonette nie entbehren können. Das Mittel wird das Ziel bestimmt haben. Das jüdische Palästina wird nichts von jenem Zion haben, für das ich eingetreten bin.“[10]
Hans Kohn sollte mit seiner Einschätzung leider Recht behalten. 1934 wanderte er mit seiner Frau in die USA aus, wo er Neue Geschichte unterrichtete. Mit Ausnahme von Hans Kohn sind die Mitglieder von Brit Shalom trotz aller Kritik im Land geblieben.
Ein weiterer Mitbegründer aus dem „Prager Kreis“, Hugo Bergmann (1883-1975), der wie Kohn in Palästina eingewandert war, übte scharfe Kritik daran, wie die existenziellen Bedürfnisse der arabischen Bewohner des Landes von den Zionisten systematisch ignoriert wurden, sowohl beim massiven Ankauf von Grund und Boden als auch beim Aufbau eines völlig separaten Wirtschaftswesens. Vor allem rügte er die „Blindheit“ der zionistischen Siedler, die sie daran hinderte, die Existenz von Arabern im „Gelobten Land“ überhaupt wahrzunehmen.
Dabei war die Kritik an der Art, wie die Zionisten das Land besiedelten, sowie an ihrer herablassenden Behandlung der dort wohnhaften Araber nicht neu. Schon 1905 während des Siebten Zionistenkongresses in Basel hatte Jishaq (Jizchak) Epstein (1862-1943), einer der Pioniere des Hebräischunterrichts unter den jüdischen Siedlern, in einem Vortrag im Kulturverein Iwriah den Zionisten schwere Vorwürfe gemacht, dass sie die Beziehungen zu der im Land ansässigen Bevölkerungsmehrheit vernachlässigen; das werde sich in Zukunft unheilvoll auswirken, prophezeite er.[11]
Die pluralistische „Mosaik“-Tendenz des „Prager Zionismus“ fand ihren Ausdruck im Erstarken einer jüdischen Identität ohne ausgeprägtes Nationalbewusstsein, was den Bemühungen um ethnisch-nationale Abgrenzung der Mainstreet-Zionisten zuwiderlief – und heute mehr denn je auf erbitterte Ablehnung stößt.
5. Weitere prominente Befürworter eines vollständig demokratischen Staates
Noam Chomsky
Vor einigen Jahren erwähnte der US-amerikanische Pionier der Sprachwissenschaft, Noam Chomsky (geb. 1928), der aus jüdischem Haus stammt, in einem Interview, in jungen Jahren als Aktivist im Nahen Osten gewesen zu sein. Zitat:
„Damals bezeichnete man uns als ‘Zionisten’. Wir hatten die gleiche Haltung, die ich heute noch habe: Wir waren gegen den [exklusiv] jüdischen Staat und unterstützten eine Zwei-Staaten-Lösung, basierend auf [gleichberechtigter] arabisch-jüdischer Zusammenarbeit. Das wurde damals von der zionistischen Bewegung unterstützt.“ [12]
Und im Nachsatz sagte Chomsky: „Heute nennt man das ‘Antizionismus’“.
Peter Beinart
Im Juli 2020 hatte der angesehene jüdisch-amerikanische Kolumnist, Journalist und politische Kommentator Peter Beinart (geb. 1971) in der New York Times aufhorchen lassen, als er die Zwei-Staaten-Lösung verwarf und sich für einen einzigen binationalen Staat (One-state solution) mit gleichen Rechten für Juden und Palästinenser aussprach (“Opinion | I No Longer Believe in a Jewish State”). In einem längeren Essay in Jewish Currents (“Yavne: A Jewish Case for Equality in Israel-Palestine”) legte er seine Ansichten detailliert dar. Er argumentierte, dass das Zwei-Staaten-Modell unhaltbar geworden sei und dass Israels permanente Kontrolle über Millionen von Palästinensern, denen es an Grundrechten fehle, zu Krieg und vielleicht sogar zu ethnischer Säuberung führen werde.
Israel und Palästina, schrieb Beinart, sollten stattdessen auf die Schaffung eines vollständig demokratischen binationalen Staates hinarbeiten, der sowohl die jüdische als auch die palästinensische Identität repräsentiert, ähnlich wie Belgien oder Nordirland nach dem Karfreitagsabkommen. Er argumentierte, dass ein Großteil der jüdischen Gemeinschaft die Welt durch eine veraltete „Holocaust-Linse“ sieht, in der ein souveräner jüdischer Staat erforderlich sei, um einen „zweiten Holocaust“ zu verhindern, während dies jedoch sowohl Israelis als auch Palästinenser leiden lässt. Beinart ist Professor für Journalismus und Politikwissenschaft an der City University of New York.
Gerald Lehner über Leopold Kohr
Der Leopold Kohr-Biograph und Investigativjournalist Gerald Lehner warf in seinem Buch: „Das menschliche Maß. Eine Utopie?“ folgende Fragen auf:
„Wäre es nicht sinnvoll und überlegenswert, festgefahrene Krisenherde und Nationalismen wie jene der Palästinenser und Israelis durch Kantonisierung und regionale Selbstverwaltung zu entschärfen?
Durch Förderung kleiner und ethnisch gemischter Einheiten Lebensräume zu schaffen, in denen die Ressourcen wie Trinkwasser und fruchtbarer Boden gerechter verteilt würden? Könnten die Ansätze Kohrs Lösungsmöglichkeiten für Krisenregionen bieten?“
20 Jahre nach Leopold Kohrs Tod beleuchtete Gerald Lehner die erstaunliche Aktualität der politischen und ökonomischen Konzepte dieses bahnbrechenden Vordenkers der Ökologiebewegung.
Statt der heute immer noch meist ausschließlich in Betracht gezogenen Zwei-Staaten-Lösung könnte ein gemeinsames Projekt von Israelis und Palästinensern die bisherige israelische („jüdische“) Zentralstaatsidee ablösen und die realpolitisch längst fällige Abkehr vom ethnokratischen Zionismus in die Wege leiten. Dazu führt Gerald Lehner weiter aus:
„Die anarchistisch friedliche Dezentralisierung des Landes ist eine erstaunlich logische Utopie: Israel als kleiner Staat mit vielen noch kleineren Kantonen. Ein Kohr’sches Modell mit optimierter Verwaltung, nach sozialer Gerechtigkeit strebender und regional gut funktionierender Wirtschaft – möglichst frei von ethnischen Barrieren. Ein Staat, in dem Juden und Palästinenser ihren Alltag im jeweiligen Kanton selbst in die Hand nehmen können. Wo eine ethnisch gemischte Bundesregierung das tut, wozu sie vom frei gewählten Parlament beauftragt ist: den Rechtsstaat zu garantieren, nach innen und außen zu verteidigen, den Frieden politisch und militärisch zu beschützen, Nachbarn zu achten und Gemeinsames zu ermöglichen.“
6. Das Schweigen zionistischer Lobbyisten zum Demokratieabbau in der israelischen Politik
„Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.“
Erich Fried[13]
Dieses Konzept setzt freilich ein Höchstmaß an politischer Reife und Vernunft der Akteure voraus. Es erfordert, exklusiv-nationalistische Macht- und Hegemonieansprüche fallenzulassen, sowohl jüdisch-zionistischer als auch islamistischer Provenienz. Andernfalls wird es niemals zu einem für beide Völker erträglichen, geschweige denn gedeihlichen Friedenszustand kommen.
