Sind wir alle Antisemiten? von Abraham Melzer, Jüdische Stimme für gerechten Frieden
Ein offener Brief an Dr. Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland
Lieber Herr Dr. Graumann
Antisemiten glauben, dass alle Juden reich und klug seien. Sie müssten mal Ihre Interviews und Artikel kennenlernen, damit sie endlich erführen, dass es auch andere Juden gibt. Sie zeigen sich darin von seiner proisraelischen Seite, und beweisen, dass Sie als Freund Israels, diesem Staat auch Schaden zufügen können. Denn wer den Unfug liest, den Sie geschrieben haben, muss daran zweifeln, dass hier ein verantwortungsbewusster Politiker spricht. Ich verstehe, dass Sie bereit sind, alles, wirklich alles, für Israel zu tun, auch wenn Sie Israel damit keineswegs helfen. Man fragt sich jedoch, wie ein Mensch so dogmatisch und blind sein kann, dass er den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, oder nicht sehen will.
Schon der erste Satz in Ihrem Pamphlet von 2011 ist vollkommen unverständlich und absurd: „Wer jetzt einen Staat ausruft, lobt damit die Verweigerung des Friedensprozesses“. Die Logik dieses unsinnigen Satzes mag sich mir auch nach mehrmaligem Lesen nicht eröffnen. Wann sollen die Palästinenser ihren Staat denn ausrufen, wenn nicht jetzt? Sollen sie etwa warten bis die Zionisten es vollständig kolonisiert haben und den Palästinensern nur noch die Löcher im Schweizer Käse geblieben sind? Oder ist etwa die Forderung nach Baustopp seitens Israels eine palästinensische Unverschämtheit? Immerhin haben die Juden schon seit mehr als zweiundsechzig Jahren ihren eigenen Staat. Sollen die Palästinenser warten, bis der Zentralrat der Juden in Deutschland auch mit einem Staat Palästina einverstanden ist?
Und wieso ist das überhaupt eine Frage, zu der Sie, Herr Dr. Graumann, uns unbedingt Ihre unmaßgebliche Meinung aufzwingen müssen? Haben Sie denn in Ihrem Job als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland nichts zu tun, dass Sie Mahmud Abbas unbedingt Ihre naiven und absolut inkompetenten Ratschläge erteilen müssen? Warum haben Sie nicht Ihre Stimme erhoben, als man die 24jährige Soldatin Anat Kam zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt hat, weil sie nichts mehr und nicht weniger gemacht hat, als Carl von Ossietzky, der von den Nazis in ein KZ gesteckt und dort schließlich umgebracht wurde, weil er 1931 in seiner Zeitschrift – Die Weltbühne – auf die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufmerksam gemacht hat. 1936 hat er dafür immerhin den Friedensnobelpreis bekommen. Anat Kam hatte der Presse Dokumente übergeben, die als Beweis dafür verwendet wurden, dass die israelische Armee – die sogenannte moralischste Armee der Welt – Palästinenser weiter gezielt tötete, obwohl das Oberste Gericht in Jerusalem das zuvor verboten hatte.
Möglicherweise werden Sie jetzt Anat Kam und vielleicht auch mich, Verräter nennen, so wie Carl von Ossietzky damals „Verräter“ genannt wurde und sein jüdischer Mitarbeiter Kurt Tucholsky sowieso, der einer Haft und möglicherweise einer Ermordung nur entgehen konnte, weil er nicht aus Schweden zurück ins Reich reiste, um nicht „diesen Tieren in die Klauen zu fallen“. Tun Sie sich keinen Zwang an, Herr Graumann, wir verraten nur einen Staat, den Staat Israel, den wir verachten, zugunsten eines Landes, das Land Israel, das wir lieben.
