von Roswitha Al-Hussein
Bei diesem handelt es sich mehr oder weniger um eine Literaturrecherche, die nicht viel Neues bietet, was man nicht auch schon im Gutachten für die Staatsanwaltschaft als Grundlage für die Razzien lesen kann. Von den 55 Seiten sind 10 Seiten Literaturverzeichnis, 20 Seiten Zusammenfassung von anderen Publikationen über die Geschichte und Ideologie der Muslimbruderschaft und die ersten 15 Seiten (wobei manche dieser Seiten nur 2-5 Zeilen haben) beschreiben die wissenschaftliche Auseinandersetzung und verschiedenen Arbeitsthesen zum Politischen Islam. Noch dazu handelt es sich um eine sehr einseitige Literaturrecherche, weil sie lediglich auf einschlägige Autor_innen mit rechten und zionistischen Bezügen wie Heinisch, Scholz, Schröter usw. zurückgreift.
Lt. Lisa Fellhofer, Direktorin der Dokumentationsstelle Politischer Islam, handelt es sich bei dem Grundlagenpapier überhaupt um eine Studie, die zu dem Schluss kommt, „dass die Muslimbruderschaft ein wichtiger Akteur des politischen Islam in Österreich ist und den Islam als der Grundordnung in Österreich und Europa überlegen ansieht.“[1] Diese sog. „Studie“ umfasst anscheinend 6 Seiten, denn genauso lang ist der konkrete Teil über die Muslimbruderschaft in Österreich (von S. 36 bis 43). Was daran eine Studie sein soll, erschließt sich mir nicht: Diese paar Seiten sind allesamt alte Informationen, die man auch schon woanders lesen konnte, allen voran im Bericht von Vidino aus dem Jahr 2017 über die Muslimbruderschaft in Österreich. Großteils beziehen sich die Informationen auf die Jahre 2002 bis 2006, dann noch ein paar Konferenzteilnahmen aus den Jahren 2015 bis 2019. Noch dazu setzt diese sog. Studie auf einer sehr persönlichen Ebene an, indem es als Begründung für entsprechende Netzwerke familiäre Verbindungen, Heiraten, Arbeitsstellen usw. nennt. Selbst Zitate aus einem Gerichtsurteil zählen für Korchide anscheinend als wissenschaftlich, bald wird er wahrscheinlich den Staatsanwalt Winkelhofer zitieren. Es gibt keine konkreten Aussagen von angeblichen Muslimbrüdern. Alleine die Tatsache auf der gleichen Konferenz wie ein anderer gewesen zu sein, erscheint schon verdächtig. Die Conclusio des ganzen Papiers umfasst lediglich zwei Seiten.
Selbst die Presse schreibt am 23.12.2020: „Die Studie der Dokumentationsstelle unterscheidet sich in ihrem Resümee wenig von Lorenzo Vidonos „Report“, für den der Programmdirektor für Extremismus an der George Washington University schon vor drei Jahren kritisiert wurde.“
Das Grundlagenpapier erörtert verschiedene Zugänge zum Verständnis vom politischen Islam, die zumeist eben nicht reichen, um die Muslimbruderschaft zu kriminalisieren. So orten die Autoren einen Übergang von einem Jihadismus zu einem politischen Islam, der sich moderat gibt, aber die gleichen Ziele verfolgen würde. Korchide hält dabei mit seinen Sympathiebekundungen für die Defintion des Verfassungsschutz von Rheinland-Pfalz über den politischen Islam nicht zurück: “Legalistische Organisationen verfolgen ihre Ziele mit langfristigen und legalen Mitteln, indem sie Vereine, Bildungseinrichtungen und Verbände gründen, viele Mitgliederzahlen werben, Medienarbeit betreiben und auf politische Willensbildungsprozesse Einfluss nehmen. Dabei werden in gesellschaftspolitischen Debatten nach außen hin oft gemäßigtere und offenere Positionen vertreten als organisationsintern. Sie nutzen die legalen Möglichkeiten einer liberalen Demokratie, um diese langfristig abzuschaffen.”[2] Anscheinend betrachtet er diese Definition am geeignetsten, um zu erklären, warum die MB die abendländische Ordnung gefährdet, nachdem seines Erachtens eine Reduktion des politischen Islam auf das Ziel der Errichtung eines islamischen Staates zu eng gefasst sei.
