Seit Oktober 2023 führen die israelischen Luft-, Land- und Seestreitkräfte (IDF) einen Vernichtungskrieg nicht nur gegen die militanten Gruppierungen im Gazastreifen, sondern insbesondere gegen die bestehenden zivilen Infrastrukturen, allen voran das Gesundheitssystem.
Druckversion PDF Deutsch / Englisch
„Jede Lüge muss mit der Wahrheit beantwortet werden.“
Irene Harand (1900-1975), christliche Vorkämpferin gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus
Mit Stand Mitte April 2024 sind 32 von 36 Spitälern wegen Zerstörung und mangels Elektrizität, Medikamenten, medizinischem Material etc. nicht mehr in Betrieb, die restlichen nur noch teilweise; weitere 53 Gesundheitszentren sind zerstört; 126 Ambulanzfahrzeuge wurden angegriffen und zerstört. Der vorliegende Beitrag richtet den Fokus auf Al-Schifa, das größte Krankenhaus in der palästinensischen Enklave, und zeichnet dessen stufenweise Zerstörung durch die israelischen Invasoren bis zur Totalvernichtung dieser zentralen und lebenswichtigen Gesundheitseinrichtung nach.
Inhaltsverzeichnis:
1. Al-Schifa – Schutzschild für Hamas-Führer?
2. Die brutale Erstürmung des Al-Schifa-Krankenhauses
3. Keine Hinweise auf eine Kommandozentrale
4. Die Vollendung der Zerstörung im Blutrausch der israelischen Streitkräfte
5. WHO zieht grausige Bilanz: „nur noch eine leere Hülle mit menschlichen Gräbern“
6. Die Rechtfertigung des israelischen Militärs
7. Die abschließende Frage
Das größte Krankenhaus im Gazastreifen ist das Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt. In den 1980er Jahren, als der Gazastreifen unter israelischer Besatzung stand, wurde es von der israelischen Zivilverwaltung modernisiert und erheblich erweitert. Dabei wurden auch umfangreiche unterirdische Räumlichkeiten gebaut.
Schon vor der Invasion des Gazastreifens im Oktober 2023 behaupteten die israelischen Streitkräfte (IDF), dass sich in diesen Räumen eine Kommandozentrale oder das Hauptquartier der Hamas befinde. Daher wurde der Gebäudekomplex zu einem ihrer wichtigsten militärischen Ziele. In den Augen der meisten Israelis galt das Krankenhaus als ein rein militärisches Ziel, dessen Patienten lediglich als menschliche Schutzschilde dienen würden. Die Theorien, die in den israelischen Medien kursierten, zeichneten ein imaginäres Bild von einem befestigten Kriegsraum, in dessen Zentrum ein mit Dokumenten gefüllter Kontrollraum stehe, von dem aus die Befehle zum Abschuss von Raketen auf Israel ausgingen.
In diesem Kommandoraum befänden sich die Hamas-Führer Yahya Sinwar und Mohammed Deif sowie die höchsten Offiziere des militärischen Flügels der Hamas, umgeben von verschlungenen Tunneln, die so vollgepackt seien, dass sie monatelang mit Treibstoff und Lebensmitteln auskämen. Dabei seien die Hamas-Führer nicht die einzigen, die sich dort aufhalten würden. Das Wall Street Journal zitierte einen hochrangigen israelischen Beamten mit der Aussage, dass einige der Geiseln möglicherweise in den Tunneln unterhalb des Krankenhauses festgehalten würden. „Aber all diese Spekulationen“, analysierte am 14. November der unabhängige israelische Journalist Shlomi Eldar,
„dienen dazu, sowohl die israelische als auch die internationale Öffentlichkeit auf den Einmarsch der Armee in das Krankenhaus vorzubereiten und dabei auch ein Bild des Sieges zu entwerfen.“
Die Hamas bestritt den Vorwurf Israels, das Krankenhaus für terroristische Zwecke zu missbrauchen und unter den Gebäuden eine Kommandozentrale und ein Netzwerk aus Tunneln und Bunkern errichtet zu haben. (dpa/tas)
Schon im November 2023 hatten veröffentlichte Videoaufnahmen auf eine völlige Überbelastung des Krankenhauses aufgrund des Krieges zwischen Israel und der Hamas hingewiesen. Es war außerdem zum Zufluchtsort für tausende vertriebene Zivilisten geworden (vgl. „Kliniken im Gazastreifen vor Zusammenbruch“. In: zdf.de. 2. November 2023).
