„Nie wieder!“ kann nur heißen „Nie wieder, nirgendwo, für niemanden!“ Ansonsten heißt es nichts. Die Lehren aus dem Holocaust lassen sich nicht “ethnozentristisch” ziehen und werden nur internationalistisch und universell sein – oder gar nicht.
Wenn der KZ-Verband sich nun von der öffentlichen Verlesung des Mauthausenschwurs am 18. 6. 2024 und deren Initiator Ernst Wolrab, dem ehemaligen Landessekretär des KZ-Verbands für Wien und zu diesem Zeitpunkt noch dessen Bundessekretär distanzieren zu müssen glaubt, isoliert der Verband nicht einen Mann, dem nichts anderes als seine untadelige internationalistische Reputation vorgeworfen werden kann, sondern sich selbst vom Lauf der Geschichte, entledigt sich seiner eigenen „politischen Seele“ und hängt aus durchsichtig opportunistischen Motiven sein Fähnchen in Winde, deren historische Richtung und Bedeutung er selbst nicht ganz zu verstehen scheint.
Denn eine ethnozentristische Interpretation des Holocaust ist nicht nur in sich widersinnig und irrational, sondern erfreulicherweise überall in der Defensive, bei Überlebenden des Holocausts, bei jüdischen Menschen und ihren Nachkommen und bei einer jungen Generation von Juden und Jüdinnen in den USA und anderswo, die ohnehin immer mehr im stolzen Selbstbewusstsein ihrer jüdischen Identität vertreten, was ihnen ihre universalistische Weltanschauung gebietet, wie etwa Lily Greenberg Call, die erste jüdische Beamtin der US-Regierung, die aus Protest über die Gaza-Politik von Genocide Joe zurückgetreten ist. Diese jungen Menschen kennen nicht nur ihre eigene, sondern auch die israelische Gesellschaft gut, sprechen oft hebräisch und arabisch, haben jüdische und palästinensische Freunde, und lassen sich nicht mehr in einen Groupthink aus der zionistischen Werkstatt ethno-nationalistischer Zwangsideen pressen, wie aus der Dokumentation ‚Israelism‘ oder auch Greenberg Call’s veröffentlichtem ‚Resignation Letter‘ bzw. ihren Interviews abzulesen ist.
Selbst bei großen zionistischen Verbänden in den USA, wie der Anti Defamation League (ADL) und J Street bricht die Unvereinbarkeit zwischen der Verteidigung universalistischer Normen und des Verhaltens Israels sichtbar auf, und stellt sie vor die Wahl zwischen dem, was in der Moderne vom Erbe der Aufklärung an Essentiellem erhalten blieb – und bleiben muss (wie die Gleichheit allen menschlichen Lebens, Meinungsfreiheit, udgl.) und dem Rückzug auf regressiven Ethnozentrismus oder eine israelische „Ethnocracy“, wie es der ehemalige USA-Direktor der größten israelischen Menschenrechtsorganisation B’tselem jüngst treffend nannte.
Die New York Times berichtet unter dem Titel „J Street Seeks a Middle Path on Gaza. Is That Possible Anymore?“ vom Verlust von Mitarbeitern und Spendern dieser klassisch „liberalen“ zionistischen Organisation wegen deren Verteidigung des Vorgehens Israels unter der rechtsradikalsten Regierung, die dieses Land je hatte. Der Aufsichtsratsvorsitzende von J Street, Peter Frey illustriert das unauflösliche Dilemma zwischen universalistischen und ethnozentristischen Ansprüchen der Organisation, und die von J Street letztendlich getroffene Wahl, wenn er der New York Times sagt: “J Street is a Zionist organization. It’s ‘pro-Israel, pro-peace’ — it starts with ‘pro-Israel.’[Hervorhebung d. Autors]”.