Politisch ist diese Linie ein Wahnsinn: sie unterstellen der MB ernsthaft, den Staat Österreich übernehmen zu wollen. Zuviel von der rechten Propaganda einer Islamisierung des Abendlandes läuten gehört? Die sog. Studie nennt keine Zahlen, wieviele Menschen sie in Österreich den MB zuordnen. Aber selbst wenn es ein paar Hundert sein sollten, wird es jedem politisch noch wachen Menschen klar sein, dass die Gefahr einer Übernahme des Staates wohl stark übertrieben ist. Sie unterstellen vermeintlichen Angehörigen der MB in Österreich nur liberal und integrativ zu reden, aber über ihre wahren Absichten zu täuschen. Ja, was sind denn nun ihre wahren Absichten? Antizionistisch und antiimperialistisch zu sein? Zu versuchen, die Räume für muslimische Praktiken in Österreich auszuweiten bzw. zu einer bestimmten Normalität muslimisches Lebens beizutragen? Was soll daran falsch sein. Und wer legt schon immer seine Absichten komplett offen. Selbst wenn sie andere Bürger_innen zum Islam einladen wollten oder das gesellschaftliche Leben in Österreich mehr mit islamischen Werten durchdrungen sehen wollten – sie zwingen ja niemanden dazu. Es wird ja wohl zur Mündigkeit zählen, sich selbst ein Bild machen zu können und zu übernehmen, was man möchte und was nicht. Kritik an Islamfeindlichkeit in der Gesellschaft wird in ein Opfer-Narrativ umgedeutet, mit dem die MB versuche, die Gesellschaft zu spalten und Menschen zu radikalisieren. Damit kann man jede Kritik von Betroffenen an praktiziertem antimuslimischen Rassismus totschlagen.
Als problematisch ortet Korchide jene islamischen Werte, die “im Widerspruch zu den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates und den Menschenrechten sowie den Grundlagen einer freien Gesellschaft und dem Recht des Individuums auf Selbstbestimmung stehen.” Welche das aktuell bei den vermeintlichen Angehörigen der MB sein sollen, bleibt er allerdings schuldig. Überhaupt bezieht er sich beim Abschnitt über die MB in Österreich einfach auf den Verfassungsschutz. Oder beruft sich auf einen Richter, welcher den Antrag auf Staatsbürgerschaft einer muslimischen Frau mit der Begründung abgelehnt hatte, dass die Liga Kulturverein (bei dem sie aktiv ist) der Muslimibruderschaft zugehörig sei und diese anti-demokratische Werte vertreten würde. Wie der Richter zu dieser Einschätzung kam, lässt uns das Grundlagenpapier gar nicht wissen, aber sie zählt als Wahrheitsbeweis. Auch ist die dazu erwähnte Quelle im Anhang nicht im Internet auffindbar. Erinnert soll an dieser Stelle daran werden, dass die Muslimbruderschaft mit der von ihr gegründeten Parteien an Wahlen in Ägypten und Tunesien teilgenommen hat und auf demokratischen Weg an die Regierung bzw. ins Parlament kam.
Kriminalisiert müssten nach Ansicht der Autoren die MB in Österreich bereits vorab für etwas werden, was sie eventuell in Zukunft tun könnten. Die Autoren anerkennen, dass die MB in Europa noch nie gewalttätig wurde und das auch nicht vorhat. Aber: “Diese Legitimation des gewalttätigen Jihad im Verteidigungsfall, die von prominenten, oftmals in der arabischen Welt verorteten, Mitgliedern der Bruderschaft konkret meist auf den Nahostkonflikt bezogen wird, könnte, in Kombination mit gesellschaftlich oftmals spaltenden Opfernarrativen der Bruderschaft, dazu führen, dass Gewalt auch in europäischen Gesellschaften eine theoretische Legitimation findet.” [3]
20 Jahre Arbeit der Muslimischen Jugend in Österreich versuchen die Autor_innen im Grundlagenpapier mit zwei Büchern auf ihrem Bücherstand bei einem Festival zu diffamieren (zwei Bücher, von deren Inhalte sich die MJÖ distanziert hat).[4] Korchide, Autor des Buches „Islam ist Barmherzigkeit“ verzeiht keine Fehler. Hunderte von Jugendlichen haben in den letzten 20 Jahren ehrenamtlich wertvolle Arbeit für muslimische Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene geleistet: von Ferienlagern, Bildungsreisen, Ausflüge, Seminare, Festivals, Iftare, Fasten Teilen Helfen – Aktivitäten, Frauenförderung und, und, und. Mitglied im Bundesjugendring. Das zählt in ihren Augen alles nichts. Wiederholt werden die Vorwürfe im Report von Vidino (2017) über die Verstrickung der MJÖ mit der MB. Dagegen hatte sich die MJÖ bereits erfolgreich gerichtlich gewehrt. Aber Korchide/ Vidino probieren es noch einmal – irgendetwas wird in den Köpfen der Leser_innen davon schon hängen bleiben.