Wieso können die Palästinenser nicht mehr mit Israel verhandeln, wenn sie einen eigenen Staat haben? Ist es nicht eher so, dass sie dann noch mehr Interesse an einem Frieden haben müssten, um das soeben Erreichte nicht zu gefährden? Und dass man sehr wohl weiterverhandeln kann, obwohl man bereits unabhängig ist, beweist doch der Fall Südsudan. Aber wir sollten uns nicht allzu viele Gedanken über diese absurde Logik und politische Inkompetenz machen, die Sie offenbar bei Lieberman oder jedem anderen rechtsradikalen israelischen Politiker abgeschaut haben, um sich als würdiger Vertreter der israelischen Regierung auszuweisen.
Ihr Problem, welches auch das Problem Liebermans und Netanjahus ist, scheint die Tatsache zu sein, dass Abbas sich weigert, eine Gegenleistung zu präsentieren. Wieso eigentlich „Gegenleistung“? Schuldet Abbas den Israelis eine Gegenleistung dafür, dass er nicht um ihre Zustimmung zu seinem mutigen Gang vor die UN-Generalversammlung gefragt hat? Und was sollte das für eine „Gegenleistung“ sein? Israel als „jüdischen Staat“ anzuerkennen? Wenn Abbas das getan hätte, dann wären doch Netanjahu und Liebermann sofort mit weiteren Forderungen gekommen. Aber selbst wenn Abbas versprochen hätte, jeden Morgen die israelische Nationalhymne „Hatikva“ zu singen, hätte ihm das nicht geholfen, denn man wäre sehr bald auf eine neue Forderung gekommen, in der Hoffnung, Abbas würde sie nicht erfüllen können. Und wieso sollte die palästinensische Führung Israel nicht mehr nur als demokratischen Staat, sondern zusätzlich als „jüdischen Staat“ anerkennen? Dazu waren sogar die Amerikaner nicht bereit, weshalb Präsident Truman den Zusatz „Jewish State“ auf dem Dokument, mit dem die USA Israel seinerzeit anerkannten, durchstrich und in „State of Israel“ änderte.
Kein anderer Staat, der Mitglied der UN ist, einschließlich Deutschlands, der beste Freund Israels, der dessen Sicherheit in Form einer „Staatsräson“ in Stein gemeißelt hat, hat Israel als „jüdischen Staat“ anerkannt. Und von keinem anderen Staat hat Israel bisher einen derartigen Unfug verlangt. Warum sollten es die Palästinenser also tun?
Sie klagen darüber, dass die PLO sich mit der Hamas verbrüdert habe. Hat sich 1948 nicht auch die Hagana mit dem Irgun, dem terroristischen Arm der jüdischen Bevölkerung Palästinas, verbrüdert? Man sollte nicht vergessen, dass die Hamas immerhin eine Erfindung Israels ist und 2006 aus absolut freien und fairen Wahlen als Siegerin hervorgegangen ist. Das Ergebnis hat den Amerikanern und Israelis freilich nicht gefallen. Manche Ergebnisse der israelischen Wahlen gefallen auch den Palästinensern und vielen anderen Menschen auf der Welt nicht, zum Beispiel das Ergebnis der letzten Wahlen, aus denen zwei solch rechtsradikale Führer wie Netanjahu und Lieberman hervorgegangen sind. Es ist nun mal so bei demokratischen Wahlen, dass das Volk entscheidet, und nicht der Feind. Alle europäischen und amerikanischen Wahlbeobachter bestätigen aber, dass es eine durch und durch demokratische Wahl gewesen ist.
Was nun, Herr Graumann?