Die zionistischen Stellvertreterorganisationen – jedenfalls in Deutschland und Österreich – haben das nicht verstanden oder wollen das offenbar nicht verstehen. Unbeirrt und unverbrüchlich stehen der Zentralrat der Juden in Deutschland[14] und die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) in Österreich hinter der Politik des israelischen Regierungskabinetts Netanjahu VI – das allgemein als die „rechteste Regierung in der Geschichte Israels“ bezeichnet wird – und versuchen, jede andere staatsrechtliche Idee – nicht nur mit feinen Mitteln – zu unterdrücken.[15]
Während 2023 (bis Anfang Oktober) hunderttausende demokratiebewegte Israelis auf die Straße gingen, um gegen den versuchten Abbau des Justizsystems und der Gewaltentrennung in Israel zu demonstrieren, blieben die IKG und die Österreichisch-Israelische Gesellschaft (ÖIG) diesbezüglich schweigsam. Nichtsdestoweniger haben sie eifrig die (steigende) Entwicklung des Antisemitismus in Österreich beobachtet und darüber laufend über beflissene Medien in der Öffentlichkeit berichtet; dies steht in auffälligem Gegensatz zum hartnäckigen Stillschweigen derselben über die jahrzehntelangen Kriegsverbrechen des zionistischen Staates, mit dem sich die jüdischen Religionsgemeinschaften ungebrochen identifizieren (obwohl sich die IKG – religiös konnotiert – „israelitisch“ und nicht mit der politischen Bezeichnung „israelisch“ nennt). Weder über den „Justizputsch“ war von ihrer Seite Besorgnis oder Anteilnahme für den Kampf der Zivilgesellschaft auf israelischen Straßen zu vernehmen, noch über den seit vielen Jahren beängstigenden Anstieg des Rassismus in Israel (nicht nur gegen Palästinenser, sondern auch gegenüber dunkelhäutigen Juden) und schon gar nicht über die brutalen Attacken der israelischen Polizei gegen gewaltfreie jüdische Demonstranten oder über die Eskalation des jüdischen Siedlerterrors im Westjordanland, über den mittlerweile schon die ganze Welt spricht.
„Wer auch nur passiv zum Bösen schweigt, macht sich ebenso schuldig wie der, der mithilft, es zu tun.
Wer das Böse ohne Widerspruch hinnimmt, arbeitet in Wirklichkeit mit ihm zusammen.“
Martin Luther King
Ben Segenreich, ehemals ORF-Korrespondent in Israel, hielt zwar in der ÖIG einen Vortrag über die „Justizreform“ (juridical overhaul), aber es war eine erstaunlich verharmlosende (und wahrheitswidrige) Darbietung, die am Wesentlichen der für die israelische (Rest-) Demokratie äußerst prekären Problematik vorbeiging.[16]
„Die halbe Wahrheit ist meistens eine ganze Lüge.“
Jüdisches Sprichwort
Über dem Eingang des Wiener Stadttempels bzw. der Hauptsynagoge (des „Seitenstättentempels“) hängt neben der österreichischen Fahne die israelische Nationalflagge (s. Foto). Dass die Repräsentanten fast der gesamten österreichischen Judenheit sich mit dem politischen Staat Israel und damit implizit mit seiner „klerikal-faschistischen Staatsideologie“ (Bezeichnung Rolf Verleger, s. u.) und seiner völkerrechtswidrigen Politik kritiklos identifizieren (jedenfalls nach außen hin), erklärt, wieso sie in aller Öffentlichkeit gegen einen international angesehenen jüdischen (!) Redner wie Omri Boehm kampagnisieren, der für die universelle Würde und Gleichheit aller Menschen engagiert eintritt.
Warum unterstellt der IKG-Präsident Oskar Deutsch dem honorigen jüdischen Literaten Omri Boehm die „Relativierung der Schoah“? Weil Zionisten den Nazi-Völkermord an Juden als „einzigartig“ propagandieren, während Boehm die Schoah mit der Nakba in dieselbe Reihe stellt und für eine „gemeinsame Gedenkkultur von Juden und Palästinensern“ plädiert. Aus der Sicht der Aktivisten der „Holocaust-Industrie“ (Begriff von Norman Finkelstein) und deren zionistischer „Identitätspolitik“ ist dies jedoch unerträglich und ein unverzeihliches Sakrileg.
7. Der Paradigmenwechsel von der religiösen zur jüdisch-nationalstaatlichen Identität
Früher war Judesein – neben der „genetischen Blutsgemeinschaft“ – mit der Unterwerfung unter das rabbinisch-religiöse Gesetz assoziiert, d. h. mit der Einhaltung der halachischen Gebote; es handelte sich also um eine religiöse Identität. Seit die Zionisten die Deutungshoheit über das Judentum endgültig erobert haben – insbesondere als sich die Meinung der Mehrheit der Rabbiner nach dem Holocaust und der Staatsgründung radikal gewandelt und sie sich dem Zionismus zugewandt hatten –, gilt: Judesein ist untrennbar mit der Identifizierung mit Israel als „jüdischem Staat“ und der rückhaltlosen Verteidigung der israelischen Kriegspolitik[17] verbunden. Das bedeutet nichts weniger als einen fundamentalen Paradigmenwechsel dessen, was Judesein – neben der Abstammung[18] – essenziell ausmacht: Jüdische Identität beruht im Wesen nicht mehr in der Religionszugehörigkeit, sondern in dem politischen Bekenntnis zum Zionismus. Anders gesagt: Das „jüdische Volk“ war früher mit der Religionsgemeinschaft ident (ähnlich wie wenn man vom „katholischen Volk“ sprechen würde); heute ist es mit dem Bekenntnis zum zionistisch definierten Nationalstaat assoziiert.
Darauf hat auch Noam Chomsky hingewiesen (der sich als „Zionist“ bezeichnet hat, s. o.); dass seine Definition von „Zionismus“ heutzutage von den meisten als „Antizionismus“ betrachtet wird, ist seiner Meinung nach auf eine Verschiebung (seit den 1940er Jahren) in der Bedeutung des Zionismus zurückzuführen.