Man kann sich gar nicht vorstellen, wie kränkend solche Diffamierungen für jene Menschen sind, die seit Jahren in der Bildungsarbeit, sozialen Arbeit, Seelsorge usw. in Moscheegemeinden und Muslimischen Jugend aktiv sind. Ohnehin gibt es dafür kaum eine gesellschaftliche Anerkennung. Nun diese Diffamierung – Vorantreiben von Exklusion – Kriminalisierung – was folgt danach?
Ich habe das selbst im Rahmen meiner Tätigkeit im Verein SOMM – Selbstorganisation von und für Migrantinnen und Musliminnen erlebt. Die jahrelanger Arbeit dieser migrantischen Frauenorganisation wurde durch verschiedene Gerüchte und mediale Kampagnen zunichte gemacht. Gerüchte über Beobachtungen durch den Verfassungsschutz wurden gestreut, Gerüchte konservative Werte zu vertreten und Gewalt an Frauen und Hausfrauisierung zu befürworten, antisemitisch zu sein (aufgrund der Palästina-Solidarität). Dies hatte zur Folge, dass andere NGOs nicht mehr mit uns kooperieren durften und uns die Fördergelder und Räume entzogen wurden.[5]
Für sechs Monate Arbeit erscheint mir dieses Produkt als eine äußert geringe Leistung. Sie soll wohl mehr oder weniger die Razzien vom 9. November legitimieren. Die Autoren lassen die Katze aus dem Sack und schreiben dezidiert: “Um diese Lücke im Verständnis der Muslimbruderschaft und vergleichbarer Organisationen und Trends zu schließen, wurde im Juli 2020 der Fonds zur Dokumentation von religiös motiviertem politischen Extremismus (Dokumentationsstelle Politischer Islam) gegründet.”[6] Die Muslimbruderschaft und ihre Schwesterorganisation Hamas lehnen Fremdherrschaft und Zionismus ab, darauf verweist dieses Papier ebenfalls. Es macht noch deutlicher, welchen Zweck die Dokustelle verfolgt. Alles in allem ein Grundlagenpapier zur Einschränkung von Grundrechten. Der Versuch der Kriminalisierung einer politischen Auseinandersetzung. Der Versuch, weiter Ängste vor einer nicht vorhandenen Islamisierung zu schüren.
Statt konsequent gegen Rechtsextreme vorzugehen, bei denen Hunderte Waffen gefunden wurden, über die wir dann nicht gleich anschließend seitenweise Analysen in den Medien lesen, gibt es den Versuch, politisch handelnde Muslim_innen einzuschüchtern. Der Verfassungsschutz weiß genau, von welchen Moscheen die Leute am ehesten zu einer Palästina-Demo kommen, wer 2014 gegen den Gaza-Krieg auf die Straße gegangen ist, wer in Österreich gegen den Putsch gegen Präsident Mursi protestiert hat. Migrantische, muslimische Leute in großer Zahl auf einer Demo gegen die Politik von Israel und gegen vom Westen unterstützte blutige Diktaturen soll es nicht mehr geben.
[1][1] https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20201223_OTS0050/dokumentationsstelle-politischer-islam-muslimbruderschaft-in-oesterreich-ist-wichtiger-akteur-des-politischen-islam
[2] Der politische Islam als Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen und am Beispiel der Muslimbruderschaft (2020 S.16)
[3] Ebd. S. 37
[4] Ebd. S. 43
[5] Die Chronologie ist nachzulesen auf www.somm.at
[6] Ebd., S. 20