Ich verstehe, dass Ihnen die Hamas nicht gefällt, aber vielleicht gefallen Sie ja auch der Hamas nicht? Sie meinen, dass die Hamas nicht nur das „zionistische Gebilde“ vernichten wolle, sondern alle Juden der Welt. Das ist wohl ein ähnlicher Unsinn wie der von den „Protokollen der Weisen von Zion“, jetzt aber umgemünzt auf die Palästinenser. Worauf stützen Sie sich bei dieser Behauptung? Auf zionistische Reaktionäre wie Ulrich Sahm, Matthias Küntzel oder Gudrun Eussner, die alle ihrem Guru Henryk Broder nacheifern, und es mit der Wahrheit nicht so besonders ernst nehmen, zumal es ja darum geht, die Hamas zu diffamieren? Was wollen Sie der Hamas vorwerfen? Dass sie in ihrer Charta festgeschrieben hat, dass „das Land Palästina „heiliger Besitz“ sei“? Behaupten das die national-religiösen Siedler und sogar der Likud nicht auch in ihrer Charta, und steht das nicht auch in der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel? Wollen Sie der Hamas vorwerfen, dass an den Händen ihrer Aktivisten Blut klebt? Nebbich. Wie viel Blut klebt denn an den Händen Scharons, Netanjahus, Baraks und manch anderer israelischer Politiker? Blut ist im Nahen Osten billig, besonders arabisches Blut. Und Barak ist nicht als Kriegsverbrecher verurteilt worden, als er bei einem Terrorakt in Beirut mutmaßliche palästinensische Terroristen und Zivilpersonen ermordet hat. Im Gegenteil, er ist dafür mit den höchsten Orden der israelischen Armee dekoriert worden. Betonen denn nicht die Israelis immer wieder, dass sie sich im Krieg befänden? Hat nicht erst kürzlich der ehemalige Oberrabbiner der israelischen Armee die Soldaten aufgefordert, keine Gefangenen mehr zu machen – damit man keine mehr eintauschen kann –, sondern die „mutmaßlichen“ Terroristen in ihren Betten zu töten? Ist das keine Aufforderung zum Mord?
Sie beschweren sich darüber, dass die Hamas Israel nicht anerkennt. Hat denn Israel die Hamas anerkannt? Ist denn Israel bereit, die Hamas anzuerkennen? Sie beschuldigen die Hamas, Israel vernichten zu wollen. Will denn Israel nicht auch die Hamas vernichten? War denn die Invasion Gazas vom Dezember 2008 kein solcher Versuch? Ich habe von Ihnen kein Wort der Kritik und erst recht kein Wort des Bedauerns gehört, allein schon über die mehr als 1400 Opfer, darunter viele Frauen und Kinder.
Sie meinen, dass wichtige Fragen eines künftigen Friedens so nicht gelöst werden könnten, weil damit „erfolgreiche Verhandlungen“ in weitere Ferne rückten. Wen wollen Sie hier überzeugen? Sich selbst vielleicht oder diejenigen, die so denken wie Sie? Von welchen erfolgreichen Verhandlungen sprechen Sie? Erfolgreich vielleicht für die Israelis, die, wie es ihr Außenminister Avigdor Lieberman, sagte, auch neunundneunzig Jahre lang verhandeln würden, um die Entstehung eines palästinensischen Staates zu verhindern. Sie sind blind oder tun nur so, um uns allen Sand in die Augen zu streuen und von der Schuld der Israelis an der seit Jahren desolaten Situation abzulenken. Dass sich die Verhandlungen in einer Sackgasse befinden, ist wahrlich nicht die Schuld der Palästinenser. Von ihrer Seite macht es absolut keinen Sinn, die Verhandlungen zu blockieren. Es macht aber auch keinen Sinn, mit den Israelis über einen eigenen Staat zu verhandeln, während diese Tag für Tag mehr Land rauben und Tag für Tag Palästinenser enteignen und aus ihren Häusern vertreiben.
Sie schreiben richtig, dass ein „gemeinsamer Frieden niemals einseitig aufgezwungen werden kann“. Dabei geht es den Palästinensern bei ihrem Antrag zunächst einmal nicht um den Frieden, so wichtig dieser auch ist, sondern einzig und allein um ihre Anerkennung als Volk, als Nation, als Staat. Warum sollte diese verweigert werden, wenn nicht allein aus dem Grund, dass man einen palästinensischen Staat verhindern will? Und was ist daran einseitig? Hat denn Israel die Palästinenser um Erlaubnis gefragt, als Ben-Gurion „einseitig“ den jüdischen Staat ausgerufen hat? Hat denn Israel die Palästinenser um Erlaubnis gefragt, als es begonnen hat, einseitig Siedlungen in den besetzten Gebieten zu bauen, unter eklatanter Missachtung des i geltenden Völkerrechts? Hat denn Israel irgendwen um Erlaubnis gefragt, als es angefangen hat, die Mauer zu bauen, um damit noch mehr palästinensisches Land konfiszieren zu können? Sie schreiben weiter, vollkommen zu Recht: „Wer die Einseitigkeit zum Prinzip erklärt, der offenbart, dass es ihm gar nicht um den Frieden geht“. Merken Sie eigentlich nicht selbst, wie sehr dieser Satz auf die Politik Israels passt?
