Offener Brief an den Gemeinderat und die Stadtregierung von Innsbruck
Steirische Friedensplattform
Baiernstraße 103 / 14
8020 Graz
Graz, am 27. 01. 2020
Offener Brief
an den Gemeinderat und die Stadtregierung von Innsbruck
z.H. Herrn Bürgermeister Georg Willi
Maria Theresien-Straße 18 / 2. Stock
per Email: buergermeister@innsbruck.gv.at
Ergeht per Email auch an die Vorsitzenden auch an die Gemeinderatsfraktionen
Betreff: Ihr Vorhaben der Beschlussfassung einer „Erklärung gegen Antisemitismus, Antijudaismus und Antizionismus“
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Willi!
Sehr geehrte Damen und Herren der Stadtregierung!
Sehr geehrte Mitglieder des Gemeinderates!
Bei der kommenden Gemeinderatssitzung am 29. Jänner 2020 wird Ihnen unter dem im Betreff genannten Titel ein Dringlichkeitsantrag zur Beratung und Beschlussfassung vorliegen.
Soweit sich dieser Beschluss auf Rassismen der verschiedensten Ausprägung, besonders auf das Phänomen des Antisemitismus und Antijudaismus bezieht, findet diese Erklärung unsere volle Zustimmung. Zurecht wird Judenhass und Ablehnung von Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Religion oder zum jüdischen Volk heute von einer deutlichen Mehrheit in unserer Gesellschaftlich geächtet. Und wir glauben, dass der 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz für eine solche Erklärung ein gebotener Anlass ist. Ganz selbstverständlich schätzen und unterstützen wir auch alle Beschlüsse und Maßnahmen, die die Stadt Innsbruck für die Förderung des kulturellen, religiösen und sozialen Lebens von Juden geleistet hat oder noch leisten wird.
Ihre Erklärung geht aber in zwei Punkten über diese Selbstverständlichkeit hinaus und verstößt gegen das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit.
1. Sie beinhaltet eine Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus.
Hier liegt zunächst offenbar eine mangelnde begriffliche Differenzierung vor. Während Antisemitismus / Judenhass eine schwere und in ihren praktischen Auswirkungen polit-kriminelle Verirrung menschlichen Fühlens und Denkens ist, ist die Ablehnung des geschichtsmächtig gewordenen Zionismus die Ablehnung einer ihrerseits politisch-problematischen ethnozentrisch-nationalistischen Ideologie. Gerade nach dem von der Generation unseren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern mit zu verantwortenden Menschheitsverbrechen des Holocaust, war das Streben von großen Teilen des jüdischen Volkes nach einem schützenden Staat nur allzu verständlich. Allerdings zeigte sich schon lange vor dem Holocaust, dass innerhalb der zionistischen Ideologie sich leider nicht jene ExponentInnen durchsetzten, die ein partnerschaftliches Zusammenleben mit der indigenen arabischen Bevölkerung Palästinas anstrebten, sondern jene Kräfte, die auf einen chauvinistischen jüdischen Nationalismus setzten. Dementsprechend kam es zu einer systematischen Verdrängung der palästinensischen AraberInnen, die im Zuge der Staatsgründung Israels 1948 in der geplanten Vertreibung und panikhaften Flucht von ca. 750.000 PalästinenserInnen und der Zerstörung von mehreren arabischen Städten und mehr als 450 Dörfern gipfelte. Die PalästinenserInnen nennen dieses Menschen- und Völkerrechtsverbrechen „Nakba“, „die Katastrophe“.
