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Jüdischer und christlicher Antizionismus in Geschichte und Gegenwart


4. März 2024

Die Ablehnung eines jüdisch-politischen Staates – heutzutage als „Antizionismus“ bekannt – ist eine traditionelle rabbinische Position, die viel älter ist als der erst in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. aufgekommene politische Zionismus und seine Strategie der jüdischen Kolonisierung eines fremden Territoriums mit dem Ziel einer von nichtjüdischen Bewohnern „gesäuberten“, möglichst „araberfreien“ Staatsgründung.

Aber auch das – noch ältere – neutestamentliche Christentum ist infolge seines biblisch-messianischen Verständnisses vom „Reich Gottes“ entsprechend der Lehre und Schriftauslegung von Rabbi Jeschúa (Jesus) von Nazareth und der von ihm unterwiesenen Verfasser der neutestamentlichen Schriften essentiell und unmissverständlich „antizionistisch“.

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„In der Tat, wenn diese Trends nicht aufgehalten und der Prozess nicht umgekehrt wird, wird Israel am Ende die Warnung von Lord Nathaniel Rothschild wahr machen, der im August 1902 an Theodor Herzl schrieb:

‘Ich sage Ihnen ganz offen, dass ich die Errichtung einer reinen jüdischen Kolonie mit Schrecken betrachten würde. Es wäre ein Ghetto mit den Vorurteilen eines Ghettos; es wäre ein kleiner kleinjüdischer Staat, orthodox und illiberal, der die Nichtjuden und die Christen ausschließt.’

Shaul Arieli, 20. Juni 2018 (Ha‘aretz)

Inhaltsverzeichnis:

  1. Ist Antizionismus „antisemitisch“?
  2. Woher stammt das „biblische Judentum“?
  3. Die Entstehung des rabbinischen Judentums
  1. Der Zionismus als antijüdische Ideologie

Exkurs: Die Umdeutung des „Antizionismus“ zum Israel-bezogenen Antisemitismus“

  1. Zur Vorgeschichte
  2. „Israel-bezogener Antisemitismus“ als kompromittierender Kampfbegriff
  3. Die Folgen der Bedeutungsverschiebung
  4. Schlusswort
  1. Der Zionismus als antichristliche Ideologie
  1. Zusammenfassung und Schlussfolgerung

ANHANG: Der Werdegang der jungen israelischen Aktivistin Meital Yaniv vom Armeedienst zum antizionistischen Gesinnungswandel (Interview)

  1. Ist Antizionismus „antisemitisch“?

Entsprechend der antizionistischen Grundhaltung zweier jüdischer Hauptströmungen, erstens des traditionell-rabbinischen Judentums und zweitens des in der Tradition der Aufklärung stehenden humanistisch-progressiven Judentums, lehnen beide Judenheiten einen „exklusiv-jüdischen Staates Israel“ ab, weil – so im ersten Fall – die Gründung einer staatspolitisch-jüdischen Herrschaft einem für die Zukunft erwarteten messianischen König vorzubehalten sei oder – so in zweiten Fall – weil die Vorherrschaft (das Supremat) eines Volkes über ein anderes Volk grundsätzlich menschenrechts- und demokratiewidrig ist.[1] In beiden Strömungen wird daher der politische Zionismus mit seinen militaristischen Zielen und Methoden gegenüber ihrem Verständnis einer friedlichen jüdischen Religion als konterkarierend und zerstörerisch empfunden.

„Antizionismus“ im Sinne der Ablehnung einer politischen Staatsgründung mit dem Ziel der jüdischen Oberherrschaft über nichtjüdische Völker ist daher eine traditionelle rabbinische Position, die viel älter ist als der erst in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. aufgekommene politische Zionismus und seine Strategie der Kolonisierung eines fremden Territoriums mit dem Ziel einer von nichtjüdischen Bewohnern „gesäuberten“, möglichst „araberfreien“ jüdischen Staatsgründung.[2]

Um Antizionismus als „antisemitisch“ diskreditieren zu können, werden diesbezüglich zugrundeliegende Fakten und Hintergründe ausgeblendet und Begriffe anders definiert. Jedoch geht Antisemitismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen auf eine weit mehr als tausendjährige Tradition zurück, die absolut nichts mit der politischen Vision einer jüdischen Staatsgründung zu tun hat.

  1. Woher stammt das „biblische Judentum“?

Der folgenschwerste Irrtum den „Nahost-Konflikt“ betreffend beruht auf der Behauptung oder nicht hinterfragten Annahme, dass „das Judentum“, wie wir es heute kennen (bzw. zu kennen meinen), dasselbe sei wie das „biblische Judentum“ – das Judentum zu biblischen Zeiten bzw. zur Zeit Jesu im 1. Jh. unserer Zeitrechnung (CE). Doch nichts ist abwegiger als diese Annahme.

Der Begriff „Judentum“ ist ein feststehender Fachbegriff, der für die jüdische Religion steht, die sich aus dem ursprünglichen biblischen Glauben Israels erst nach 538 BCE entwickelt hat, lange nachdem jüdische Rückkehrer aus der babylonischen Gefangenschaft die mittlerweile persische Provinz Judäa wiederbesiedelt und den (587 BCE unter Nebukadnezar zerstörten) Tempel wieder aufgebaut hatten. In dieser Zweiten Tempelperiode begannen sogenannte „Schriftgelehrte“ (sophrim), verständliche Torah-Gebote – wie jenes zur Einhaltung der Sabbat-Ruhe – mit immer diffizileren, haarspalterischen Zusatzbestimmungen für das einfache Volk bis zur Unerträglichkeit im Alltag zu überladen.

Die diesbezügliche Auseinandersetzung zwischen Jesus von Nazareth und den rabbinischen Lehrern bestand vor allem darin, dass er ihnen ihre selbsterfundenen gesetzlichen Abweichungen vorhielt und sie, als sie daran festhielten, zu „blinden Blindenführern“ erklärte, die durch ihre außerbiblischen Überlieferungen „das Wort Gottes abgeschafft hatten“ (vgl. Mk 7,1-13) und so das Volk irreleiteten. Diejenigen jedoch, die sein Wort annahmen und ihm nachfolgten, lehrte er das unverfälschte Wort Gottes der Torah und vertiefte ihre Bedeutung wie etwa in der berühmten „Bergpredigt“ (Mat 5 bis 7). So belegte er anhand der Torah, dass das Gebot der Nächstenliebe nicht nur auf Stammesgenossen, sondern ebenso auf in Not geratene Feinde zu beziehen sei. So wird im alttestamentlichen Buch Exodus geboten (Exodus 23,4-5):