Wieder sind die Israelis dabei, eine Chance zu verpassen, und wieder stehen jüdische Funktionäre wie Sie bereit und applaudieren laut und peinlich. Ich frage mich, wieso Sie sich überhaupt zum Nahostproblem äußern. Sie sind Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und sollten sich um die Probleme der Juden in Deutschland kümmern. Ich habe nirgendwo in der Satzung des Zentralrats gelesen, dass es zu Ihren Aufgaben gehört, sich um den Nahostkonflikt zu kümmern. Hören Sie doch endlich auf, die jüdischen Mitbürger/innen, die zumeist deutsche Staatsbürger sind, zu verwirren, indem Sie ihnen eine doppelte Identität vorgaukeln. Wenn Sie diese israelische Staatspropaganda immer wiederholen und sich geistig auf das Niveau der Israelis einlassen, dann ist es wohl wahr, was schon Ihre Vorgängerin in aller Öffentlichkeit gesagt hat, dass nämlich Israel ihre „geistige Heimat“ sei. Dies trifft offensichtlich auch auf Sie zu, und es fällt einem schwer, das zu begreifen. Man fragt sich, was dann Deutschland ist, etwa immer noch ein Durchgangsland? Auch Sie scheinen sich in einer doppelten Identität zu bewegen und stürzen damit auch den gesamten Zentralrat samt seinem agilen und oftmals peinlichen Generalsekretär in eine Identitätskrise, dass man zuweilen glauben möchte, der Zentralrat sei die Außenstelle des israelischen Propagandaministeriums.
Ist Ihnen Ihre Aufgabe zu klein, zu eng, zu provinziell, weshalb Sie sich nun auch um die Weltpolitik kümmern müssen? Woher nehmen Sie die Arroganz und Überheblichkeit, zu glauben, dass die Palästinenser Ihren Ratschlag nötig haben? Haben Sie denn schon einmal den Israelis einen ehrlichen und wahrhaftigen Ratschlag gegeben? Haben Sie die Israelis schon einmal vor ihrer Hybris gewarnt und sie ermahnt, endlich mit ehrlichen und aufrichtigen Gesprächen mit den Palästinensern zu beginnen? Haben Sie etwa protestiert, als Avigdor Lieberman gesagt hat, dass er nicht einmal in neunundneunzig Jahren bereit sein werde, mit den Palästinensern über ihren Staat zu reden? Haben Sie den Oberrabbiner der israelischen Armee an die jüdische Moral und Ethik eines Ihrer Vorgänger, des Rabbiners Leo Baeck, erinnert, der in seinem Buch über das Judentum, „Religion der Vernunft“, an die Ethik eines Rabbi Hillel erinnerte und diese der christlichen Ethik gegenüberstellte? Halten Sie es für „vernünftig“, was Israel seit Jahren und Jahrzehnten tut? Die Palästinenser und die gesamte Arabische Liga haben schon längst ihre Bereitschaft zum Frieden mit Israel signalisiert. Israel hat aber immer wieder abgelehnt oder diese Bereitschaft schlichtweg ignoriert. Wie viele Friedensangebote will Israel noch ablehnen? Wie viel Land will es noch rauben? Wie viele Israelis und Palästinenser müssen noch sterben, bis eine Wende im israelischen (und in Ihrem) Verhalten eintritt?