Am 13. November vermeldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass seit drei Tagen die Wasser- und Stromversorgung des Krankenhauses unterbrochen sei und dies zu einem Betriebszusammenbruch des Krankenhauses beigetragen habe. Die Zahl der Todesfälle unter den Patienten stieg in der Folge erheblich (vgl. „Schifa-Krankenhaus in Gaza laut WHO ‘nicht mehr funktionsfähig’“. In: Der Spiegel, 13. November 2023).
Am 14. November berichtete Shlomi Eldar von dem verzweifelten Alarmruf des Krankenhausdirektors: „Wir haben 83 Frühgeburten. Sie werden sterben“, und forderte in seinem Meinungsbeitrag – offenbar vergeblich: „Israel muss den Angriff auf das Al-Schifa-Krankenhaus überdenken.“
„Wenn es Tunnel gibt, die die Israelis zu finden versuchen, dann sollten sie mir helfen, die Patienten zu evakuieren“,
sagte der Direktor, Mohammed Abu Selmia. Er hätte kein Problem damit, dass Israel oder ein anderes Land eine Lösung findet, um die Patienten irgendwohin zu bringen, wo sie am Leben bleiben können, betonte er im Interview mit Shlomi Eldar. Dieser kommentierte, es bestehe kein Zweifel,
„dass wir [die Israelis], wenn das Militär und der Sicherheitsdienst Shin Bet Informationen über Hamas-Tunnel unter Al-Schifa haben, daran arbeiten müssen, diese zu zerstören, genau wie alle anderen Tunnel oder Verstecke, die von den Führern dieser mörderischen Bewegung benutzt werden, die getötet werden müssen“,
und ergänzte:
„Aber wir haben auch die Pflicht, die Erwartungen der Menschen zu korrigieren, falls sich der Berg als Maulwurfshügel entpuppt.“
Schon am nächsten Morgen, am 15. November, drangen israelische Soldaten in einen Teil des Krankenhauses ein. Mitarbeiter des Krankenhauses berichteten gegenüber der BBC von der Anwesenheit von Panzern und mehr als hundert Soldaten auf dessen Gelände. Das israelische Militär behauptete später, sie brächten unter anderem Brutkästen und Babynahrung in das umkämpfte Krankenhaus. Im Laufe des Tages tötete das israelische Militär nach eigenen Angaben bis zu fünf Terroristen, die sie konfrontiert hätten.
Mit Stand 17. November gab es nach Einschätzung mehrerer Medien wie dem britischen Guardian und der New York Times noch keine hinreichenden Belege zu der Behauptung, dass es ein Hauptquartier bzw. Kommandozentrum der Hamas unterhalb der Klinik gebe.
Am Abend des 21. November veröffentlichte das israelische Militär zwei Fotos, welche das Aufbrechen einer Sprengtür/Stahltür belegen sollten. Sie sei zuvor am Ende des Tunnels gefunden worden, der sie mit Hamas-Anlagen unter dem Krankenhaus verbinden sollte.
Am 23. November verhaftete das israelische Militär nach eigenen Angaben Mohammed Abu Salamia, den Direktor des Schifa-Krankenhauses. Das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium teilte mit, dieser sei auf dem Weg vom nördlichen Teil des Gazastreifens in den Süden gewesen. Abu Salamia war demnach mit weiteren Ärzten unterwegs.
Bereits nach dieser ersten israelischen Erstürmung war das Krankenhaus nicht mehr betriebsfähig, Patienten und medizinisches Personal mussten evakuiert werden.
Die monströse Operation gegen das Krankenhaus erwies sich in militärstrategischer Hinsicht vollends als „Schlag ins Wasser“, als am 21. Dezember eine veröffentlichte Analyse der Washington Post zu dem Schluss kam, dass die von Israel vorgelegten Materialien nicht den Nachweis erbracht hätten, dass das Krankenhaus tatsächlich als eine Kommandozentrale der Hamas fungiert hätte. Die von den IDF-Truppen entdeckten Räume zeigten keine unmittelbaren Hinweise auf eine militärische Nutzung durch die Hamas, keines der fünf von IDF-Sprecher Hagari identifizierten Krankenhausgebäude schien mit dem Tunnelnetzwerk verbunden zu sein, und es gebe keine Hinweise darauf, dass die Tunnel von den Krankenstationen aus zugänglich waren.
Im März 2024 erfolgte eine zweite Razzia durch die israelischen Streitkräfte (IDF). Diese dauerte zwei Wochen bis Anfang April. Israel begründete die erneute Erstürmung mit einer angeblich erneuten Verschanzung von Hamas-Kämpfern im Krankenhaus. Rund 200 Hamas-Kämpfer seien dort laut IDF getötet und 900 „Verdächtige“ festgenommen worden. Laut Augenzeugen wurden dutzende Zivilisten bei den Kämpfen getötet. Nach palästinensischen Angaben wurden mindestens 300 Leichen nach der zweiten israelischen Erstürmung auf dem Krankenhausgelände gefunden. Luftaufnahmen belegen, dass der Krankenhaus-Komplex größtenteils in Trümmern liegt.