Dieses Unrecht wurde bis heute auch nicht annähernd wieder gutgemacht. Im Gegenteil: Nachdem sich die ethnozentrisch-chauvinistische Richtung des Zionismus als Staatsideologie etabliert hatte, setzte sich die Entrechtung, Enteignung und Verdrängung des palästinensischen Volkes über verschieden Phasen bis heute fort. Die europäischen Leitmedien sind in der Darstellung des Konflikts überwiegend vom israelischen Narrativ geprägt und in der Berichterstattung über die alltäglichen bedrückenden Details dieser Auseinandersetzung der zwei machtpolitisch extrem ungleich ausgestatteten Völker, werden daher die palästinensische Sichweisen meist ausgeblendet. Doch in Zeiten des Internets sage niemand, frau/man habe irgendetwas davon nicht wissen können. (1)
Auch in der Begriffsbestimmung des Zionismus selbst ist der Antrag völlig undifferenziert. Indem der Ihnen vorliegende Antrag begehrt, „alle alten und neuen Formen des ….. Antizionismus entschieden zu verurteilen“, wird nämlich auch der „humane Zionismus“ wie er u.a. vom Religionsphilosophen Martin Buber, der Gruppe Brith Shalom und der Jugendbewegung Hashomer Hazair vertreten wurde, in gleicher Schärfe verurteilt, wie jener, der auf die Vertreibung der indigen-arabischen Bevölkerung ausgerichtet war. Diese fehlende differenzierte Bestimmung des Zionismus-Begriffes zeigt, dass sich die Antragsteller mit der Geschichte des Zionismus nicht oder nicht hinreichend auseinandergesetzt haben.
Wollen Sie als politischen Repräsentanten der Tiroler Landeshauptstadt die Meinungsfreiheit Ihrer Bewohnerinnen nicht verfassungswidrig einschränken, so muss über die bis heute wirksame Staatsideologie Israels und über die mit ihr verbundenen historischen Ereignisse offen und ebenso frei geredet werden können wie über andere global relevante Konflikte. In diesem Sinne haben anläßlich der Wiener Antisemitismus-Konferenz vom 21. Nov. 2018 34 namhaften Juden und Jüdinnen aus Israel und der Diaspora genau diese Verwechslung und Gleichsetzung von Antisemitismus einerseits und Antizionismus/Israelkritik andererseits als inhaltlich unangebracht zurückgewiesen. (2) In ähnlicher Weise äußerten sich 40 jüdische Organisationen im Juli 2019 in einer gemeinsamen Erklärung. (3) Wir ersuchen Sie um die Lektüre dieses Appells.
2. Ihre Beschlußvorlage beinhaltet zudem die Verurteilung der internationalen BDS-Bewegung als „antisemitisch“. Auch das halten wir und mit uns viele demokratisch gesinnte Menschen für sachlich unbegründet, ideologisch-vorurteilsbehaftet und unreflektiert.
* Nicht nur, dass bei der Ablehnung der Maßnahmen der BDS-Kampagne häufig ein fauler historischer Apfel, die politkriminelle „Kauft nicht bei Juden – Hetze“ der barbarischen Diktatur der Nationalsozialisten gegen die politisch entrechtete Minderheit der Juden, mit der unverfaulten Birne am Baum legitimer gewaltfreier Widerstandsmittel einer schwer unterdrückten Zivilgesellschaft verwechselt wird.
* Nicht nur, dass diese Ablehnung von Boykott-Maßnahmen gegen den ethnokratischen Machtstaat Israel selbst insofern geschichtsvergessen ist, als es die zionistische Bewegung selbst war, die schon im frühen 20. Jahrhundert ganz offiziell derartige Maßnahmen propagierte. (4)
* Stärker wiegt zweifellos ein realpolitisches Argument: Das Palästinensische Volk leidet seit Jahrzehnten unter einer harten israelischen Besatzung. Häufige Versuche über einen gewalttätigen Widerstand zu einem eigenen lebensfähigen Staat zu kommen, sind ebenso am realpolitisch dominanten zionistischen Bestreben, das gesamte Land zwischen Mittelmeer und Jordan allein zu beherrschen, gescheitert wie der Verhandlungsweg. (5) 2005 hat daher ein großer Teil der palästinensischen Zivilgesellschaft beschlossen, in einer internationalen, gewaltfreien Bewegung ihre, durch das Völkerrecht und zahlreiche UN-Beschlüsse legitimierten Ziele mit den Mitteln des Boykotts, des Desinvestments (= Kapitalabzug) und durch Sanktionen durchzusetzen. Die Bewegung orientiert sich an Mahatma Gandhi und an der internationalen Südafrika-Boykott-Bewegung, die wesentlich zum Ende dieses Apartheid-Systems beitrug. Nach Erreichung der drei Ziele: 1. Ende der Besatzung und Kolonisation allen arabischen Landes (6) und Abriss der Trennungsmauer, 2. vollkommene rechtlichen Gleichstellung der arabisch-palästinensischen BürgerInnen Israels, und 3. der Anerkennung der Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat zurückzukehren (7), wird die BDS-Kampagne beendet. Innerhalb der BDS-Bewegung ist dabei auch klar, dass die Forderungen in ihrer konkreten Ausformung letztlich natürlich in direkten Verhandlungen und einem Friedensvertrag festgelegt werden müssen. Von der palästinensischen Seite aber zu fordern, dass Sie auf ihre völkerrechtlich gedeckten Ziele schon vor Beginn eines Verhandlungsprozesses verzichtet, heißt, den in diesem Konflikt ohnehin deutlich schwächeren Akteur realpolitisch empfindlich zu schwächen.