Sie werden indes nicht müde, vor sogenannten einseitigen Schritten zu warnen. Wie können Sie so blind und selbstgerecht sein und glauben, dass all Ihre Leser es Ihnen abnehmen, wenn Sie behaupten, die Palästinenser machten einseitige Schritte? Jeder Schritt der Palästinenser wird von den Israelis überwacht und beizeiten gestoppt, wenn er Israel nicht passt. Die Palästinenser warten schon seit mehr als sechzig Jahren auf einen eigenen, unabhängigen Staat, und insofern ist es zynisch und unverschämt von Benjamin Netanjahu und Barack Obama, zu behaupten, es gebe keine Abkürzung auf dem Weg zum Frieden. Die Palästinenser sind schon sämtliche Umwege gegangen, die sogenannte „Roadmap“ ist für sie zu einem Kreisverkehr geworden, in dem sie sich seit Jahren drehen, ohne, dass die Israelis ihnen auch nur einen Schritt entgegenkommen. Von einer Abkürzung kann daher keine Rede sein; das weiß Obama, das wissen Sie und inzwischen fast die ganze Welt. Immer mehr Staaten sympathisieren offen mit dem Kampf der Palästinenser für Unabhängigkeit von der israelischen Besatzung. Wobei das Wort „Besatzung“ eigentlich ein Euphemismus ist, denn in Wirklichkeit handelt es sich um eine brutale, gewaltsame Kolonisation, einhergehend mit ethnischer Säuberung. Sehen Sie der Wahrheit doch endlich ins Auge.
Die Palästinenser sind mit 50 Prozent des Landes zufrieden, dass ihnen die UN 1947 zugeteilt hat, und mit 22 Prozent ihrer ursprünglichen Heimat Palästina, von vor 1947. Sie haben einen Antrag gestellt, nachdem ihnen vor einem Jahr US-Präsident Obama in klaren Worten signalisiert hat, dass er sie „nächstes Jahr“ als vollwertiges Mitglied der Vereinten Nationen begrüßen wolle. Aus der Begrüßung ist jedoch inzwischen eine schroffe Ablehnung geworden. Dass Obama schließlich vor den Israelis und ihrem gewaltigen Druck im Kongress und in der amerikanischen Öffentlichkeit auf die Knien gegangen ist, kann man den Palästinensern nicht vorwerfen, sondern, wenn überhaupt, den Israelis. Wenn Sie, Herr Graumann, das Format eines Leo Baeck, eines Martin Buber oder eines Uri Avnery hätten, dann würden Sie im Namen der jüdischen Ethik und im Namen der deutschen Juden, die Sie nun mal repräsentieren, Israel auffordern, endlich den Antrag der Palästinenser zu unterstützen. Solange Sie das aber nicht tun, werde ich nicht müde, zu behaupten, dass Sie mich nicht vertreten, niemals.
Nur als zwei gleichberechtigte und gleich souveräne Staaten können Palästinenser und Israelis miteinander Frieden schließen. Wenn aber „Experten“ wie Sie auch weiterhin leichtfertig Gift und Misstrauen verbreiten und weiter ihre unmaßgebliche und leider auch vollkommen inkompetente Meinung von sich geben, wird jede weitere Chance für die Zukunft verspielt. Sie behaupten leichtfertig und arrogant, dass die Palästinenser „wieder dabei sind, alle Möglichkeiten zu einem wirklichen Ausgleich auszulassen“. Sie denken dabei wohl an den berühmten Ausspruch Abba Ebans: „Die Palästinenser nutzen jede Gelegenheit, eine Gelegenheit zu verpassen“. Die Chance, die hier verspielt wird, ist nicht die Chance der Palästinenser, sondern die Chance der Israelis. Die Palästinenser sind ein geduldiges Volk, sie haben die 200 Jahre währende Herrschaft der Kreuzritter überlebt, die fast 700 Jahre andauernde Herrschaft der Osmanen und 30 Jahre britischer Herrschaft. Sie werden auch die Herrschaft der Israelis überleben, wenn die Israelis nicht bald aus dem Leben im Nebeneinander, ein Leben im Miteinander machen. Schon Martin Buber hat vor fast 100 Jahren gesagt: Wenn aus dem Nebeneinander nicht bald ein Miteinander wird, dann wird es am Ende zu einem Gegeneinander ausarten. Bei einem Gegeneinander haben aber die Palästinenser den längeren Atem und die größere Geduld. Denn, lieber Herr Graumann, wir Juden sind doch bekannt als ein sehr ungeduldiges Volk.