Nach mehreren gescheiterten Versuchen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), das Krankenhaus in Augenschein zu nehmen, konnte erst am 5. April eine WHO-Delegation den Krankenhaus-Komplex besuchen, nachdem die israelische Armee nach ihrem zweiwöchigen Einsatz ihre Truppen von dort abgezogen hatte. Die Delegation zeigte sich erschüttert über den Zustand des Al-Schifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt. Es sei nach der Belagerung durch die israelische Armee „nur noch eine leere Hülle mit Menschengräbern“, schrieb WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus am 6. April auf X (Twitter). Die meisten Gebäude des Krankenhauskomplexes seien „weitgehend zerstört“. Das Al-Schifa-Krankenhaus sei „aufgrund des Ausmaßes der Verwüstung völlig funktionsunfähig“, erklärte die WHO. Es befinden sich demzufolge keine Patientinnen und Patienten mehr in der Klinik.
Die WHO-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter berichteten nach ihrem Besuch in der Klinik von Verwesungsgeruch und provisorischen Gräbern. Sie sahen nach eigenen Angaben auch Leichen, die nur teilweise begraben waren und deren Gliedmaßen noch aus dem Boden ragten. Unter Berufung auf den Direktor des Krankenhauses erklärte die WHO, dass die Patientinnen und Patienten während des israelischen Einsatzes auf dem Gelände „unter einem grausamen Mangel an Nahrung, Wasser, Gesundheitsversorgung und Hygiene“ gelitten hätten. Mindestens 20 Patientinnen bzw. Patienten seien gestorben. (ORF.at/Agenturen, 6. April 2024)
Der Militärsprecher Daniel Hagari räumte zwar die Zerstörung des Krankenhauses ein, machte aber die Hamas für die entstandene Zerstörung verantwortlich, da sie sich im Krankenhaus verschanzt, auf Soldaten geschossen und Aufforderungen, sich zu ergeben, abgelehnt hätte:
„Wir mussten auf die Gebäude schießen, um dem ein Ende zu setzen und die Terroristen zu töten“.
Der genaue Name des Krankenhauses, „Dar al-Schifa“, bedeutet übersetzt „Haus der Heilung“.
Die bittere Ironie an diesem mutmaßlichen Megaverbrechen der israelischen Armee wird an der Tatsache deutlich, dass diese grausame Operation im Al-Schifa-Krankenhaus nicht zu einem strategischen Vorteil für die Israelis geführt habe, resümierte der israelische Journalist und Militärexperte Amos Harel am 5. April. Überhaupt ähnle der gesamte lange Aufenthalt der IDF in Gaza, so Harel, zunehmend einer Szene aus dem Film „Apokalypse Now“ im Vietnamkrieg, als 1969 ein US-Patrouillenboot auf ein kleines Boot mit vietnamesischen Zivilisten stößt, die Gemüse transportieren, und die alarmierten Soldaten alle Passagiere zu Tode schießen.
Abschließend drängt sich die Frage auf, warum die IDF dennoch die Totalzerstörung des größten und wichtigsten Krankenhauses von Gaza-Stadt vollendet haben, obwohl sich das ursprünglich vorgegebene Angriffsziel längst als kolossaler Fehlschlag erwiesen hatte, nämlich die erhoffte Aushebung der Hamas-Kommandozentrale unter dem „Schutzschild“ von Al-Schifa, in der sich die Führer der Hamas sowie die höchsten Kommandanten des militärischen Flügels vermeintlich befänden. Die auf der Hand liegende Antwort wird durch Israels bisherige Kriegspolitik – ebenso im Westjordanland – eindrucksvoll bestätigt: Es geht dem rechtsextrem-ethnokratischen Regime in Jerusalem um nichts weniger als um eine „Endlösung der Araberfrage“ im gesamten „heiligen jüdischen Land“ zwischen Fluss und Meer. Nur eine rechtzeitige und entschlossene Intervention von außen könnte der Realisierung dieser wahnwitzigen rassistischen Absicht, ein ganzes Volk zu vernichten, Einhalt gebieten.
Fritz Weber, 22. April 2024. benaja [at] gmx.at
Dieser Beitrag ist Teil des Dossiers: „Im Schatten des Gaza-Kriegs auf dem Weg zum faschistischen Polizeistaat. Wie sich Israel nicht erst seit dem 7. Oktober seiner internationalen Verpflichtungen entledigt. Daten, Fakten, Zitate & Analysen“ (Fritz Weber 2024-04)