„Wenn du das Rind deines Feindes oder seinen Esel umherirrend antriffst, sollst du sie ihm unbedingt zurück­bringen. Wenn du den Esel deines Hassers unter seiner Last ‹zusammengebrochen› liegen siehst, dann lass ihn nicht ohne Beistand; du sollst ihn mitsamt jenem unbedingt aufrichten.“

Eines der berühmtesten Gleichnisse, mit denen Rabbi Jeschúa (Jesus) dies illustrierte und kontextualisierte, ist jenes vom „barmherzigen Samariter“ (Luk 10,25-37). Nichtsdestoweniger stand diese korrekte Anwendung der Torah in diametralem Gegensatz zur chauvinistischen Lehre seiner Widersacher, der pharisäischen Gesetzeslehrer (vgl. Luk 11,52f). In seiner Zurückweisung der Sonderlehren des damaligen Judentums unterschied er zwischen drei Hauptströmungen und nannte sie entsprechend ihrer verderblichen Verbreitung im Volk „Sauerteig“ der Pharisäer, der Sadduzäer und der Herodianer.

So gesehen war das „biblische Judentum“ der Zweiten Tempelperiode nicht mehr „biblisch“, sondern antibiblisch und verdorben, und endete dementsprechend mit dem einschneidenden heilsgeschichtlichen Ereignis der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und dem angekündigten Ende des überkommenen levitischen Opferdienstes im Jahr 70 CE.

  1. Die Entstehung des rabbinischen Judentums

Generell gilt, dass Menschen, die sich heutzutage als „jüdisch“ identifizieren – seien sie orthodox, konservativ, liberal-progressiv, agnostisch oder atheistisch –, Anhänger einer grundlegend veränderten jüdischen Religion sind (oder deren Nachkommen): Darum wird zur Unterscheidung vom Judentum der Zweiten Tempelperiode die jüdische Religion, die danach entstand (ab dem 2. Jh.), in der Fachwelt „rabbinisches Judentum“ genannt (auch: „Rabbinismus“). Es waren die überlebenden Rabbinen der pharisäischen Strömung und ihre Nachfolger, die eine weitgehend neue jüdische Religiosität schufen, um den untergegangenen Tempelopferdienst durch andere, außerbiblische Riten und Gebräuche zu ersetzen.[3] Insbesondere sammelten sie die alten überlieferten Bestimmungen (aufgrund derer Jesus ihren geistigen Vätern vorgeworfen hatte, „das Wort Gottes abgeschafft“ oder ersetzt zu haben, s. o.), verdichteten sie mit noch weiteren Verhaltensvorschriften („Mischna“), erörterten sie dialektisch hin und her („Gemara“) und ergänzten dieses Konvolut mit legendenhafte Erzählungen („Aggada“). Als Ergebnis dieses generationenlangen Prozesses entstand der „Talmud“ babylonischer und Jerusalemer Tradition (bT und jT) – eine umfangreiche Bibliothek, die in der deutschen Übersetzung nach Lazarus Goldschmidt samt Anmerkungen zwölf Bände zu je ca. tausend Seiten umfasst. Nach rabbinischer Lehre bilden diese und weitere Schriften neben der schriftlichen Torah die „mündliche Torah“, die Mose am Berg Sinai von Gott mündlich (!) übergeben und bis in ihre Zeit geheim gehalten worden sei (so behaupteten es die Rabbinen nachträglich, um dadurch ihre Autorität zu „legitimieren“). In der vorgeschriebenen religiösen Praxis werden sie höher geachtet als die schriftlich überlieferte hebräische Bibel selbst (im Judentum als Tanach, im Christentum als Altes Testament bekannt).

Das orthodox-rabbinische Judentum versteht sich als Übergangsreligion bis zum „Kommen des Erlösers“ und der „Erlösung“. Darum erachtet die (Ultra-) Orthodoxie (anders als der religiöse Neozionismus) den politisch-jüdischen Staat nicht als „Erlösung“, sondern als dessen Gegenteil, nämlich als das immer noch andauernde, unterdrückerische „Exil“. Dieses sei ihnen als Buße für ihre Sünden auferlegt, bis der Messias selbst sie erlösen werde.

  1. Der Zionismus als antijüdische Ideologie

Der Zionismus ist eine durch nichtreligiöse sozialistische Juden im Osteuropa des neunzehnten Jahrhunderts entstandene politische Ideologie mit dem Ziel einer rein „jüdischen“ Staatsgründung, wobei sich bald das historische Palästina als Sehnsuchtsort säkular-jüdischer Kolonisierung durchsetzte. Sowohl von der damaligen orthodox-rabbinischen als auch von der assimilierten europäischen Judenheit wurden die zionistischen Ziele strikt abgelehnt. Beide betrachten einen allein „den Juden gehörenden zionistischen Staat“ als „antijüdisch“ – sowohl gegen die jüdische Religion[4] als auch gegen ihre Bemühungen um Anerkennung gleicher Bürgerrechte in der nichtjüdischen Gesellschaft gerichtet. Beide warnten vor der Gefahr, dass das Ziel einer Staatsgründung antijüdische Ressentiments unter den Nationen auslösen könnte.[5] Beide betrachten das Judentum – sowohl das orthodoxe als auch das reformorientierte – nicht als politische, sondern als rein religiöse Kategorie.[6] Beide erachten daher den politischen Zionismus als Angriff auf ihre jüdisch-religiöse Identität und begründen damit ihre antizionistische Grundhaltung.

Doch im Laufe ihrer Geschichte haben die maßgeblichen Zionisten, insbesondere seit dem Holocaust, die Deutungshoheit dessen an sich gerissen, was „jüdisch“ und was „antisemitisch“ sei, indem sie – geschichtswidrig – „jüdisch“ mit „zionistisch“ identifizieren. Mit dieser raffinierten Propagandastrategie haben sie den Zionismus zur totalitären, einzig zulässigen jüdischen Identität erhoben, sodass sie meinen, all diejenigen zu „Antisemiten“ erklären zu können, die sich den Zielen und Methoden ihrer zionistischen Macht- und Kriegspolitik verschließen.

 

Exkurs:
Die Umdeutung des „Antizionismus“ zum „Israel-bezogenen Antisemitismus“

  1. Zur Vorgeschichte

In den Oslo-Verträgen zum Nahost-Friedensprozess der 1990er Jahre war festgelegt worden, dass der Staat Israel die militärische Besatzung der palästinensischen Gebiete etappenweise reduzieren und bis Ende des Jahrzehnts beenden sollte,[7] um die Gründung eines unabhängigen Staates in den Grenzen von 1967 zu ermöglichen.