Juden, die ihre Identität als Bekenntnis zur aktuellen Politik des jüdischen Staates definieren, setzen Kritik an Israels Politik gleich mit Verrat am Judentum; dies bestätigte auch der liberal-religiöse Jude Rolf Verleger,
„denn gemäß dieser Identifikationsproblematik gibt es kein Judentum außerhalb der Unterstützung der Politik Israels. Das ist Nationalismus als Religionsersatz. Das ist nicht gut, denn übersteigerter Nationalismus hat schon andere Länder in den Abgrund geführt, und so könnte es auch Israel gehen. […]
Man muss hier ja noch hinzufügen, dass ein großer Teil der religiösen Amtsträger im Judentum, besonders in Israel, seit 1967 die jüdische Religion zur Nationalreligion umdefiniert hat. Dieser moralische Niedergang ist unglaublich. Es finden sich ja Leute mit Rabbinertitel, die den Mord an [Jitzchak] Rabin gutheißen, die den verruchten Baruch Goldstein verehren (der mit seinem Maschinengewehr 1994 in einer Moschee in Hebron ein Blutbad anrichtete und dabei auch sein eigenes Leben verlor) und ähnliches mehr.“
Rolf Verleger zitierte seinen jüdischen Religionslehrer, der 1967 sagte, dass, nachdem der zionistische Staat durch militärische Mittel die Klagemauer und weitere „heilige“ Stätten wie Rachels Grab in Bethlehem in jüdische Hände gebracht habe, die Gefahr bestehe, so sein Religionslehrer damals, dass sich Nationalismus und die rückwärtsgewandten Teile der Orthodoxie zusammenschlössen und sich eine klerikal-faschistische Ideologie herausbilde.[19]
8. Die Folgen des Identitätswechsels für den „Antisemitismus“-Begriff
Aus dieser Identifikationsproblematik ergibt sich auch eine Verschiebung des Begriffs „Antisemitismus“ (und damit sogar die – abwegige – Gleichsetzung von „Antizionismus“ und „Antisemitismus“). Früher – vor dem Aufkommen des biologischen Rassismus – war „antisemitisch“, wer Mitglieder der jüdischen Religionsgemeinschaft diskriminierte oder verachtete. Im zionistischen Kontext ist „antisemitisch“ jedoch auch und insbesondere, wer den Zionismus in Frage stellt oder ablehnt. Daraus erklärt sich, dass Kritik an der israelischen Politik und die Forderung nach einer religiös neutralen israelischen Staatsform stereotypisch als „antisemitisch“ kompromittiert, wenn nicht sogar als „Zerstörung Israels“ kriminalisiert wird. Eine nichtzionistische und – noch mehr – eine antizionistische Position fällt daher in die Kategorie „Antisemitismus“. Das ist wissenschaftlicher Nonsens, zumal dies der bisher üblichen Sprachkonvention widerspricht und eine faktenbefreite, demagogische Diffamierung bedeutet. Von daher sind auch die regelmäßig veröffentlichten Berichte der IKG über „antisemitische Vorfälle“ mit Vorsicht zu genießen, zumal bei solchen Statistiken keine Kriterien angegeben werden, die wissenschaftlichen Standards entsprechen; daher sind sie so gut wie wertlos.
Infolge der Begriffsverschiebung – israelkritisch = antisemitisch – entspricht es dieser Logik, auch jüdische Menschen als „antisemitisch“ bloßzustellen, die die israelische Gewaltpolitik gegen das palästinensische Volk nicht ertragen und dementsprechend Kritik üben.
In einem aktuellen Beispiel wurde die Gruppe „not.in.our.name.vienna“, die von Juden und jüdischen Israelis gegründet wurde, in einen antisemitischen Rahmen gestellt. Eine ihrer Aktivistinnen, Dalia Sarig, erfuhr dies am eigenen Leib. Auf Instagram gab sie im März 2024 vor laufender Kamera folgendes Zeugnis:
„Der Presseservice Wien framed Jüdin als Antisemitismus. Letzte Woche wurde die Demo ‘Solidarität mit den Palästinenser:nnen’ von Mitgliedern des Presseservice Wien gefilmt und als Beitrag auf X, vormals Twitter, antisemitisch geframed. Die Mitglieder des Presseservice Wien bezeichnen sich selber als ‘Netzwerk freier Foto- & Video-Journalist:innen’, die das Auftreten rechtsextremer und faschistischer Gruppen dokumentieren. In Wirklichkeit nehmen sie immer wieder Menschenrechts-Demos der Palästinenser ins Visier, um sie zu filmen und durch falsche Anschuldigungen des Antisemitismus zu delegitimieren. Auf genau dieser Demo erzählte ich, wie mein Urgroßvater 1938 verhaftet wurde und von den Nazis gezwungen wurde, mit einer Zahlbürste den Gehsteig zu reinigen.
Welch Ironie, dass die Nachfahren jener Nazis, die damals meinen Urgroßvater verhaftet haben, mich heute des Antisemitismus beschuldigen, weil ich mich auf die Seite jener Menschen stelle, die gerade einen Genozid erleben. Ich weiß, was es bedeutet, die eigene Familie im Genozid zu verlieren, denn meine Familie wurde im Holocaust zum Teil ausgelöscht. Solche Anschuldigungen des Presseservice Wien sind unnötig, überflüssig und widerlich. Schämt euch!“[20]
„Not In Our Name Vienna“ distanziert sich von den Verbrechen der israelischen Militärs in Gaza, die „in unserem [jüdischen] Namen“ gerechtfertigt werden. „Wir glauben, dass die Befreiung der Palästinenser:innen eine Sache für alle ist, die an Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte glauben.“
Als im österreichischen Parlament am 15. Jänner 2024 eine Feier zum 75. Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von jüdischen pro-palästinensischen Aktivist:innen gestört wurde, um auf die Menschenrechtsverbrechen in Gaza, in Israel und im Westjordanland aufmerksam zu machen, rief der Erste Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) den jüdischen Aktivisten entgegen: „Schämen Sie sich!“
Der streitbare Israel-Verteidiger Leon de Winter, niederländisch-jüdischer Schriftsteller und Filmschaffender, machte es sich einfach, als er 2007 eine Definition kreierte, woran man – ohne konkrete Beispiele anzugeben – einen „Antisemiten“ erkenne:
„Kritik ist legitim, aber dem jüdischen Staat Bedingungen zu stellen, deren Erfüllung von keiner anderen Nation der Region verlangt wird – das ist Antisemitismus.“[21]
9. Zionismus als totalitäre Ideologie
Weil das Regime die Identität des israelischen Staates offiziell als zionistischen Zentralstaat mit jüdischer Vorherrschaft festgelegt hat (vgl. Nationalstaatsgesetz vom 19. Juli 2018), wird jede Forderung einer wesensmäßigen Abänderung zu einer liberalen Demokratie als „israelfeindlich“ kompromittiert. Deutlicher kann ein totalitäres Staatsverständnis nicht illustriert werden.
Ein lebhaftes Beispiel für diese begriffliche Verirrung bietet das Urteil der Politikerin Karoline Edtstadler (Zitat s. o.). Da sie für ihre schwerwiegende öffentliche Anschuldigung, Boehms Israel-Kritik sei „keine Kritik an Israel, sondern purer Antizionismus und damit Antisemitismus“, keinen Nachweis liefert, macht sie sich damit selber des Antisemitismus gegen einen jüdischen Israeli schuldig. Wie kann eine Verfassungsministerin die israelische Staatsideologie – den Siedlerzionismus, der die Grundlage für die völkerrechtswidrige Besiedlung des besetzten Westjordanlandes bildet – implizit verteidigen und gleichzeitig eine Alternative zum ethnozentrischen Nationalismus auf Basis der universellen Menschenrechte als „antisemitisch“ diffamieren, indem sie den Begriff „Antizionismus“ als „Antisemitismus“ sachwidrig umdeutet?[22]
Offenbar handelt es sich dabei um einen eklatanten Mangel an Sach- und Geschichtskenntnis der Frau Verfassungsministerin in Sachen Antizionismus und Antisemitismus. Dazu folgender historischer Rückblick:
Theodor Herzl (1860-1904) hatte als Veranstaltungsort für den ersten zionistischen Kongress 1897 München vorgesehen, doch der Vorstand der Münchener Israelitischen Kultusgemeinde machte Herzl im Juni 1897 schriftlich unmissverständlich klar, dass er die Abhaltung des Kongresses in München ablehne und verhindern wolle.
