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Leserinnenbrief zu Interview mit Tom Segev


23. Mai 2021

in der Kleinen Zeitung von Sonntag, 23.5.2021 S.6-7

Nein, Herr Segev!
Die Eskalation hat nicht mit "Unruhen auf dem Tempelberg" begonnen.
Vielmehr waren die Angriffe des israelischen Militärs auf die Betenden und in die Gebetsräume der Al Aqsa Moschee nur ein Auslöser. Der Zweite war der brutale Vertreibungsversuch der palästinensischen Familien aus Scheikh Jarrah in Ostjerusalem. Der vierte, fünfte, tausendste Grund sind sind die mehr als 70igjährigen Völker- und Menschenrechtsverletzungen der israelischen Machthaber, die zigtausenden Demütigungen und Schikanen, Checkpoints, Mauerbau, Siedlungsbau nach Landraub, gezielte Tötungen, Inhaftierung von Kindern, Verstümmelungen und Morde an ZivilistInnen durch Bombardements.
Die Menschen in Gaza befinden sich nicht "in Geiselhaft eines abscheulichen Terrorregimes", wie Sie im Netanjahusprech repetieren. Die Hamas wurde nicht nur von den BürgerInnen in Gaza demokratisch gewählt. Es war Israel und die Internationale Gemeinschaft, die diese Wahlen nicht anerkannten! Was für ein Ausdruck der Heuchelei gegenüber den Internationalen Rechten, die nur für die Starken gelten, aber für die Schwachen nicht.
Was aber richtig ist: Das israelische Militär wurde überrumpelt von den vielen Rakaten aus Gaza. Die Arroganz der Macht hat übersehen, wie sehr sich das Aufbehren gegen die Entrechtung und das Einstehen für die Würde in das palästinensische Kollektiv eingeschrieben hat. Die Raketen haben sich Israel und seine europäischen und us-amerikanischen Back-ups selbst zuzuschreiben: Jeder  Versuch eine Friedenslösung zu erreichen, ist am israelischen Anklammern an Siedlungsbau und Apartheidsordnungen gescheitert.
Sie haben Scheikh Jarrah mit Absicht nicht erwähnt, Herr Segev. Hätten sie das getan, würden Sie die wesentliche Wurzel dieses Konflikts ansprechen müssen: die Nakbah, die gewaltsame Vertreibung der PalästinenserInnen 1948. Und Sie müssten auch darüber sprechen, dass es nach UN-Res. 194 ein Rückkehrrecht für alle Vertriebenen und ihre Nachkommen gibt. Dann müssten Sie aussprechen, dass Israel ein Apartheidstaat ist, der seine Bevölkerung absolut ungleich behandelt. Und sie müssten eingestehen, dass ein Frieden nur möglich ist, wenn historisches Unrecht gutgemacht und seine permanente gegenwärtige Wiederholung endlich aufhört!
Das Loslassen von der Arroganz der Macht beginnt letztendlich bei dem Einzelnen.

Helga Suleiman

https://www.kleinezeitung.at/politik/aussenpolitik/5983704/Israel-und-Palaestina_Historiker-Tom-Segev_Dieser-Konflikt-ist