Als aber der Staat Israel diesen Rückzug durch seine Politik immer wieder hinausgezögert und gleichzeitig die völkerrechtlich illegale jüdische Besiedlung jenseits der „Grünen Linie“ (die Waffenstillstandslinie von 1949) mit Mitteln des Landraubs weiter forciert hatte und daraufhin im Jahr 2000 auch die Camp David II-Verhandlungen für einen Friedensvertrag ergebnislos scheiterten, unternahm der damalige israelische Oppositionsführer Ariel Scharon am 28. September 2000 unter dem Schutz zahlloser Sicherheitskräfte einen Besuch auf den Jerusalemer Tempelberg, um damit den Anspruch Israels auf das gesamte Stadtgebiet deutlich zu machen.[8] Das führte zu einem mehr als vierjährigen blutigen Konflikt im gesamten Westjordanland und im Gazastreifen: zu der Zweiten Intifada. Dieser Aufstand wurde von den Israel Defense Forces (IDF) mit hohem Gewalteinsatz systematisch niedergeschlagen[9] und endete im Februar 2005 mit einem zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) im ägyptischen Scharm el-Scheich ausgehandelten Waffenstillstand.

Für die palästinensische Zivilgesellschaft – seit 1967 einer zunehmend unterdrückerischen israelischen Militärherrschaft unterworfen und ohne Aussicht auf Selbstbestimmung – blieb die bittere Einsicht, dass es ohne Druck von außen keine Hoffnung auf Änderung dieses Zustands geben werde. So kam es, dass demokratisch gesinnte palästinensische Aktivisten in einem Aufruf am 9. Juli 2005 gewaltfreie Strafmaßnahmen forderten, bis der Staat Israel seiner Pflicht nachkäme, das unveräußerliche Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung anzuerkennen und das internationale Recht (Völkerrecht) zu respektieren. Dieser Aufruf führte zu einer gewaltfreien internationalen Kampagne durch Mittel wie Boykotte, Investitionsrücknahmen und Sanktionen in Anlehnung an die Boykottmaßnahmen gegen das seinerzeitige rassistische Apartheid-Regime in Südafrika, um die israelische Politik zum Einlenken zu bringen, die völkerrechtswidrige Besatzung und Besiedlung endlich zu beenden und einen gerechten Frieden im Nahen Osten zu schaffen. Dieser Kampagne schlossen sich immer mehr israelische und nichtisraelische Menschen an wie etwa die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ (European Jews for a Just Peace, EJJP). Durch diese Kampagne[10] wurde die israelische Administration zunehmend alarmiert, sodass sie international weitreichende, massive Abwehrmaßnahmen – insbesondere propagandistischer Art – entwickelte. Dazu wurde 2006 das „Ministerium für strategische Angelegenheiten und Hasbarā“ gegründet.[11] Es wurde 2015 wesentlich erweitert und wird mit jährlich zigmillionen Dollar hochdotiert.[12]

  1. „Israel-bezogener Antisemitismus“ als kompromittierender Kampfbegriff

Als eines der wirkmächtigsten Gegenmittel Israels zur Abwehr von Kritik an seiner Politik der dauerhaften „Verwaltung“ der besetzten Gebiete hat sich das Schlagwort vom „Israel-bezogenen Antisemitismus“ herausgestellt. Die „Erklärungsstrategie“ stellt sich wie folgt dar (Hervorh. FW, so auch nachfolgend).

„Israelbezogener Antisemitismus“, so lautet die „Erklärung“, sei eine „moderne Form der Judenfeindschaft“ bzw. „des alten Judenhasses: eine feindselige, von Ressentiments geleitete Einstellung gegenüber Juden und dem Judentum.“ Dabei – so die Unterstellung – „projiziert der israelbezogene Antisemitismus entsprechende antisemitische Ressentiments auf den jüdischen Staat Israel.“ Dies nennt die Hasbarā „verbalantisemitische Umwegkommunikation“: Antisemitismus werde, so die Behauptung, „zur ‘Israelkritik’ umdefiniert“. [Anm.: Die Erwähnung der ‘Israelkritik’ wird dabei stets polemisch unter Anführungszeichen gesetzt.] Ebenso sei die Bezeichnung „’die Zionisten’ mittlerweile eine nahezu universell eingesetzte Chiffre für ‘die Juden’.

„Israel-bezogener Antisemitismus“ sei, so die Behauptung, „in fast allen Formen heutiger Judenfeindschaft präsent“. Dabei wird „antizionistische Feindschaft“ durch „israelfeindlichen Antisemitismus“ interpretiert und mit dem „Wunsch nach Vernichtung Israels“ gleichgesetzt – die „empirische Korrelation von Israelfeindschaft“ sei „robust und sehr hoch“.

Schlüsselsatz der „Erklärung“ einer „anders denkenden“ Online-Plattform für „antisemitismuskritische Bildungsarbeit“ lautet:

„Antisemitischer Antizionismus oder israelbezogener Antisemitismus sind verschiedene Bezeichnungen für eine aktuelle Variante der Judenfeindschaft.“

Das gelte ebenso für den „antizionistischen Antisemitismus“. Um nicht allzu pauschal urteilend zu erscheinen, heißt es gegen Ende der „Erklärung“ scheinbar einschränkend:

„Nicht ausgewogene und damit durchaus problematische Sichtweisen auf den [Nahost-] Konflikt müssen nicht in jedem Fall auch antisemitisch sein.“

  1. Die Folgen der Bedeutungsverschiebung

Wie erwähnt, hatten es die zionistischen Protagonisten im Verlauf des 20. Jhs. geschafft, fast die gesamte Judenheit auf die zionistische Staatsdoktrin einzuschwören und ihr diesen fundamentalen Paradigmenwechsel der einzig „legitimen“ Deutung dessen aufzuzwingen, was unter „Judentum“ und „jüdisch“ zu verstehen sei.[13] Mittlerweile haben sie in großer Zahl auch religiöse Juden auf ihre Seite gezogen – und radikalisiert! Wer sich diesem Deutungsdiktat nicht – mehr oder weniger kritiklos – unterwirft, wird vom Establishment nicht nur als „antizionistisch“, sondern auch als „antisemitisch“ kompromittiert und sogar – im Fall von regierungskritischen Juden – eines „jüdischen Selbsthasses“ bezichtigt.[14]

Indem die Hasbarā-Lobbyisten unterstellen, dass ‘die Juden’ „nahezu universell“ mit ‘den Zionisten’ chiffriert werden (Zitat s. o.),[15] haben sie damit jederzeit eine Handhabe, nach Belieben jemanden, der den Zionismus (bzw. ‘die Zionisten’) kritisiert, unhinterfragt als „antisemitisch“ zu brandmarken.[16]

Aus der Begriffsverschiebung, „jüdisch“ nunmehr als Bezeichnung für die jüdische „Nation“ und „zionistisch“ ohne Bezug zur jüdischen Religion festzulegen, folgt, dass Verfechter des Antizionismus, indem sie Israel als zionistisch definierten Staat bzw. seine Identifizierung als ethnokulturell homogene Staatsform ablehnen, als „antijüdisch“ bzw. „antisemitisch“ gebrandmarkt und beschuldigt werden können, die „Zerstörung Israels“ (!) zu fordern, wenn sie für den Übergang zu einer egalitären demokratischen Gesellschaft aller Staatsbürger bei gleichen Rechten und einer klaren Trennung von Religion und Staat mit uneingeschränkter Religionsfreiheit plädieren.