Dabei sah sich Herzl noch einer weiteren Ablehnungsfront gegenüber. Am 6. Juli 1897 veröffentlichte der Vorstand des Allgemeinen Rabbiner-Verbands in Deutschland eine Protestresolution gegen die zionistische Bewegung. Darin führten die religiösen Gegner des Zionismus als Grund für die kategorische Ablehnung an, dass die jüdische Auffassung des religiösen Messianismus im Widerspruch zum säkularen Konzept des politischen Zionismus stehe; die Wiedererrichtung eines jüdischen Gemeinwesens würde der Ankunft des Messias vorgreifen. Die Diaspora mit all ihren negativen Folgen für die Juden war ein Werk Gottes, argumentierten sie. Wer, wie die Zionisten, versuchte, diesen Umstand zu beseitigen, handelte gegen den göttlichen Willen und beging somit Blasphemie, so der rabbinische Standpunkt.
Auch liberale Juden in verschiedenen Ländern wie die League of British Jews (LBJ) definierten das Judentum als reine Religionsgemeinschaft, der keine jüdisch-nationalen Attribute anhafteten. Das Programm der LBJ enthielt das Bekenntnis der Organisation zum rein konfessionellen Standpunkt wie auch zum Kampf gegen die Schaffung einer separaten jüdischen Nationalität auf politischer Grundlage. Schon kurz nach der Resolution der deutschen „Protestrabbiner“ schloss sich beispielsweise auch der orthodoxe britische Chief Rabbi, der in Deutschland geborene Hermann Adler (1839–1911) der grundsätzlich ablehnenden Haltung seiner Amtsbrüder in Deutschland an. Herzls Absicht, einen jüdischen Staat zu gründen, war für Adler „völlig unheilbringend“; dies verstoße nicht nur „gegen die jüdischen Grundsätze, gegen die Lehren der Propheten und die Traditionen des Judenthums“, sondern könne auch „unermeßliches Unheil erzeugen“.[23]
Ein drittes Beispiel als Beleg für die frühzeitige jüdische Ablehnung der Errichtung einer „jüdischen Heimstätte“ ist Edwin Montagu, der einzige Jude in der britischen Regierung von Ministerpräsident David Lloyd George. Um seine Regierungskollegen im Vorfeld der „Balfour-Erklärung“ zu überzeugen, schrieb er am 23. August 1917 ein Kabinettsmemorandum, das er betitelte: “The Anti-Semitism of the Present Government“, da er antisemitische Auswirkungen einer solchen Erklärung befürchtete. Er erklärte:
„Die Politik der Regierung Seiner Majestät ist im Ergebnis antisemitisch und wird sich als Sammelbecken für Antisemiten in jedem Land der Welt erweisen.“
Zudem bestritt Montagu, dass Juden weltweit „eine Nation“ seien; nur die Religion würde sie einen. Der Vergleich, den er nannte: Auch wenn die Bretonen (in der französischen Bretagne) und die Waliser von der Vergangenheit her verwandt wären (wohl keltischen Ursprungs), sie doch keineswegs eine gemeinsame Nation seien (sondern eben Franzosen und Briten). Dementsprechend verstand er sich (durch und durch) als Brite, nachdem er sein Leben lang für dieses Land gearbeitet hatte. Er meinte, dass das auch alle anderen Juden in ihren Heimatländern so sehen würden (oder sollten) und sich nicht als „jüdische Nation“ verstehen würden.
„Ich bestreite, dass Palästina heute mit den Juden in Verbindung gebracht wird oder als ein geeigneter Ort für sie angesehen werden kann, um dort zu leben. Die Zehn Gebote wurden den Juden auf dem Sinai übergeben. Es ist ganz richtig, dass Palästina in der jüdischen Geschichte eine große Rolle spielt, aber das gilt auch für die moderne mohammedanische Geschichte, und nach der Zeit der Juden spielt Palästina [für Muslime] sicherlich eine größere Rolle als jedes andere Land in der Christlichen Ära [CE, n. Chr.]. Der Tempel mag in Palästina gewesen sein, aber auch die Bergpredigt und die Kreuzigung.“
Er meinte, dass mit einer engstirnigen Sichtweise auf eine bestimmte Epoche der Geschichte Palästinas (nämlich der jüdischen) eine Stellung für Juden beansprucht werde, die ihnen nicht zustehe.[24]
Fazit: Nachdem schon seinerzeit die Vertreter sowohl des religiösen als auch des säkularen Judentums den Zionismus als „unjüdische Häresie“ verworfen hatten, muss die aktuelle Propagandastrategie zionistischer Israel-Lobbyisten, die darin besteht, deklarierte jüdische Nicht- oder Antizionisten, die aus liberal-demokratischer Räson oder aus religiöser Überzeugung dieser umstrittenen Staatsideologie die Anerkennung verweigern, öffentlich als „antisemitisch“ zu diskreditieren, als unwürdiges und niederträchtiges Schauspiel angeprangert werden.
Auch der jüdische Israel-Kritiker Noam Chomsky sah sich Angriffen vonseiten zionistischer Lobbyisten gegenüber. Chomsky ist der Meinung, dass die Apartheid „der besetzten Gebiete viel schlimmer ist, als sie in Südafrika war“. Südafrika war auf die Arbeitskraft seiner schwarzen Bevölkerung angewiesen, aber Chomsky argumentierte (2014), dass dies nicht auf Israel zutrifft, das seiner Meinung nach versucht, die Situation der Palästinenser unter seiner Besatzung unerträglich zu machen. Chomsky äußerte ähnliche Befürchtungen wie der israelische Intellektuelle Jeschajahu Leibowitz in den 1990er Jahren, als dieser davor warnte, dass die fortgesetzte Besetzung der palästinensischen Gebiete die israelischen Juden in „Judäo-Nazis“ verwandeln könnte. Chomsky sagte, dass Leibowitz’ Warnung „eine direkte Widerspiegelung der fortgesetzten Besatzung, der Erniedrigung der Menschen, der Entwürdigung und der terroristischen Angriffe durch die israelische Regierung“ sei. Er nannte die USA auch einen gewalttätigen Staat, der Gewalt exportiere, indem er die israelischen „Gräueltaten“ gegen die Palästinenser unterstütze, und sagte (2015), den amerikanischen Mainstream-Medien – einschließlich CBS – zuzuhören, sei so, als ob man „israelischen Propagandaagenturen“ zuhöre.