Der Antrag enthält im Maßnahmenkatalog zweimal die Formulierung „Boykott von Israelischen Produkten, Unternehmen, Künstlerinnen und Künstlern, SportlerInnen und Sportlern aufzurufen (z.B. BDS-Bewegung)“. Ähnlich wie bei völlig undifferenzierten und undefinierten Zionismus-Begriff, zeigen die Antragstellerinnen darin, dass sie sich mit der BDS-Bewegung in keiner Weise auseinandergesetzt haben, sondern sie einer israelischen Propagandastrategie folgen. Ausdrücklich lehnt die BDS-Bewegung nämlich den Boykott von jüdischen Individuen und Gruppen ab. Die Boykott-Aufrufe zielen einzig und allein jene auf Menschen und Organisationen, die sich im Interesse Israels im Sinne einer „Weißwäsche“ seiner Annexions-, Besatzungs-, Belagerungs- und Unterdrückungspolitik („Hasbara“, „Rebrand Israel“) international einspannen lassen.
Realpolitisch gesehen gilt also: Wenn Sie, so wie wir, Gewalt als Mittel der Durchsetzung politischer Ziele ablehnen, Sie aber mit Ihrem geplanten Beschluss, dem palästinensischen Volk im Interesse israelischer Dominanzansprüche die gewaltfreien Mittel aus der Hand schlagen, so fragen wir Sie, ob Sie das palästinensische Volk dauerhaft weiter in die Demütigung, Verzweiflung und immer wieder in die aus der Unterdrückung entstehende Gewalt treiben wollen? Oder wollen Sie in einer lebensfremden Kopf-in-den-Sand-Politik, dass dieser Konflikt und das damit auf beiden Seiten verbundene menschliche Leid in unserer geopolitischen Nachbarschaft, über weitere Jahrzehnte kein Ende findet?
Auch zur Frage der Diffamierung von BDS als antisemitisch wurde im Vorfeld des Beschlusses vom 17. Mai 2019 im Deutschen Bundestag schon Wesentliches gesagt. Lesen Sie bitte dazu die Erklärung von zunächst 66 und später 240 israelischen und jüdischen Intellektuellen und KünstlerInnen. (8)
Bevor Sie entscheiden beachten Sie bitte auch, dass inzwischen fünf Vorsitzende von mit Menschenrechtsfragen befassten UN-Teilorganisationen, die auch Ihrer Beschlussvorlage zugrundeliegende Begriffsverwirrung in der Erklärung des Deutschen Bundestages zurückgewiesen haben. (9) Und bedenken Sie weiters, dass es inzwischen aufgrund ähnlicher Beschlüsse, in mehreren deutschen Städten zu Saalverboten kam, diese aber durch mehrere Gerichtsentscheidungen als grundrechtswidrig aufgehoben wurden. So etwa in Bonn, Oldenburg (10) und München. (11) Die Stadt Innsbruck sollte sich das ersparen.