Dieser Vorwurf könnte auch gegen solche gerichtet werden, die für eine Abänderung des einseitig religiös-affinen Staatsnamens „Israel“, plädieren. Ein nicht geringer Anteil der Bevölkerung sind keine Juden (heute rund ein Viertel des Staatsvolkes, Tendenz steigend). Die säkularen Gründer des „jüdischen“ Nationalstaates hatten sich erst im letzten Augenblick für den Namen „Israel“ entschieden (unter anderem war auch „Judäa“ diskutiert worden). Diese Namenswahl trug zum Gründungsmythos in der Weltöffentlichkeit bei, der suggerierte, dass die Unabhängigkeitserklärung am 14. Mai 1948 eine Wiederaufrichtung des antiken Reiches der zwölf Stämme Israels gewesen sei.

Nichts ist abwegiger als das, war doch dieses politische Reich mehr als 2.700 Jahre davor unter den assyrischen Eroberungen und nach unwiederbringlichen Deportationen der nördlich angesiedelten Stämme untergegangen, und genau dieses Ende war auch von den israelitischen Propheten wie Amos und Hosea jahrzehntelang davor angekündigt worden.[17] Die Verwendung des Namens „Israel“ für den zionistischen Staat ist daher ein bizarrer Anachronismus und stellt darüber hinaus eine irreführende Vereinnahmung eines Namens dar, der ausschließlich dem biblischen Volk und seinem messianischen Spross aus dem Hause Davids vorbehalten war.

d) Schlusswort

Dieser Exkurs zum Begriff „Israel-bezogener Antisemitismus“ – synonym als „antizionistischer Antisemitismus“ propagiert – soll einen der wirksamsten und aggressivsten Kampfbegriffe beleuchten, mit denen die israelischen „Hasbarā“-Strategen daran arbeiten, politische Demokratiebewegungen zu kompromittieren und legitime Boykottbewegungen und Sanktionsforderungen mit dem Ziel des Endes der Besatzung zu delegitimieren und kriminalisieren.[18]

Wahr hingegen ist: Nicht erst die 2018 in Haifa gegründete jüdisch-palästinensische Kampagne One Democratic State Campaign (ODSC) zur Gründung eines einzigen, gemeinsamen, religiös neutralen demokratischen Staates, sondern bereits der Bi-Nationalismus friedensmotivierter vorstaatlicher Strömungen war ein Konzept gleichberechtigter Koexistenz zwischen Juden und Arabern, wie es z. B. von Martin Buber und „Brit Schalom“ („Friedensbund“) vertreten wurde und später auch der prominente palästinensische Kulturwissenschaftler Edward Said (1935-2003) als „antizionistische“ Vision übernahm.[19] Auch der israelische Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Miko Peled plädiert für die Schaffung einer einheitlichen Demokratie mit gleichen Rechten im gesamten historischen Palästina. Dies führte er am 31.01.2024 in einer leidenschaftlichen Rede bei einem Roundtable-Gespräch im EU-Parlament aus.

Exkurs Ende.

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  1. Der Zionismus als antichristliche Ideologie

Auch das neutestamentlich-jüdische Christentum (anfänglich eine rein jüdisch-messianische Jeschúa-Bewegung, vgl. Apg 1-9) ist infolge seines biblisch-messianischen Verständnisses vom „Reich Gottes“ entsprechend der Lehre und Schriftauslegung von Rabbi Jeschúa (Jesus) von Nazareth und der von ihm unterwiesenen Verfasser der neutestamentlichen Schriften essentiell und unmissverständlich „antizionistisch“. Wie das pharisäische Judentum ist auch dieses aus der Endzeit der Zweiten Tempelperiode (516 BCE bis 70 CE) hervorgegangen, während alle anderen jüdischen Strömungen wie der Sadduzäismus und das Herodianertum untergegangen sind.

Doch wie erklärt sich dann eine seit dem 19. Jh. in der Christenheit wachsende zionistische Strömung? Die einfache Antwort lautet: Ihre Vertreter nehmen für ihre Sicht der „letzten Dinge“ an rabbinischen Vorstellungen Anleihe und geben ihnen den Vorrang gegenüber der Lehre des Neuen Testaments über das Reich Gottes (s. o.). Demnach handelt es sich beim „christlichen Zionismus“ um eine ideologische Gemengelage mit (1) alttestamentlichen Passagen, die – unter Nichtbeachtung neutestamentlicher Aussagen, die darauf Bezug nehmen – in die Zukunft projiziert werden, (2) spätjüdisch-apokalyptischen Vorstellungen und (3) einigen wenigen neutestamentlichen Schriftstellen, die aus dem Kontext herausgelöst und in ihr vorgefasstes hermeneutisches System scheinbar „passend“ eingebaut werden.[20] Dies alles wird eklektisch als Vehikel benutzt, um damit (4) zufällige geopolitische Entwicklungen und Ereignisse – vornehmlich im Nahen Osten – zu „synchronisieren“ und „biblisch zu belegen“.[21] Es handelt sich also unübersehbar um einen klassischen argumentativen Zirkel: „belegt“ wird, was zuvor vorausgesetzt wurde. Das Ergebnis ist ein hybrider, antichristlicher „Endzeit“-Mythos mit falschprophetischen Merkmalen. Die Fallbeispiele solcher – meist eifrig publizierten – Spekulationen „christlicher Zionisten“ – insbesondere seit der zionistischen Staatsgründung im Jahr 1948 – sind zahllos.[22] Nirgends im Neuen Testament findet sich auch nur der geringste Anhaltspunkt dafür, dass das im Alten Testament geweissagte „Reich Gottes“ in der messianischen Erfüllung eine politisch-militärische Macht sein werde, ganz im Gegenteil (Joh 18,36).[23]

Nicht zuletzt ist allein schon die Bezeichnung „Zionismus“ für neutestamentlich orientierte Christen ein herausfordernder Anstoß, weil damit eine alttestamentlich-messianischen Weissagung missbraucht wird.