Auch Noam Chomskys Kritik an der israelischen Politik hat dazu geführt, dass er als „Verräter am jüdischen Volk“ und als „Antisemit“ bezeichnet wurde. Die Anti-Defamation League (ADL) kompromittierte ihn als „Holocaust-Leugner“ und beschrieb ihn als „Dummkopf, dessen intellektueller Stolz so überheblich ist, dass er nicht in der Lage ist, zwischen totalitären und demokratischen Gesellschaften, zwischen Unterdrückern und Opfern zu unterscheiden“.[25] Im Gegenzug behauptete Chomsky, dass die ADL von „stalinistischen Typen“ beherrscht wird, die gegen die Demokratie in Israel sind. Er sagte über die Anti-Defamation League:
„Der führende offizielle Beobachter des Antisemitismus, die Anti-Defamation League von B’nai B’rith, interpretiert Antisemitismus als ‘mangelnde Bereitschaft, ihre Anforderungen in Bezug auf die Unterstützung der israelischen Behörden zu erfüllen’. […] Die Logik ist ganz einfach: Antisemitismus ist Widerstand gegen die Interessen Israels (wie die ADL sie sieht). […] Die ADL hat ihre frühere Rolle als Bürgerrechtsorganisation praktisch aufgegeben und ist zu ‘einer der Hauptsäulen’ der israelischen Propaganda in den USA geworden, wie die israelische Presse sie beiläufig beschreibt. Sie beschäftigt sich mit Überwachung, schwarzen Listen, der Zusammenstellung von FBI-ähnlichen Akten, die an die Anhänger zum Zweck der Diffamierung verteilt werden, wütenden öffentlichen Reaktionen auf Kritik an israelischen Aktionen und so weiter. Diese Bemühungen, die durch Unterstellungen von Antisemitismus oder direkte Anschuldigungen untermauert werden, zielen darauf ab, die Opposition gegen die israelische Politik abzulenken oder zu untergraben, einschließlich der Weigerung Israels, mit Unterstützung der USA eine allgemeine politische Lösung anzustreben.“
Der Anwalt Alan Dershowitz hat Chomsky einen „falschen Propheten der Linken“ genannt; Chomsky nannte Dershowitz „einen kompletten Lügner“, der „einen verrückten Dschihad führt und einen Großteil seines Lebens dem Versuch widmet, meinen Ruf zu zerstören“.[26] Noam Chomsky gehört zu den meistzitierten lebenden und verstorbenen Autoren.[27]
Aufgrund seiner Ansichten über den Nahen Osten wurde Chomsky 2010 von den israelischen Militärbehörden an der jordanisch-palästinensischen Grenze die Einreise verweigert.[28] Er war zu einer Vorlesungsreihe an der renommierten palästinensischen Bir Zeit Universität eingeladen und sollte sich mit dem palästinensischen Premierminister Salam Fayyad treffen.[29]
Im Staat Israel nimmt der rechtsextrem-jüdische Hass gegen demokratisch-jüdische Aktivisten und Institutionen zu und macht nicht einmal vor jüdischen Knesset-Abgeordneten wie etwa Ofer Cassif halt, der im April 2021 von einem Polizisten ins Gesicht geschlagen wurde, weil er friedlich gegen die Zwangsräumungen in Sheik Jarrah protestierte.[30]
Seit das Apartheid-Regime in Südafrika kollabiert ist, ist der Staat Israel mittlerweile wohl das rassistischste Land der Welt. Es dominieren deklarierte Kahanisten im Knesset-Parlament und in der Regierung, die unverhohlen für die Säuberung „ihres“ Landes“ von „Arabern“ und auch von nichtreligiösen Juden (!) eintreten.
„Tief im Westjordanland kann man den neuen israelischen Antisemitismus sehen“,
konstatierte der palästinensisch-christliche Schriftsteller und Sozialaktivist Odeh Bisharat in einem Meinungsartikel im September 2021 und erklärte:
„Unter der Führung von Kochavi [dem Chef der israelischen Verteidigungsstreitkräfte] und Verteidigungsminister Benny Gantz unterdrückt die Armee nicht nur die Palästinenser, sondern auch die Juden, die sich mit ihnen solidarisch zeigen, auf brutale Weise. Das ist der neue Antisemitismus, der im Schatten der Führung dieses Paares herangewachsen ist: Juden dürfen nicht nach ihrem Gewissen handeln, vor allem dann nicht, wenn dieses verfluchte Gewissen zu Solidaritätsaktionen mit den leidenden Palästinensern führt.“[31]
Rabbi Arik Ascherman, Mitbegründer von Rabbis for Human Rights (>>> Video-Vortrag), wurde Dutzende Male verhaftet und körperlich angegriffen, einschließlich mit einem Messer. Er patrouilliert seit über zwei Jahrzehnten auf palästinensischen Feldern, um die Herden der Siedler vom Weiden abzuhalten, und er hat die Narben, die er vorweisen kann, wenn er den Zorn der radikalen jüdischen Gruppen auf sich zieht.[32]
Der in Israel geborene Dr. David Ranan, Politikwissenschaftler und Autor, schrieb, dass „Umfragen in Deutschland zeigen, dass die reflexartig pro-israelische Haltung der politischen Eliten und der sich selbst identifizierenden Philosemiten von der allgemeinen Bevölkerung nicht geteilt wird.“[33]
Der israelische Journalist Nir Gontarz wies 2021 darauf hin, dass Jair Lapid als neuer Außenminister in seiner Rede vor dem Global Forum for Combating Antisemitism über Antisemitismus etwas zugab, was Juden nur selten zugeben:
„Lapid behauptete zu Recht, dass der Antisemitismus nur eine Unterart des Rassismus sei, nicht anders als dieser. […] Lapid leugnete eines der Grundprinzipien des jüdischen Volkes, als er sagte, dass das jüdische Volk dasselbe ist wie alle anderen Völker – nicht mehr das ‘auserwählte Volk’ oder ‘ein Licht für die Nichtjuden’.“
Der Autor erinnerte daran, dass bisher kein israelischer Führer von so hohem Rang
„mit solcher Klarheit behauptet hat, dass der Hass auf Juden nicht anders ist als jeder andere Hass gegen jede andere Religion oder Nationalität. Und als eine Ableitung dieser Idee ist nichts einzigartig am jüdischen Volk, außer der Einzigartigkeit, die es sich selbst zuschreibt. […]
Der Holocaust unterscheidet sich nicht vom Völkermord an den Armeniern, außer in seinem Ausmaß, und das liegt vor allem an der Effizienz und Entschlossenheit der Deutschen und der Technologie, die ihnen zur Verfügung stand. Er unterscheidet sich nicht von der Vernichtung eines ganzen Stammes in Afrika oder von den Massakern, die während der Kreuzzüge oder der muslimischen Eroberungsfeldzüge durchgeführt wurden.“[34]
10. Der „neue israelische Antisemitismus“ ist auch hierzulande auf dem Vormarsch.
Dass von zivilgesellschaftlich-jüdischer Seite die brutale israelische Militärpolitik kritisiert wird und dass sie deswegen von zionistischer Seite attackiert wird, ist nichts Neues. Der als einziger Sohn jüdischer Eltern in Wien geborene österreichischer Lyriker, Übersetzer und Essayist Erich Fried (1921-1988), der ab 1938 in London lebte, gilt als einer der Hauptvertreter der politischen Lyrik im Nachkriegs-Deutschland. Er hat sich im Konflikt zwischen Israel und Palästina mit Leidenschaft für Recht und Gerechtigkeit eingesetzt und den Israelis „wie ein biblischer Prophet die Leviten gelesen“. Deshalb ist er von jüdisch-zionistischen Kreisen diffamiert und als „selbsthassender“ Jude tituliert worden. Ein Teil seiner Gedichte thematisiert die Parallelen zwischen dem Holocaust der Juden und der Vertreibung der Palästinenser seit der Nakba. Mit „Höre Israel“[35] sucht Erich Fried neben dem Erlebnisbericht und dem Wissenschaftsbeitrag einen dritten Zugang zu den nur schwer verstehbaren Zuständen und Ereignissen in Israel/Palästina – das Gedicht, diese extreme Verdichtung von Erfahrung und Analyse, das zum allgemeingültigen Symbol wird.