Und nun, 2014, haben Sie sich wieder gemeldet, als „bewusster und selbstbewusster“ Jude. Es wäre uns allen lieber Sie hätten sich als kritischer und selbstkritischer Jude geäußert. Sie behaupten auf deutschen Straßen sei „gegrölt“ worden, dass Juden „vergast, verbrannt und geschlachtet“ werden sollen. Wo haben Sie das gehört? Ich behaupte, dass Sie lügen und ich frage mich wie naiv und dumm man sein muss, um den einen oder anderen Irren ernst zu nehmen, dem die Emotionen durchgegangen sind. Ich behaupte, dass sie leichtsinnig und leichtfertig die Juden in Deutschland erschrecken und verunsichern. Das ist unverantwortliche Hetze. Sie beklagen sich, dass keine Welle der Solidarität angesichts der Welle von Antisemitismus gibt. Ich lebe auch in Deutschland, so wie Sie, uns sehe nirgends eine Welle des Antisemitismus. Es gibt diese Welle offenbar nur in Ihrem Kopf und womöglich ist es nur ein Wunschdenken, das aber nicht erfüllt werden wird. Solidarität mit wem? Es drängt sich zwingend die Frage auf, welche Art von Solidarität Sie eigentlich vermissen? Ist es vielleicht eine Solidarität mit Israel und seiner Vernichtung der Palästinenser in Gaza? Jeder sieht doch, dass Israel physische und strukturelle Gewalt gegen eine Zivilbevölkerung ausübt, die sich nicht wehren kann und behauptet dabei noch, dass es sich „nur“ verteidigt. Wie kann man sich mit einem solchen Israel solidarisieren?
Die Palästinenser, von den Stiefeln der Besatzer getreten und unterdrückt werden, haben nun in Gaza wieder einmal revoltiert. Es ist ja nicht das erste Mal. Nicht sie haben diesen Krieg begonnen. Dieser Krieg ist ihnen aufgezwungen worden. Er hat schon vor mehr als hundert Jahren begonnen, als die Zionisten begannen das Land zu besiedeln und es zu „judaisieren“. Der Widerstand der Palästinenser begann erst, als sie merkten, dass es den Juden nicht nur um eigene Siedlungen geht, sondern letztendlich um die politische Machtübernahme und die Vertreibung der Ureinwohner, der Palästinenser. Die aussichtslose Lage in der sich Palästinenser und Israelis befinden ist das Ergebnis der israelischen Rücksichtslosigkeit und Brutalität mit der sie das gesamte palästinensische Volk unterdrücken. Eines der Elemente dieser Unterdrückung ist die kompromisslose Belagerung von Gaza, die der Bevölkerung nicht erlaubt und ermöglicht wie freie Menschen zu leben. Schon seit mehr als fünfzig Jahren erklären die Palästinenser, dass sie sich mit dieser Lage nicht abfinden werden. Das Tunnelsystem, der zu so vielen Toten Palästinensern und inzwischen immerhin zu mehr als fünfzig tote israelische Soldaten geführt hat, ist kein Kriegsverbrechen, sondern eines der Wege zum Überleben.
Israel sitzt in der Falle, in einer Sackgasse, in die Israel bewusst selbst hineingetappt ist. Und nun kann Israel nur noch Gewalt anwenden und wenn es nicht nützt, dann noch mehr Gewalt. Und Sie, Herr Graumann, sind auch noch stolz darauf und behauptet, dass jeder, der es nicht gut findet und dagegen protestiert, ein Antisemit sei. Wie lange noch? Wann werden Sie und ihre Freunde endlich aufwachen und merken, dass fast die ganze Welt diese Art der Verteidigung nicht gut findet?