Nota bene: „Zion“ in der Vollendung kann sich nicht in einem irdischen Land erfüllen, das heilsgeschichtlich seit bald 2000 Jahren bedeutungslos geworden ist. Während der politische „Zionismus“ eine nationalistische Sammelbewegung zu einem „niedrigen“, vergänglichen Territorium ist (das immer wieder befleckt und erschüttert wird), vollzieht sich die biblisch-neutestamentliche Sammelbewegung einer „Nation“ in einem tieferen Sinn (1Pet 2,9-10) zu einem hohen, unvergänglichen, unbefleckten und unverwelklichen Erbe (vgl. 1,3-4), einer „unerschütterlichen Heimat“. Ihr Zentrum ist nach dem übereinstimmenden Zeugnis der Schriften der vom Tode aufweckte und in der Herrlichkeit des lebendigen Gottes erhöhte Messias und Erlösers Jeschúa: So beginnt und so endet auch der (in Fußnote 23 zitierte) Hebräerbrief (vgl. 12,22-24).

  1. Zusammenfassung und Schlussfolgerung

1.  Kritiker der israelischen Besatzung als Antisemiten zu bezeichnen, entspricht einer gezielten Propagandastrategie der zunehmend rechtsextrem-faschistischen zionistischen Politik. Nach diesem Schema muss jeder, der Israels Politik gegenüber den Palästinensern und der Besatzung kritisiert, sofort als „Terrorbefürworter“, „Antisemit“ oder „Judenhasser“ abgestempelt werden. (Dazu auch Fußnote 26.)

2.  Aus biblisch-historischer – sowohl alt- als auch neutestamentlicher – Sicht hat der Anspruch säkularer wie auch religiös-zionistischer Judenheiten auf exklusive Wohn- und Besitzrechte im historischen Palästina gegenüber traditionellen nichtjüdischen Bewohnern keine Basis, zumal dabei die Nichtunterscheidung zwischen „biblischem“ (vor 70 CE) und dem später begründeten rabbinischen Judentum vorausgesetzt sowie die Geschichte des rabbinischen Proselytismus ausgeblendet wird. Dadurch wird eine Kontinuität des „jüdischen Volkes“ der frühen Antike bis zur Durchsetzung der zionistischen Ideologie im 20. Jh. vorgetäuscht, die in Wirklichkeit nicht existiert.

3.  Diese geschichtsnarrative Vernebelung beherrscht nach wie vor den Diskurs um den „Nahost-Konflikt“ und seine verheerenden Auswirkungen und unterstützt scheinbar die Behauptung religiöser Neozionisten,[24] dass – so ihre Sprachregelung – „das jüdische Volk das biblische und historische Recht auf den Besitz des Landes“ habe.[25] Wahr ist hingegen, dass die Vereinnahmung der biblischen „Zions“-Verheißung durch die Zionisten – jüdischer ebenso wie christlicher Provenienz – mit all ihren unrechtmäßigen Ansprüchen (etwa der Enteignung und Vertreibung der indigenen Bevölkerung von ihrem Landbesitz) einen veritablen Götzendienst bedeutet. Besonders offensichtlich ist dies, wenn der zionistische Prozess als „Wunder gegen jede Wahrscheinlichkeit“ gefeiert und einer „göttlichen Hand“ zugeschrieben wird – im Klartext: ein „Tanz ums Goldene Kalb“ durch die Apotheose des „jüdischen Staates“! Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.

4.  Säkulare wie religiöse Zionisten stehen in eklatantem Widerspruch sowohl zum (1) traditionell-orthodoxen als auch zum (2) humanistisch-progressiven Judentum, ebenso wie zum (3) historischen Christentum der Urgemeinde, die eine qualitative, wesensmäßige Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden ausdrücklich verneinte, entsprechend einer antizionistischen und antirassistischen Position.

5.  Definitionsgemäß entspricht daher die Ablehnung eines exklusiv „jüdischen Staates Israel“ einer antizionistischen, egalitären Grundhaltung. Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen, bedeutet dagegen nichts weniger als eine diffamierende, geschichtswidrige Hetzpropaganda der Pro-Zionismus-Lobby zur Verschleierung der „Groß-Israel“-Phantasien israelischer Macht- und Kriegspolitik.[26]

Fritz Weber, 26. Februar 2024, benaja [at] gmx.at

 

ANHANG

Ein Beispiel engagierter antizionistischer Initiative ist Meital Yaniv, eine junge Israelin und ehemaligen Soldatin der Israel Defense Forces (IDF). Sie ist Mitgründerin einer Gruppe von antizionistischen Israelis mit Sitz in den USA namens „Shoresh“, die sich für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit für alle Menschen zwischen dem Jordanfluss und dem Meer einsetzen („from the river to the sea“).

Ihre Vision stellt das Regime der gewaltsamen Unterdrückung der Palästinenser, der Apartheid und der jüdischen Vorherrschaft in Frage und bietet stattdessen eine Vision der jüdischen und palästinensischen Sicherheit und Befreiung von Zionismus und Militarismus. Sie fordern, dass alle Einwohner unabhängig von Religion, Nationalität, Geschlecht oder Fähigkeiten an einem Leben in Sicherheit, Würde und Gleichheit teilhaben können, in dem Palästinenser und Israelis volle und gleiche Bürgerrechte haben, sowie ein Rückkehrrecht für alle Palästinenser und die Heilung der palästinensischen und jüdischen Gemeinschaften nach Jahrzehnten der Gewalt.

“Shoresh” lehnt die siedler-kolonialen und zionistischen Mythen über die Ansprüche auf das Land ab, die versu­chen, die Entwurzelung der Palästinenser zu legitimieren.

In einem bewegenden Interview schilderte Meital Yaniv im Jänner 2024 ihren Werdegang vom Armeedienst zum antizionistischen Gesinnungswandel, nachdem der Zionismus ihre jüdische Identität zu zerstören drohte.