„Ein Jude an die zionistischen Kämpfer“:
„Wollt jetzt wirklich ihr die neue Gestapo sein / die neue Wehrmacht / die neue SA und SS / und aus den Palästinensern / die neuen Juden machen?“
„Eure Toten“:
„Eure Toten sind übergegangen zu uns / Opfer zu Opfern / Verfolgte zu Verfolgten / denn die Ermordeten sind der Ermordeten Brüder und Schwestern / und nicht die der Mörder“.
„Worauf es ankommt“:
„Es kommt nicht darauf an / was man ist / Moslem, Christ, Jude, Freigeist: / Ein Mensch / der ein Mensch ist / kann nicht schweigen / zu dem was geschieht.“[36]
Zurück zur aktuellen Kampagne. Warum unterstellt der IKG-Präsident Oskar Deutsch dem honorigen jüdischen Literaten Omri Boehm die „Relativierung der Schoah“? Weil Zionisten den Nazi-Völkermord an Juden als „einzigartig“ propagandieren, während Boehm die Schoah mit der Nakba in dieselbe Reihe stellt und für eine „gemeinsame Gedenkkultur von Juden und Palästinensern“ plädiert. Aus der Sicht der Aktivisten der „Holocaust-Industrie“ (Begriff von Norman Finkelstein) und deren zionistischer „Identitätspolitik“ ist dies jedoch unerträglich und ein unverzeihliches Sakrileg.[37] Doch hat Peter Beinart wohl Recht, wenn er moniert (s. o.), dass „ein Großteil der jüdischen Gemeinschaft die Welt durch eine veraltete ‘Holocaust-Linse’ sieht, in der ein souveräner jüdischer Staat erforderlich sei, um einen ‘zweiten Holocaust’ zu verhindern“.
Hat Omri Boehms Rede vor der Holocaust-Gedenkstätte am Wiener Judenplatz „den Antisemitismus gefördert“, wie der IKG-Präsident im Vorfeld warnend an die Wand gemalt hat? Natürlich nicht; wie denn auch? Eher führt eine solche Behauptung zu einer zunehmenden Entwertung des Begriffs „Antisemitismus“ als moralisches Maß. Aber welche Absicht steckt dann hinter dieser schrägen Behauptung? Ist es berechtigte Sorge? Das ist schwer vorstellbar – kein vernünftiger Mensch würde angesichts dieser Veranstaltung und ihrer Thematik auf einen solchen Gedanken kommen.
Demgegenüber löst der monatelange Vernichtungsfeldzug der israelischen Armee, den ihre Kriegsherren – selbsterklärt – gegen Gaza aus „Rache für den 7. Oktober“ führen, gegen eine weitestgehend unschuldige, wehrlose und seit Jahrzehnten in eine Enklave gesperrte Zivilbevölkerung sehr wohl solche Gefühle im Ausland aus. Tatsächlich war (und ist) der Anstieg des sogenannten „israelbezogenen Antisemitismus“ beobachtbar, doch die Initiatoren der Kampagne gegen Andersdenkende lassen diesen auf der Hand liegenden Zusammenhang auf befremdliche Weise vermissen. Offenbar sehen sie sich ausschließlich der Verteidigung der diskriminierenden und völkerrechtswidrigen israelischen Politik verpflichtet, sogar um den Preis der Kompromittierung eines angesehenen Literaten und jüdischen Friedensbefürworters wie Omri Boehm. Diese Art des hetzerischen zionistischen Lobbyings ist geeignet, nicht nur antisemitische Vorurteile, sondern auch Unruhe in der Politik eines liberalen demokratischen Staates zu schüren – dies ist durch den entbehrlichen Beitrag der österreichischen Politik durch die Verfassungsministerin (s. o.) und den amtierenden Ersten Nationalratspräsidenten zu dieser unappetitlichen Kampagne schlagend belegt.
Natürlich „relativiert“ Omri Boehm nicht die Schoa, wie ihm IKG-Präsident Oskar Deutsch unterstellt, wenn Boehm bloß eine gemeinsame Gedenkkultur von Juden und Palästinensern anregt. Demgegenüber liegt sehr wohl eine – haarsträubende – Relativierung des Nazi-Regimes und der Schoah dann vor, wenn z. B. der Präsident der jüdischen Organisation B’nai B’rith in Österreich, Victor Wagner, vor 500 versammelten Gästen im Festsaal des Wiener Rathauses bei der 70-Jahrfeier der Staatsgründung Israels – unwidersprochen – ins Mikrophon bellt:
„Ich sage es ganz offen: BDS ist die Nachfolgeorganisation der NSDAP!“
Unabhängig davon, wie man zu der von ihm attackierten Israel-Boykottbewegung steht (die im Gegensatz zur NSDAP keine Partei ist, und die von vielen liberal gesinnten prominenten jüdischen (!) Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund zunehmend unterstützt wird), sollte doch bekannt sein, dass BDS ausdrücklich als gewaltfreie Bewegung zu keinem anderen Ziel gegründet wurde als zur Erreichung des Endes der völkerrechtswidrigen Okkupation Israels im Westjordanland – dieses ist seit 2012 von der UNO als „Staat Palästina“ anerkannt – und der uneingeschränkten Gleichberechtigung aller Palästinenser und Israelis zwischen Meer und Fluss.[38] David Ranan (op. cit.) schrieb dazu:
„Einzelpersonen, Organisationen und Staaten des Antisemitismus zu beschuldigen, war schon immer eine wichtige Waffe in Israels Arsenal, um diejenigen zum Schweigen zu bringen, die es kritisieren, was zu dem absurden Konstrukt führt, fälschlicherweise zu behaupten, dass die Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung antisemitisch sei.“
So macht die Kampagne der Israelischen Kultusgemeinde (IKG) gegen Omri Boehm bestürzend deutlich, dass dieser „neue Antisemitismus“ von Institutionen, die sich in den Dienst des zionistischen Lobbyings gestellt haben, auch hierzulande am Werk ist. Aber wo bleibt der Aufschrei der Medien, die sehr wohl zur Stelle sind, wenn auch nur irgendein Irregeleiteter einem jüdischen Mitmenschen auf der Straße die Kippa wegreißt oder eine Synagogenwand mit einer antijüdischen Parole beschmiert? Und wo sind die Berichte über die seit Jahren grassierenden Spuckattacken gegen palästinensische Christen auf offener Straße der Jerusalemer Altstadt durch schläfenbelockte Kippa-Träger? Wo bleibt der Aufschrei der Medien, wenn die rassistische Siedlerjugend jährlich zum „Jerusalem-Tag“ triumphierend durch die Altstadt schwadroniert und dabei „Death to Arabs!“ skandiert? Es handelt sich wohl nicht zufällig um offensichtlich zweierlei Maß in der Mainstream-Berichterstattung.