Abba und Norman Salomon sehen darin den längerfristigen Grundwiderspruch der Organisation, der sich seit dem 7. Oktober nur verstärkt hat, „thrusting into clearer view Israel’s actual creation-and-expansion story, illuminating the violent repression and expulsion of Palestinian people“, und kommen zu dem Schluss: „Long story short, the dream of humanistic Zionism is collapsing, but — like other entrenched Jewish groups and a declining number of American Jews — J Street is desperate to keep the fantasy on life support.“
Mitchell Plitnick, früherer US-Direktor von B’Tselem und Co-Direktor von „Jewish Voice for Peace“ bringt die Wahl, vor der zionistische Organisationen wie J Street – und nicht nur diese sondern offensichtlich auch der KZ-Verband – heute stehen unter der Überschrift “The ethnocratic divide“ auf den Punkt: „It will be about whether Palestinians will have equal rights in every way—including the right of return and the right to ensure their own security, just like Israelis. And that means the question for American Jews will ultimately come down to whether we want to continue to insist on an ethnocratic formulation featuring a Jewish state, or whether we will help Israel to abandon the fiction that it can be an ethnocratic and democratic state at the same time. It cannot. It will have to choose.“
Was würde den Marsch einer Organisation in die ethnozentristische Regression und relative Bedeutungslosigkeit (im Hinblick auf universalistische Anliegen, wie den Kampf gegen Antisemitismus), besser zeigen, als die Tatsache, dass Wikipedia die Anti Defamation League (ADL) soeben als „unverlässliche Quelle“ für Daten über den Antisemitismus und Israel eingestuft hat, die in der Online-Enzyklopädie nicht länger benutzt werden sollte. “ADL no longer appears to adhere to a serious, mainstream, and intellectually cogent definition of antisemitism. Instead, it has succumbed to the shameless politicization of the very subject it was originally esteemed for being reliable on,” erklärte der Wikipedia-Redakteur Iskandar 323 die Entscheidung, die gleichzeitig ein Schlag ins Gesicht der zionistischen Bemühungen ist, die sogenannte IHRA-Definition von Antisemitismus zu etablieren, die nur eine zwischenstaatliche Übereinkunft und keine wissenschaftliche Definition ist und das Scheunentor für die Gleichsetzung von Antisemitismus und Anti-Zionismus weit öffnet. Wikipedia ist keine streng wissenschaftliche Informationsquelle aber mit 92 Milliarden Zugriffen allein auf ihre Englisch-Version im Jahr 2023 absoluter Mainstream. Wenn die ADL dort gebannt wird, heißt dies, die zionistische Hasbara hat ihre Glaubwürdigkeit in der Breite der globalen Gesellschaft verloren. Angesichts dessen empfiehlt ein Kommentar des us-jüdischen Magazins Forward der ADL Demut. Die Organisation wird zu „self-reflection“ aufgefordert und daran erinnert, dass „Respect is earned“, bevor daseigentliche Dilemma höflich aber klar angesprochen wird. „The real problem that the Wikipedia designation points out with the ADL is that there is an inherent contradiction between doing serious research and engaging in advocacy.“
Genauso wie J Street steht die ADL vor einem „ethnocratic divide“ und kann nicht mehr eine glaubwürdige antirassistische, Menschenrechts- oder „Civil Rights- Organisation und zionistische Propagandatruppe zugleich sein. Der Vernichtungskrieg in Gaza hat diesen Widerspruch nicht geschaffen, aber so zugespitzt, dass sich niemand mehr um diese Entscheidung herumdrücken kann. Gaza ist für alle Organisationen – wie auch für den KZ-Verband – der Lithmustest für die Wahl zwischen Internationalismus/ Universalimus und Ethnozentrismus (Nationalismus, Rassismus).
ADL’s neuer Vorsitzender Jonathan Greenblatt hat diese Wahl schon vor dem 7. 10. 2023 getroffen, aber ist der Prozess durch den Gazakrieg von einem schleichenden zu einem schlagartigen geworden. Wikipedias nachvollziehbarer Redaktionsbeschluss ist die logische Folge der wissenschaftlich so unsinnigen wie propagandistisch durchschaubaren Gleichsetzung von Antizionismus oder Israelkritik mit Antisemitismus, auf die der neue ADL-Vorsitzende eine Organisation trimmen will, die zwar immer Israel verteidigt, aber immerhin auch brauchbare Daten zum Antisemitismus geliefert hatte.
Davon kann keine Rede mehr sein, und kann die ADL derzeit aus naheliegenden Gründen keinen sinnvollen Beitrag zum Kampf gegen Antisemitismus, geschweige denn Rassismus allgemein mehr leisten; im Gegenteil sie schadet ihm:
1. Erfahrungsgemäß steigen Antisemitismus und Islamophobie während militärischer Auseinandersetzungen in Palästina regelmäßig an, aber die seit Oktober 2023 von der ADL auf Basis einer „neuen Definition“ veröffentlichten Daten können seriös nichts mehr zu dessen Erfassung beitragen.