 

 


[1]  Am 19. Juli 2018 wurde im israelischen Parlament (Knesset) unter einer rechtsnationalistisch-orthodoxreligiöser Regierungskoalition nach achtstündiger Debatte mit der hauchdünnen Mehrheit von 62 Stimmen (von 120) das „Nationalstaatsgesetz“ (nation state law) als Grundgesetz (basic law) zum jüdischen Nationalstaat verabschiedet. Der erste Gesetzesvorschlag dazu war bereits 2011 eingebracht worden, und bis zuletzt wurden Debatten und heftige Kontroversen darüber geführt. Damit wurde aus der Sicht liberaler Israelis die Entwicklung zur „illiberalen Demokratie“, wenn nicht zum (Proto-) Faschismus fortgeführt. Diese hatten bereits 2013 vor dieser Entwicklung gewarnt (vgl. Or Kashti: “Israel’s New Jewish Identity Initiative Based on Fascist Values, Consultant Warns”, Ha’aretz Jul 10, 2013). So ist die Identität des Staates Israel seit 2018 als jüdische Ethnokratie festgeschrieben. Einer der Schlüsselsätze dieses nationalistischen Grundgesetzes lautet:
   „Die Ausübung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung im Staat Israel ist einzig [unique] für das jüdische Volk.“ (§ 1(c))

[2]  Mehr darüber: „Schikanieren, vertreiben, töten – 100 Jahre Genozid am palästinensischen Volk. Die wahre Geschichte des real existierenden Zionismus – der rote Faden von 1920 bis 2020. (Mit Augenzeugenberichten)“ (2020)

[3]  Als Ersatz für den verlorenen Tempel gilt nach rabbinischer Festlegung: Gebet, Talmud-Studium (für Frauen verboten) und Buße (gute Werke).

[4]  Von Anfang an waren die jüdischen Kolonisten aus Osteuropa, deren Ziel nun anstatt der Torah eine säkulare Sammelbewegung nach „Zion“ war (unter missbräuchlicher, kontextwidriger Instrumentalisierung von Jesaia 2,3a), auf die erbitterte Ablehnung der alteingesessenen frommen Juden des überwiegend arabischsprachigen „alten Jischuv“ gestoßen, insbesondere in Jerusalem. Sie lehnten die Einwanderung und die Torah-widrigen Ziele des „neuen Jischuv“ und ihrer „Pioniere“ (hebr. Chalutzim) als völlig andere, „unjüdisch“-sozialistische Ideologie vehement ab.

[5]  Dazu ein Beispiel. Der erste Groß-Rebbe der Satmar-Dynastie, Joel Teitelbaum (1887-1979), ein erbitterter Gegner des Zionismus, den er als ketzerisch und sektiererisch abtat, schrieb (Hervorh. FW):

„Die Gefahr für das jüdische Volk besteht deshalb, weil Unreligiöse und Häretiker die Führer des jüdischen Volkes sind. Durch sie werden die Nationen der Welt dazu verleitet, Juden zu hassen. Deshalb ist es eine großartige Sache, wenn man gegenüber den Nationen selbstlos erklärt, dass die Zionisten nicht die Repräsentanten des jüdischen Volkes sind und dass religiöse Juden keinerlei Beziehungen mit ihnen unterhalten. […] Es ist unsere Pflicht, dies bekannt zu machen, bis jeder versteht, dass die Zionisten nicht die Nation von Jisrael sind, und es ist bestimmt unsere heilige Pflicht gegenüber den Nationen zu erklären, dass die Zionisten nicht die Sprecher des Volkes Jisrael sind.“

[6]  In einem Text, der Rabbi Abram Blau in Jerusalem am 17. Jänner 1974 zugeschrieben wird, heißt es: „Nur über die Torah ist das jüdische Volk zu identifizieren. Judentum hat nichts mit Nationalismus zu tun!“

[7]  Doch schon viel früher, in der einstimmig beschlossenen Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats am 22. November 1967, war Israel verpflichtet worden, seine Streitkräfte „aus Gebieten“, die es im Sechstagekrieg besetzt hatte, abzuziehen (1.i). Gleichzeitig sollte „eine gerechte Regelung des Flüchtlingsproblems herbeizuführen“ sein (2.b).

[8]  Dies kommentierte der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Volker Perthes, folgendermaßen: „Scharon wollte damit zeigen, dass Jerusalem israelisch bleibt und dass nicht nur Jerusalem, der säkulare Teil der Stadt, sondern eben auch die heiligen Stätten des Islam israelisch bleiben. Das war eine Provokation, und sie hat genau das erzielt, was sie vielleicht auch erzielen sollte, nämlich den Zorn auf der anderen Seite, bei den Palästinensern, zu erhöhen.“ (Zitiert in: „Fataler Besuch auf dem Tempelberg“, Deutschlandfunk 28.09.2010)

[9]  Am 7. März 2002 hatte das Rabbinatsgericht der „ultra-orthodoxen“ Gemeinde Jerusalems diese „ernste Warnung“ gegen das rücksichtslose, gewaltsame Vorgehen der zionistischen Streitkräfte in Umlauf gesetzt:

„Wir beobachten mit großer Sorge Provokationen von Wilden gegen Araber, wodurch die gesamte jüdische Gemeinschaft im Heiligen Land in Gefahr gebracht wird. Diese wilden Aktionen werden von Provokateuren mit der Absicht durchgeführt, die ultraorthodoxe Gemeinde in diese Provokationen hineinzuziehen, was zu einem katastrophalen und destruktiven Resultat für uns führen und die gesamte jüdische Gemeinschaft in schreckliche Gefahr bringen würde, G“tt behüte. Wir verurteilen und verdammen einstimmig und vollständig diese barbarischen Aktionen. Wir erklären hiermit auch, dass ultra-orthodoxe Juden keine Verbindung zu Provokationen gegen Araber haben.“

[10] Referenzen: (1) Diana Carminati/Alfredo Tradardi: „Israel-Boykott: Gewaltloser Kampf gegen die Israel-Apartheid“ (2011). (2) Eyal Sivan/Armelle Laborie: „Legitimer Protest. Plädoyer für einen kulturellen und akademischen Boykott Israels“ (2018).

[11] Der Begriff „Hasbarā“ (hebr. „Erklärung“) beschreibt ein Instrument der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung Israels, um international eine positive Berichterstattung über Israel und seine politischen Anliegen zu fördern (Public Diplomacy). Schwerpunkt des Aufgabenbereichs ist der internationale Kampf gegen die pro-palästinensische Initiative Boycott, Divestment and Sanctions (BDS). Dabei arbeitet es in Abstimmung u. a. mit pro-israelischen Organisationen weltweit mit offenen und versteckten Methoden gegen Organisationen und Einzelpersonen, die zu Protestmaßnahmen gegen Israels Politik gegenüber den Palästinensern aufrufen. (Wikipedia)

[12] Eine weitere, allerdings kaum erfolgreiche Strategie zionistischen Denunziantentums war der Versuch, palästinensische Menschenrechts- und Hilfsorganisationen der Beihilfe zu Terrororganisationen zu bezichtigen, um internationale Regierungen und Organisationen zur Einstellung ihrer Unterstützung zu veranlassen. Auf Basis des drastischen israelischen „Antiterrorismus“-Gesetzes 2016 (Art. 24a) hatte Verteidigungsminister Benny Gantz am 22. Oktober 2021 einen Erlass unterzeichnet, in dem sechs zivilgesellschaftliche Organisationen im Westjordanland zu „terroristischen Organisationen“ erklärt wurden. Letztlich blieb dies allerdings ein „Rohrkrepierer“, weil die behördlichen Denunzianten der Aufforderung der USA und der Europäischen Union nicht nachkommen und keine schlüssigen Belege für ihre Behauptungen vorlegen konnten.