Gegen die beschämende Kampagne der IKG verteidigte vernehmbar nur Daniel Kehlmann im Ö1-Mittagsjournal den ethischen Zugang seines Weggefährten. Omri Boehm sei Vertreter der Idee, dass ethische Normen, Rechte und Menschenwürde nicht in irgendeiner Form in Gruppen unterteilt werden könnten, so Kehlmann und folgerte:
„Und aus dem Grund ist es vollkommen konsequent zu sagen, dass es möglich und wünschenswert und anstrebbar sein muss, dass irgendwann Juden und Palästinenser als gleichberechtigte Bürger in einem demokratischen Staat leben. Ich verstehe jeden, der sagt: ‘das ist mir zu utopisch, ich habe Einwände, ich habe Diskussionsbedarf’, aber jemand, der dann sagt, das ist eine Schande, dass so ein Mensch auf diesem oder jenem Platz vortritt, auftritt und vorträgt – das kann ich nicht verstehen.“
Es müsse auch den Gedanken geben können, sagte Daniel Kehlmann, dass Israel ein Staat sein könne wie jeder andere auch, ohne dass man sich beim Vertreten dieser Position Gewaltandrohungen gefallen lassen müsse. „Wer Eier wirft, wirft schnell auch mal was anderes. Ich finde das absolut empörend“, so der deutsch-österreichische Schriftsteller Kehlmann an die Adresse Muzicants.[39]
Fritz Weber, 12. September 2024, benaja [at] gmx.at
[1] DER SPIEGEL Nr. 44, 29.10.2022, S. 56.
[2] Omri Boehm betitelte seine Rede: “Shadows of History, Spectres of the Present: The Middle East War and Europe’s Challenge”.
[3] „Omri Boehm und die brisante „Rede an Europa“, 7. Mai 2024, https://topos.orf.at/wiener-festwochen-omri-boehm100.
[4] DER SPIEGEL Nr. 44, 29.10.2022, S. 55.
[5] Vgl. „’Small is powerful’ – Dezentralität und Kantonisierung als Lösungsansatz für Krisenregionen wie den Nahost-Konflikt“ (Fritz Weber 2014). https://bit.ly/3MxDkoq – Gerald Lehner: „Das menschliche Maß. Eine Utopie? Gespräche mit Leopold Kohr über sein Leben“ (Salzburg 2014).
[6] Im Zusammenhang mit der gegenständlichen Thematik ist Omri Boehms 2020 in New York erschienenes Buch erwähnenswert: “Haifa Republic: A Democratic Future for Israel” bzw. deutsch: „Israel – eine Utopie. Eine hoffnungsvolle Vision für den Nahen Osten“, 2020 Berlin.
[7] Dimitry Shumsky: “Zweisprachlichkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900-1930“, Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Bd. 14, Göttingen 2013, S. 315. Hebräische Originalausgabe: “Between Prague and Jerusalem. Prague Zionism and the Idea of the Binational State in Palestine”, 2010. Hinweis auf Kap. 3.5: „Vom Kulturnationalismus zum multikulturellen Nationalismus. Die Alternative zum ethnozentrischen Nationalismus.“ Der Autor des Buches ist Historiker und lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalem.
[8] Eleonore Lappin: “Der Jude1916-1928, Jüdische Moderne zwischen Universalismus und Partikularismus“, 2000 Tübingen, S. 264.
[9] Dimitry Shumsky op. cit. S. 276, 313.
[10] Eleonore Lappin op. cit. S. 269-270.
[11] Dimitry Shumsky op. cit. S. 245.
[12] Noam Chomsky, der in der jüdisch-zionistischen Kulturtradition aufwuchs, war vor der Staatsgründung von der zionistischen Politik im Sinne einer sozialistischen, binationalistischen Option für Palästina und für die Kibbuzim und das ganze genossenschaftliche Arbeitssystem fasziniert und engagiert. Nach der Staatsgründung, im Jahr 1953, unternahm er eine Reise nach Israel, wo er im HaZore’a-Kibbuz lebte. In den 1950er Jahren war dies ein Zentrum der Versuche der internationalen sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation Haschomer Hatzair, mit der lokalen arabischen Bevölkerung zu arbeiten. Sie kannte drei Schwerpunkte: Völkerfreundschaft, Pfadfinderschaft und Laizismus, und trat für eine binationale Regelung ein.
Entsetzt war Chomsky über den jüdischen Nationalismus des Landes, den antiarabischen Rassismus und – innerhalb der linken Kibbuz-Bewegung – über den Pro-Stalinismus (Wikipedia).
Dementsprechend sieht Chomsky die Politik Israels gegenüber den Palästinensern und seinen arabischen Nachbarn äußerst kritisch. Sein Buch „The Fateful Triangle“ (Das verhängnisvolle Dreieck, 1983) gilt als einer der wichtigsten Texte zum israelisch-palästinensischen Konflikt unter denjenigen, die Israels Politik gegenüber den Palästinensern sowie die amerikanische Unterstützung für den Staat Israel ablehnen.
[13] Zitat auf der ehemaligen Berliner Mauer. Quelle: Erich Fried, „Höre Israel. Gedichte gegen das Unrecht“. Melzer Verlag, Neu Isenburg 2010.
[14] 2006 wurde Charlotte Knobloch zur Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland gewählt. Sie missbilligte jede Kritik an Israels Politik gegenüber den Arabern, schrieb Rolf Verleger (op. cit. S. 85).
[15] Einen aufschlussreichen Einblick bekommt, wer Rolf Verlegers Buch: „Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht“ (Köln 42024) liest. Prof. Verleger war von 2006 bis 2009 Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland.
[16] Wie dramatisch der Prozess voranschreitet, zeigt Jonathan List auf: “Israel’s Justice Minister Urges Government to Resume Judicial Overhaul“, Ha‘aretz Aug 11, 2024.
[17] Zu Israels Kriegspolitik s.: „Israels Kriegspolitik und ihre ideologischen Wurzeln“ (Fritz Weber 2024), https://www.palaestinasolidaritaet.at/2024-01-30-5047/
[18] Auch das Abstammungskriterium wurde – staatlicherseits – verwässert: Nicht mehr nur, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde, wird als „Jude“ im Sinne des „Rückkehrgesetzes“ anerkannt“, sondern auch, wer zumindest einen jüdischen Großelternteil hat. Damit wurden praktisch nationalsozialistische Kriterien einbezogen. Aus diesem Grund ist der österreichische Nationalökonom Leopold Kohr (s. o.) rechtzeitig aus Österreich ausgewandert, weil er einen jüdischen Großvater hatte (Ignaz Kohr).