Ohnehin sollte Ihnen als gewiss analysefähige und meist wohl auch realpolitisch erfahrene politische KommunalpolitikerInnen die ganze Anti-BDS-Hysterie leicht durchschaubar sein. Sie geht vom israelischen Ministerium für Heimatschutz und Strategische Angelegenheiten aus. Geleitet wird dieses Ministerium vom rechtsnationalistischen Likud-Minister Gilad Erdan. Seit 2016 fließen jährlich ca. 30 Mio. US-Dollar in eine globale BDS-Diffamierungskampagne. Das hat für Israel einen ungeheuren propagandistischen Wert: Hinter dem so erzeugten, weltweiten medialen Tumult um die zwanghaft herbeiargumentierte Behauptung, BDS sei antisemitisch, verschwindet die reale und harte Unterdrückung des palästinensischen Freiheitswillens. Wir sind sicher, dass auch Sie durch eine vertiefte Information und kritische politische Analyse zu diesem Schluss kommen können.
Kurz: Wir haben den Eindruck, Sie handeln unter einem seit Jahren von der Staatspropaganda Israels – und ideologisch stark motivierten ProIsrael-Freunden – ausgehenden informellen und öffentlichen Druck. Im Sinne des Grundrechts auf Meinungsfreiheit ist es natürlich jeder Person unbenommen seine proisraelischen Interessen zu verfolgen. Und auch sich bewusst oder unbewusst in einer ideologisch-politischen Nähe zur Palästina-Politik Israels zu positionieren. Und es steht natürlich auch allen frei, sich dabei in die weltanschauliche Nähe der Natanjahus (12), Trumps, Bolsonaros, Dutertes, Orbans usw. dieser Welt zu begeben.
Wir tun das nicht und orientieren uns in diesem Konflikt sehr stark an Stimmen von Friedens- und Menschenrechtsgruppen in Israel und Palästina. Diese Stimmen in ihrem Ringen um Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden aus unserer konfliktfern-saturierten mitteleuropäischen Perspektive im Stich zu lassen, halten wir für unsolidarisch und – wenn man ernsthaft vorhat, einen positiven Beitrag zur langfristigen Lösung des Palästina-Konflikts zu leisten – für einen schweren realpolitischen Fehler. Im Interesse der von Ihnen vertretenen InnsbruckerInnen empfehlen wir Ihnen es auch so zu halten und deren Menschenrecht auf Meinungsfreiheit nicht durch eine nicht hinreichend durchdachte Beschlussfassung einzuschränken.
Wir sind auch fest überzeugt davon, dass Sie im Falle einer tatsächlichen Beschlussfassung unseren jüdischen MitbürgerInnen nicht nur nichts Gutes tun, sondern Sie den Antisemitismus sogar fördern. Der Antrag läuft nämlich darauf hinaus, eine wichtige Frage der Politik unter ein überzogenes öffentliches Tabu zu stellen. Wie auch bei anderen derartigen Tabus schafft das bei vielen Menschen inneres Unbehagen und Groll, die sich erst recht in einem verstärkten Bedürfnis nach Feindbild- und Verschwörungsdenken Luft verschaffen. Sie sollten diesen problematischen sozialpsychologischen Tendenzen keinerlei Vorschub leisten.
Gerade weil der Beschlußantrag schlecht durchdacht ist und er unter dem Hinweis auf den 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz als „dringlich“ durchgepeitscht werden soll, erlauben wir uns, Ihnen noch einen realpolitisch machbaren Vorschlag zu unterbreiten:
Als ModeratorIn eines derartigen Forum können wir Ihnen empfehlen (alphabetisch):
* Univ. Prof. em. Dr. Wolfgang Benedek, Graz,
* Dr. Wilfried Graf (Herbert C. Kehlman Institut), Wien,
* Dr. Reiner Steinweg, Friedens- und Konfliktforscher, Linz,
*.Mag. Gudrun Kramer (ÖSFK Schlaining),
* Dr. Max Lakitsch (KFU Graz).
Alle genannten Personen weisen auch im Konflikt um das historische Palästina eine nennenswerte Expertise auf.
Mit friedenspolitischen Grüßen,
Sala’am/Shalom,
Franz Sölkner, Obmann Veronika Rochhart, Schriftführerin
Für Rückfragen: 0677 61 39 29 90 (Sölkner)