Zudem riefen in einem offenen Brief am 26. Oktober – wenige Tage nach Veröffentlichung des Benny Gantz-Erlasses – jüdische Israelis zur Unterstützung des Aufrufs palästinensischer Organisationen an die internationale Gemein­schaft auf, „konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die absurden Einstufungen Israels zurückzunehmen“. Einen Tag später, am 27. Oktober, verurteilten auch 252 Menschenrechtsnetzwerke und -organisationen die Entscheidung Israels gegen die sechs palästinensischen Organisationen der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte. Viele dieser 252 Menschenrechts-Netzwerke und -Organisationen inkludieren hunderte weitere Institutionen, sodass dies (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung) über 1300 Gruppen weltweit ergab, die diesen Aufruf repräsentieren. Mehr darüber: „Dossier eines Komplotts: ‘Systematische Diskriminierung Israels’ durch die UNO? Teil II – Hintergrund: Die Betreiber-Lobby und ihre Ziele“ (2021, unveröffentlicht).

Hintergrund des palästinenserfeindlichen Erlasses war wohl auch, dass Benny Gantz zusammen mit anderen israelischen Beamten unter ihm als Verteidigungsminister in den Akten genannt wird, die von Palästinensern dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) nach dem Krieg zwischen Israel und der Hamas im Jahr 2014 wegen Kriegsverbrechen vorgelegt worden waren.

[13] Zugleich wurde in der Öffentlichkeit mit gewaltigem Propagandaaufwand und Lobbyismus der zionistische Staatsgründungsmythos verbreitet. (Lesenswerter Klassiker dazu: Simcha Flapan: „Die Geburt Israels – Mythos und Wirklichkeit“, Zambon Verlag, Neuauflage 2015. Der Autor wertete die in den 1980ern geöffneten israelischen Militärarchive und das veröffentlichte Kriegstagebuch David Ben Gurions aus.)

Die Mitarbeiterin eines österreichischen Ministeriums erwähnte in einem Vortrag, wie eine Israel-Lobbyistin im Gespräch mit ihr versucht hatte, über deren Position Einfluss auf die Schulbuchgestaltung zu nehmen: Sie möge darauf hinwirken, so bat sie, dass Israel-Darstellungen vom Jordanfluss bis zum Mittelmeer in einer einheitlichen Farbe dargestellt werden. Die Vertreterin des Ministeriums lehnte dies jedoch ab.

[14] Nebenbei: Die Ironie dieser Umdeutung besteht darin, dass die Gründungsväter des Zionismus keinen jüdisch-religiösen, sondern einen säkularen Staat gründen wollten und daher eher sie selbst definitorisch als „antisemitisch“ – d. h. gegen das rabbinische Judentum als historische Religion gerichtet – zu gelten hätten.

[15] Wahr ist, dass „Zionisten“ und „Juden“ unterschiedliche Kategorien sind, die sich zwar überschneiden können, aber nicht müssen wie bei antizionistischen Juden und Christen.

[16] Im Dezember 2015 startete die rechtsextrem-zionistische NGO „Im Tirtzu“ eine Denunzierungskampagne mit dem Titel „Maulwürfe in der Kultur“, in der wichtige israelische Kulturschaffende – Gila Almagor, Amos Oz, David Grossman, A. B. Jehoschua, Chava Alberstein und Rona Kenan – als „Maulwürfe“ bezeichnet wurden. Guy Davidi, Produzent von “5 Broken Cameras“, der ebenfalls in dem Bericht genannt wurde, antwortete mit den Worten:

„Ich weise den Versuch entschieden zurück, Boykottmaßnahmen von Israelis als einen Akt des Verrats darzustellen. Meiner Ansicht nach sind Boykott und Divestment legitime politische Aktionen, die eine positive Art des Protests darstellen – eine positive Alternative zu gewaltsamen Aktionen, die ich entschieden verurteile. Es ist das Recht eines jeden Menschen, bestimmte Produkte zu boykottieren, wenn er mit der Herkunft oder der Art der Herstellung nicht einverstanden ist.“

Siehe auch: „Ist Kritik an Israels Gaza-Krieg ‘antisemitisch’?“ (2023)

[17] Bereits zur Zeitenwende (BCE > CE) waren wohl nur noch die wenigsten Juden in der Lage, die Stammeszugehörigkeit ihrer Ahnen anzugeben (am ehesten aus den Stämmen Juda und Benjamin sowie aus dem Priesterstamm Levi). Dass die zahlreichen Nachkommen der unter den Hasmonäer-Königen judaisierten Heidenvölker wie Edomiter und Ituräer keinerlei israelitische Vorfahren hatten, sei nur am Rande erwähnt. Ein Rückverweis der heutigen ethnisch hochgradig heterogenen Bevölkerung des modernen zionistischen Staates auf die antike Bevölkerung vor dem Fall Jerusalems 70 CE (oder gar ein unverfrorenes Pochen auf ein „biblisches und historisches“ Landrecht) kommt daher einem klassischen Etikettenschwindel gleich. Mehr darüber: „Die Demaskierung der zionistischen Abstammungslüge – Jüdischsein liegt nicht in den Genen. Das gescheiterte Projekt der zionistischen Genealogie-Forscher und die politischen Konsequenzen“ (2023)