Naturgemäß ist das ultraorthodoxe Jerusalemer Oberrabbinat über diese Ausweitung der politischen Definition des Judeseins höchst verärgert, die vom Staat wohl aus demographischen Gründen vorgenommen wurde. Allein schon aufgrund dieser Diskrepanz ergibt sich die Unmöglichkeit einer seriösen Abgrenzung, wer nun eigentlich dem „jüdischen Volk“ angehört (und warum) und wer nicht.
Mehr dazu in der Untersuchung: „Die Demaskierung der zionistischen Abstammungslüge – Jüdischsein liegt nicht in den Genen. Das gescheiterte Projekt der zionistischen Genealogie-Forscher und die politischen Konsequenzen“ (Fritz Weber, 2023) https://bit.ly/3ZICGZk.
[19] Rolf Verleger: „Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht“ (Köln 42024, S. 100-101).
[20] https://www.instagram.com/reel/C4VZO-FMOt3/
[21] Zitiert bei Rolf Verleger op. cit. S. 158.
[22] Vgl. Fritz Weber: „Jüdischer und christlicher Antizionismus in Geschichte und Gegenwart“ (2024). https://bit.ly/49qivVQ
[23] Tobias Grill: „Antizionistische jüdische Bewegungen“, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2011-11-16.
[24] Der jüdisch-britische Regierungspolitiker Sir Edwin Montagu stand in seiner Ablehnung der geplanten „Balfour-Erklärung“ in noch einer weiteren Hinsicht auf der Seite des Rechts. Die Übertragung des Völkerbund-Mandats für Palästina an Großbritannien am 24. Juli 1922, in das die „Balfour-Erklärung“ aufgenommen worden war, „verletzte die Souveränität des Volkes von Palästina und dessen natürliche Rechte auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung“, stellte der international bekannte Jurist Henry Cattan (1906-1992) in seinem epochalen Werk „Palestine and International Law“ fest (p. 65).
„Die Errichtung einer nationalen Heimstätte dort für ein fremdes Volk verletzte die legitimen und fundamentalen Rechte der einheimischen Bevölkerung. Der Völkerbund besaß, ebenso wie die britische Regierung, keinerlei Befugnisse, über Palästina zu verfügen oder den Juden irgendwelche politischen oder territorialen Rechte in diesem Land zu gewähren. Insoweit das Mandat die Anerkennung irgendwelcher Rechte für ausländische Juden in Palästina beinhaltete, war es null und nichtig.“
Er argumentierte, dass das Mandat in Geist und in Schrift gegen Artikel 22 der Satzung des Völkerbundes verstoße, der das grundlegende Ziel des Mandatssystems definierte: Es sollte „das Wohlergehen und die Entwicklung“ der Menschen, die in den Mandatsgebieten lebten, sicherstellen, während das Mandat im Widerspruch zu den Rechten und Wünschen der Palästinenser die Errichtung einer nationalen Heimstätte für ein anderes Volk anstrebte. Obwohl das Mandatssystem eigentlich für die Interessen der Bewohner des betreffenden Mandatsgebiets konzipiert war, diente das Palästina-Mandat den Interessen eines fremden, von außerhalb Palästinas stammenden Volkes, was dem Grundkonzept des Mandats zuwiderlief (p. 66). Kurzum, das Palästina-Mandat Großbritanniens war „nichts als eine Verhöhnung des durch die Satzung des Völkerbundes konzipierten Mandatssystems.“ (p. 68).
Am 21. Juni 1922 hatte es im britischen Oberhaus eine Debatte über einen Antrag gegeben, der die Verankerung der „Balfour-Erklärung“ in dem Mandat für inakzeptabel erklärte. Dabei warnte Lord Islington:
„Der Plan einer zionistischen Heimat zielt auf eine effektive politische Vorherrschaft in Palästina, es öffnet buchstäblich einer nachfolgenden Katastrophe Tür und Tor. […] Unsere Zugeständnisse, die wir nicht dem jüdischen Volk gegenüber, sondern einem extremen zionistischen Teil machten, haben eine Wunde im Osten aufgerissen, und keiner kann sagen, wie weit sich diese Wunde ausdehnen wird.“ (House of Lords, Hansard’s Report, 21. Juni 1922, p. 997, zitiert in Alan Hunt: „Zionismus: Der wirkliche Feind der Juden“, Bd. 1, Frankfurt a. M. 2016, S. 182.
[25] Wolfgang B. Sperlich: “Noam Chomsky”, 2006, p. 100-101.
[26] Robert F. Barsky: “Noam Chomsky: A Life of Dissent”, Cambridge 1997, p. 170-171.
[27] Chomskys Status als „meistzitierter lebender Autor“ wird seinen politischen Schriften zugeschrieben, die seine linguistischen Schriften bei weitem übertreffen.
[28] Robert F. Barsky op. cit. p. 78.
[29] Ed Pilkington: “Noam Chomsky barred by Israelis from lecturing in Palestinian West Bank“, The Guardian 17 May 2010.
[30] „Sheikh Jarrah: Eine menschenrechtliche Tragödie vollzieht sich in Ostjerusalem“ (Fritz Weber 2021). https://bit.ly/3jfpIAa
[31] Odeh Bisharat: “Deep in the West Bank, You Can See New Israeli Antisemitism“, Ha’aretz Sep 20, 2021.
[32] AGENCIES: “Activist Israeli rabbi helps Palestinian farmers in West Bank facing settler violence”, TimesofIsrael Nov. 13, 2023.
“Arik Ascherman of Rabbis for Human Rights condemns Oct. 7 massacre, while saying Israelis ‘not prepared to distinguish between Palestinian terrorists, terrorized Palestinians’.”
[33] David Ranan: “75 Years After the Holocaust, Jews in Germany Shouldn’t Get Special Treatment Any More“, Ha’aretz Apr 19, 2020.
[34] Nir Gontarz: “Lapid’s Speech on Antisemitism Admitted Something Jews Rarely Admit“, Ha’aretz July 18, 2021.
[35] Dieses Wort, „Höre Israel…“, ist der Beginn der berühmten Worte der Torah an das Zwölf-Stämme-Volk Israel aus Deuteronomium/5Mose 6,4-5.
[36] Drei Ausschnitte aus drei Gedichten von Erich Fried op. cit.
[37] S. auch „’Holocaust-Theologie’ und die Frage nach der ‘Singularität der Shoah’. Antwort auf Jan-Heiner Tücks Interpretation der Erwählung Israels als ‘bleibende theologische Würde’“ (Fritz Weber 2016, 2021). https://bit.ly/35I7wb7
[38] Lit.: Carminati/Tradardi: „BDS – Gewaltloser Kampf gegen die Israel-Apartheid“ (2011). – Sivan/Laborie: „Legitimer Protest. Plädoyer für einen kulturellen und akademischen Boykott Israels“ (2018).
[39] Weitere Quellen: Ronald Pohl, Michael Wurmitzer: „Warum Omri Boehm mit seiner ‘Europa’-Rede aneckt. Omri Boehm und die brisante ‘Rede an Europa’“, Der Standard 7. Mai 2024. – „Omri Boehm fordert Überwindung des Nationalstaates“, Topos/ORF online, 7. Mai 2024.