2. Dazu kommt noch die öffentliche Kommunikation Greenblatts, die die Kategorisierung als antisemitisch in der ADL Statistik oft noch rechts überholt, und dem nichts zu dumm ist, um sich als platter Handelsvertreter in Sachen israelischer Regierungspolitik und zionistischer Propaganda zu gerieren:
Somit schließt sich der Kreis einer Organisation, die einst auszog Rassismus zu bekämpfen, zumindest in seiner antisemitischen Spielart und schließlich bei einem Vorsitzenden landet, der keinen Zweifel daran lässt, dass er nicht nur den antirassistischen Kampf der Propagierung einer nationalistischen und rassistischen politischen Strömung zu opfern bereit ist, sondern selbst antisemitische Topoi verbreitet.
Die fortschreitende ethnozentristische Regression der ADL auf eine zionistische Propagandaformation bleibt weder innerhalb noch außerhalb der Organisation unwidersprochen und trennt tendenziell die ethnozentristische Spreu vom universalistischen Weizen.
Vom Kampf gegen Antisemitismus bleibt da nur mehr die Hülle einer PR-Truppe übrig, die nicht nur den Begriff bis zur Unkenntlichkeit entstellt und damit entleert, sondern selbst zur Schleuder für nationalistische und rassistische Topoi geworden ist, und deren raison d’etre heute immer mehr auf die Losung ein (säkularer) Glaube, ein Staat, ein Volk (Zionismus=Israel=„die Juden“) schrumpfen dürfte.
Der als Bekenntnis zum Kampf gegen den Antisemitismus getarnte „Untergriff im Abgesang des KZ-Verbands“ (Wilhelm Langthaler) folgt dem Fahrwasser des – an den obigen Beispielen illustrierten – moribunden, regressiven und überall in der Defensive befindlichen Zionismus, der niemanden mehr überzeugen kann, sondern sich nur mehr auf staatliche Repression, infame persönliche Attacken auf die politischen Gegner (wie die unqualifizierten und substanzlosen Angriffe der jüdischen Hochschülerschaft auf Ernst Wolrab) oder zionistische Schlägertrupps und Provokateure (wie z. B. an der UCLA) stützen kann. Wenn der Verband mit dem Eifer des Konvertiten den politischen Takfiri (etwa „Exkommunizierer“ in der islamischen Theologie) gibt und den „Antisemitismusvorwurf“ schwingt, dessen Missbrauch als „Herrschaftsinstrument“ der israelische Soziologe Mosche Zuckermann schon vor mehr als einem Jahrzehnt so treffend beschrieben hatte, hat er ebenfalls längst aufgehört, eine ernsthafte Größe im Kampf gegen Antisemitismus zu sein, weil dieser ohne Kampf gegen Rassismus allgemein nicht möglich ist, und schadet diesem genau so wie die ADL des Jonathan Greenblatt. Drop the KZ-Verband?
Den Unterschied zwischen echtem Antirassismus und seinem Missbrauch in der tagespolitischen israelischen ‚Hasbara‘ hat der israelische Holocaust- und Völkermordforscher Raz Segal, der schon im Oktober das Vorgehen Israels als Lehrbuchbeispiel von Völkermord bezeichnet hatte, in einen Kommentar in der Los Angeles Times unmissverständlich klargemacht:
“This terrible fact should direct us to the roots of the historical struggle against antisemitism before the creation of Israel in 1948. It was a struggle that aimed to protect a powerless group from powerful states, not to defend a powerful state in its attack against a powerless group. It was a struggle for a people to live in dignity in a society where everyone’s humanity is recognized, not to legitimize a state where leaders, politicians and TV anchors call openly to wipe out places and people.”
Los Angeles Times
Ernst Wolrab verdient unsere menschliche Solidarität gegen die infame Hetze der Takfiris, aber wir sollten uns bewusst sein, dass die Hetzer nur der Ausdruck der Regression und des hilflosen – wenn auch zerstörerischen – Rundumschlags einer historischen Tendenz sind, der weltweit gerade die Stunde schlägt.
Peter Oberdammer – Publizist, Historiker, Geograph, und Sozialwissenschafter