[18] Mit der polemischen Gleichsetzung von „Antisemitismus“ und „Antizionismus“ agieren auch zionistische Spendensammel-Organisationen aus der evangelischen Welt. Einer der bekanntesten Aktivisten dieser Art aufgrund seiner Publikationen und Vorträgen ist der reformierte Pfarrer Willem J. J. Glashouwer, Präsident von „Christians for Israel International“ und Verfasser einer Reihe von Büchern wie „Warum immer wieder ISRAEL?“ mit dem Untertitel: „Vision von der Zukunft Israels und der Welt“. Dazu passend wurde ein siebenteiliger Grundkurs „Warum Israel?“ herausgegeben mit Kursbüchlein und ergänzenden (Israel-Propaganda-) Videos. Diesen kostenpflichtigen Kurs leitete der Theologie- und Geschichtestudent mit schweizerischen Wurzeln, Jonathan Mauerhofer, im Frühjahr 2013 in Wien und erklärte anhand des Teilnehmerhefts die darin gestellte Frage: „Was ist unter Antisemitismus zu verstehen?“. Als eines der „Kernelemente“ von Antisemitismus wird die „Ablehnung Israels“ genannt (allerdings ohne jede Erklärung, was dabei unter „Israel“ gemeint sein soll). Als „Synonyme“ für Antisemitismus werden aufgezählt: „Antijudaismus, Judenfeindschaft, Anti-Israelismus, Antizionismus“. Dazu wird präzisiert: „Der Antisemitismus – heute Anti-Israelismus – hat eine zutiefst geistliche Wurzel.“ Die hier kryptisch unterstellte „geistliche Wurzel“ bzw. ihr vorgeblicher „Inspirator“ wird an anderer Stelle beim Namen genannt: „Satan“. Daraus ergibt sich, dass aus der Sicht Jonathan Mauerhofers gemäß Glashouwers Lehre jemand, der eine antizionistisch-politische Ansicht vertritt, nicht nur „antisemitisch“, sondern von der „Wurzel“ her „satanisch“ beeinflusst sei.

[19] Edward Said wurde 1966 an der Columbia University, New York, Ordinarius auf Lebenszeit für Englische Literatur und Komparatistik (vergleichende Literaturwissenschaft). Said galt in den USA als wichtigster Fürsprecher der Rechte des palästinensischen Volkes. Damit wurde er auch zum Ziel feindseliger Aktionen. Er und seine Familie erhielten „unzählige Todesdrohungen“, wie er schrieb, und im Jahr 1985 wurde sein Büro als Professor an der Columbia University in Brand gesetzt. Zudem war er beständig Attacken und Verleumdungen von israelfreundlichen Medien wie dem Wall Street Journal ausgesetzt. Die Überzeugungskraft und Integrität Saids wurde durch seine vollständige Ablehnung von Terror und Gewalt wie auch des Irakkriegs von 2003 gestärkt. Neben anderen Ehrungen wurde Edward Said für seine Verdienste um die israelisch-palästinensische Aussöhnung 2002 gemeinsam mit Daniel Barenboim mit dem Prinz-von-Asturien-Preis ausgezeichnet.

[20] Diese theologiegeschichtlich junge Auslegungstradition aus dem 19. Jh. (genannt Dispensationalismus) wurde einem ausführlichen Fakten-Check unterzogen in: „Haben die Propheten des Alten Testaments das Zeitalter des Neuen Bundes vorausgesehen? (6 Fallbeispiele). Hermeneutische Untersuchung zu einer Grundfrage biblischer Prophetie.“ (1990, 2021). Die weltweite Verbreitung dieser Schriftauslegungstradition durch die sog. „Scofield-Bibel“ hat wie kaum eine andere christliche Häresie die evangeliumsorientierte protestantische Christenheit gespalten, vgl. „Die Spaltung der evangelikalen Christenheit durch den Einbruch der neozionistischen Ideologie“ (2021). Siehe auch: „Steht die „Endzeit“-Lehre evangelikaler Zionisten im Widerspruch zur Lehre der Apostel? – ein Fakten-Check“ (2019).

[21] Ein Paradebeispiel dazu ist die Art von „Rosinenklauben“, wie die „Israel“-Abschnitte im neutestamentlichen Römerbrief (Kap. 9 bis 11) von „Israelogen“ kontextwidrig ausgeweidet werden. Mehr dazu in: „Über die Treue Gottes zu seinem Volk und wer dazugehört. Eine biblische Studie zur Frage: ‘Hat Gott sein Volk verstoßen?’ (Römerbrief 11,1)“ (2018)

[22] Hat sich die Zuordnung solcher geopolitischen Aufreger einige Jahre später als Irrlichter herausgestellt – so etwa die Irak- bzw. Golfkriege gegen Saddam Hussein, als laut dem „Endzeit-Guru“ Roger Liebi „der Fall Babylons“ kurz bevorgestanden sei – verschwinden sie wieder in der Versenkung, statt wenigstens nachträglich historisch korrekt aufgearbeitet und gebührend als mahnende Beispiele paranoider Irrläufer bloßgestellt zu werden.

Eines der jüngeren Beispiele bot sich für „Endzeit-Mystiker“ durch den syrischen Bürgerkrieg an. Als Damaskus im Jahr 2012 von Bombenanschlägen erschüttert wurde, erschien unter Berufung auf den „christlichen Bestsellerautor Joel C. Rosenberg (Washington)“ am 25. Juli 2012 in dem Zionismus-freundlichen evangelischen Nachrichten-Magazin „ideaSpektrum“ der online-„Artikel-des-Tages“: „Ist die syrische Hauptstadt Damaskus dem Untergang geweiht?“. Mehr darüber: „Wider den Missbrauch der Bibel als modernes ‘Endzeit’-Orakelbuch“ (2012).

[23] Die wohl prägnanteste Apologie im Neuen Testament über den Charakter des Neuen Bundes unter ausführlichem Rückgriff auf die Weissagungen des Alten Testaments bietet der sogenannte „Hebräerbrief“ (er enthält keinen Hinweis auf die Autorenschaft). Dieses einzigartige Schriftstück der Apostelzeit stellt eine unmissverständliche Absage an jegliche irdisch-politische Erfüllung gegenüber dem Alten (Sinai-) Bund dar. Mehr darüber in: „Die Jahreslosung 2013 (Heb 13,14) im Kontext des Hebräerbriefes – Eine Apologie.

[24] Mehr zur Entstehung des Neozionismus: „‘Antizionistisch’ und ‘evangelikal‘ – gegensätzlich oder zusammengehörig? Meine Sicht als unabhängiger Christ.“ (2020)

[26] Mehr darüber: „Israels Kriegspolitik und ihre ideologischen Wurzeln“ (2024). – Bei den 74. Internationalen Filmfestspielen in Berlin wurde der Film „No Other Land“ am 25. Februar 2024 als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Darin wird die brutale Vertreibung von Palästinensern aus ihren Häusern in der Gegend von Masafer Yatta in den südlichen Hebron-Hügeln dokumentiert. In seiner Dankesrede forderte der israelische Filmemacher: „Diese Situation der Apartheid zwischen uns muss ein Ende haben.“ Unmittelbar darauf bezeichnete das israelische Fernsehen nach einem nur 30-Sekunden dauernden Ausschnitt die Rede als „antisemitisch“, während es den Zusehern den vollen Sachverhalt verschwieg. Seitdem erhält der Filmemacher ständig Morddrohungen (Bericht in Ha’aretz am 26. Februar 2024).