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„In meinen Augen ist das eine Fortsetzung der Politik, die wir in den letzten Monaten gesehen haben: Israel greift humanitäre Strukturen, Gesundheitseinrichtungen, Ambulanzen systematisch an; humanitäre Hilfe wird entgegen dem Völkerrecht systematisch vorenthalten oder zumindest nicht in ausreichendem Maße zugelassen. Das lässt sich auch festmachen an der Zahl von Hunderten Mitarbeiter:innen des Gesundheitssektors, die seit dem 7. Oktober in Gaza getötet wurden. Alleine bei der UNRWA sind das bislang 176.“
Riad Othman, Nahostreferent für die Menschenrechtsorganisation Medico International in Berlin, April 2024
Am Abend des 1. April 2024 war das Team der humanitären Hilfsorganisation „World Central Kitchen“ (WCK) in einer konfliktfreien Zone in zwei gepanzerten Fahrzeugen mit dem weithin sichtbaren WCK-Logo am Fahrzeugdach (Foto) und einem ungeschützten Fahrzeug unterwegs. Die Fahrt war mit der israelischen Armee koordiniert. Die Helfer hatten mehr als 100 Tonnen humanitärer Lebensmittelhilfe zu entladen, die auf dem Seeweg in den Gazastreifen gebracht worden war. Als sie ein Lagerhaus in der Ortschaft Deir al-Balah im zentralen Abschnitt des Gazastreifens verlassen hatten, wurden sie von den israelischen Luftstreitkräften (IAF) beschossen. Es gab sieben Todesopfer, die aus Australien, Polen, Großbritannien und den Palästinensergebieten stammten – zudem habe eines der Opfer die amerikanische und kanadische Staatsbürgerschaft. Laut einem Ha’aretz-Bericht unter Berufung auf IDF-Beamte ging der Angriff auf einen Terrorverdacht zurück: Die Streitkräfte hätten den Hilfskonvoi wegen der Vermutung (!) attackiert, ein (!) Terrorist sei mit diesem unterwegs gewesen.
EU-Chefdiplomat Josep Borrell verurteilte den Luftangriff im Gazastreifen. Der Außenbeauftragte der EU würdigte die getöteten NGO-Mitarbeiter und drängte auf eine Untersuchung. „Trotz aller Forderungen zum Schutz von Zivilisten und humanitären Helfern gibt es neue unschuldige Opfer.“ Die britische und spanische Regierung forderten eine umgehende Aufklärung des Vorfalls. Auch Ägypten verurteilte den Angriff. Die UNO prangerte eine „Missachtung“ des Schutzes für die Helfer im Gazastreifen an. „Die Vielzahl solcher Ereignisse ist das unvermeidliche Ergebnis der Art und Weise, wie dieser Krieg derzeit geführt wird“, erklärte ein Sprecher von UNO-Generalsekretär Antonio Guterres.
„Mehr als 200 Mitarbeiter von Hilfsorganisationen wurden in diesem Konflikt getötet, der damit zu einem der schlimmsten Konflikte für Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in der jüngeren Geschichte zählt“,
sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats in den USA, John Kirby. Die US-Amerikaner übten scharfe Kritik am Vorgehen der IDF und forderten volle Transparenz bei den Ermittlungen und deren Ergebnissen.
Die betroffene Hilfsorganisation will angesichts des tödlichen Vorfalls ihren Einsatz in der Region sofort stoppen und bald Entscheidungen „über die Zukunft unserer Arbeit treffen“. Auch andere Hilfsorganisationen haben ihre Tätigkeit im Gazastreifen aus Sicherheitsgründen vorerst eingestellt.
Die IDF und das Verteidigungsministerium behaupteten, die Tötung der Entwicklungshelfer sei auf eine schlechte Koordination zurückzuführen. Doch Quellen der israelischen Armee wiesen diese Behauptungen später zurück und erklärten, der Vorfall habe „nichts mit der Koordination zu tun“, sondern sei darauf zurückzuführen, dass „jeder Kommandant die Regeln für sich selbst festlegt“ und seine eigene Interpretation der Einsatzregeln vorgibt. Eine Quelle aus dem Nachrichtendienst sagte, das Kommando wisse genau, was die Ursache des Angriffs gewesen sei – in Gaza mache jeder, was er wolle.
Tatsächlich kommt den israelischen Kriegsführenden insbesondere zweierlei ungelegen:
Eine Behinderung humanitärer Hilfsorganisationen, die Abschreckung ihrer Mitarbeiter, die sich zunehmend bedroht fühlen (so Michael Capponi, Gründer der Hilfsorganisation Global Empowerment Mission) sowie die Weigerung Israels, die Grenzen zum nördlichen Teil des Gazastreifens zu öffnen, um die Versorgung der dort verbliebenen, sich selbst überlassenen 300.000 Gazaner zu ermöglichen, kommt somit – entgegen anders lautender Öffentlichkeitspropaganda – den Absichten des israelischen Regimes entgegen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Riad Othman, der Nahostreferent für die Menschenrechtsorganisation Medico International in Berlin, von einem „gezielten Angriff“ der Israelis auf den WCK-Konvoi spricht (Judith Joppe: „Angriff auf Hilfskonvoi in Gaza: ‘Katastrophe ist menschengemacht’“, taz 5. April 2024). Er setzt dies in einen größeren Zusammenhang wie folgt:
„In meinen Augen ist das eine Fortsetzung der Politik, die wir in den letzten Monaten gesehen haben: Israel greift humanitäre Strukturen, Gesundheitseinrichtungen, Ambulanzen systematisch an; humanitäre Hilfe wird entgegen dem Völkerrecht systematisch vorenthalten oder zumindest nicht in ausreichendem Maße zugelassen. Das lässt sich auch festmachen an der Zahl von Hunderten Mitarbeiter:innen des Gesundheitssektors, die seit dem 7. Oktober in Gaza getötet wurden. Alleine bei der UNRWA sind das bislang 176. Viele dieser Fälle sind mit der Präsenz der Hamas oder militanten Palästinenser:innen nicht zu rechtfertigen. Wenn eine Armee systematisch eigentlich alle Krankenhäuser in Gaza so schwer beschädigt oder zerstört, dass am Ende nur noch 10 von 36 in Teilen funktional sind, wenn auch einfachere Gesundheitszentren zerstört worden sind, dann liegt meines Erachtens nach den 412 Angriffen seit dem 7. Oktober ein systematisches Vorgehen zugrunde. Im selben Zeitraum hat es im Westjordanland übrigens 450 Übergriffe auf Gesundheitseinrichtungen und Ambulanzen oder Angriffe auf diese gegeben, die sich nicht mit dem Krieg rechtfertigen lassen.“
Ob er auch den Angriff auf den Konvoi von WCK für einen gezielten halte, wurde Riad Othman gefragt.
„In den Medien ist öfter von ‘einem Luftangriff’ die Rede. Man erkennt aber aus den Geodaten der Bilder, dass die drei Fahrzeuge der WCK über eine Strecke von 2,5 Kilometern gezielt angegriffen wurden. Zuerst wurde ein Fahrzeug getroffen. Dann etwa 800 Meter weiter das zweite, in das Überlebende aus dem ersten verfrachtet worden waren. Das dritte Fahrzeug wurde dann nochmal 1,6 Kilometer weiter südlich angegriffen. Da kann man nicht mehr von einem Versehen sprechen.“
Siehe auch:
Fritz Weber, 2. Mai 2024. benaja [at] gmx.at