Der Kommandeur der Givati Brigade hat seine Soldaten aufgerufen Gott zu vertrauen und die Palästinenser zu „vertilgen“. Zu vertilgen? Das bedeutet, dass dieser Tagesbefehl ein Befehl zum Völkermord war. Wo waren Sie, Herr Graumann? Warum haben Sie nicht dagegen protestiert?
Und wen meinte Ihre Vorgängerin Charlotte Knobloch, wenn Sie behauptet, dass die israelische Armee stellvertretend für die freie Welt kämpft und deren Werte gegen den barbarischen Terror verteidigt? Hat denn nicht schon der Begründer des Zionismus gemeint, dass der Judenstaat ein Bollwerk gegen die Barbarei sein würde? Für Sie und Ihre Kollegin ist also Palästina der Beginn der Barbarei. Dabei hat ausgerechnet ein israelischer Religionsphilosoph, der berühmte Jeshajahu Leibowitz behauptet, nachdem die Israelis nicht mehr bereit waren die 1967 eroberte Gebiete an die Palästinenser zurückzugeben, dass diese Israelis Judeo-Nazis seien. Da verteidigen also Barbaren ihr Land gegen Barbaren? Und welche Barbaren sind die Verteidiger und welche sind die Angreifer? Schrieb nicht H.M. Broder vor einigen Jahren in der Jüdischen Allgemeinen Zeitung, das die Israelis die „Täter“ seien und er fügte hinzu: Aber es macht Spaß Täter zu sein, weil Täter länger leben. Was soll man dazu noch sagen?
Sie haben niemals protestiert, als israelische Politiker und Militärs von der israelischen Armee als von der „moralischsten Armee der Welt“ sprachen. Wie kann denn eine so moralische Armee gegen Kinder und Frauen kämpfen? Diese moralischste Armee hat schon seit fast fünfzig Jahren nicht mehr gegen eine andere Armee gekämpft, sondern hauptsächlich gegen Zivilisten und schlecht organisierten Widerstandskämpfer, die sie nicht müde werden Terroristen zu nennen. Sie haben bestimmt gegen Selbstmordattentate protestiert und diese als unmenschlich bezeichnet. Zu Recht. Haben Sie auch dagegen protestiert, dass ein feiger israelischer Pilot, der mitnichten sein Leben riskiert hat, eine tausend Kilo Bombe auf ein Wohngebiet abgeworfen hat, nur weil dort mutmaßlich ein „Terrorist“ sich versteckt hielt? Bei einer solchen Lage der Fakten hätte doch ein halbwegs anständiger deutscher Richter nicht einmal ein Haftbefehl ausgestellt.
Hören Sie doch endlich auf so selbstgerecht und so heuchlerisch zu sein. Hören Sie auf ununterbrochen: Haltet den Dieb zu rufen, während doch der Dieb ganz woanders ist. Wir Juden wollen endlich normal und in Ruhe leben und genießen die Solidarität einer Bevölkerung, die uns längst akzeptiert und zu der wir längst Vertrauen haben. Es reicht vollkommen wenn Kirchen und feige politische Eliten sich „vorbildlich positioniert“ haben. Diese reisen dann nach Jerusalem, als ob es Canossa wäre und beschwören die deutsche Solidarität mit den Juden. Und natürlich nehmen sie immer wieder ihren Hofjuden mit, weil sie so dumm sind zu glauben, dass dieser ihnen irgendwelche Türen öffnen kann.
Die Kritik gegen Israel wird immer lauter. Nur Sie schweigen und jammern selbstgerecht und verlogen, dass keiner auf Ihrer Seite ist. Es bleibt Ihnen aber die BILD-Zeitung, die blind und aufrecht sich mit Israel solidarisiert. Wie können Sie dann behaupten, dass es keine Solidarität mit den Juden gibt? Wollen Sie auch die Menschen auf den Straßen dazu bewegen, Israel zu unterstützen? Die Menschen auf der Straße sind aber nicht so naiv und dumm, wie Leute wie Sie annehmen bzw. hoffen. Leute wie Sie nennen mich einen „jüdischen Selbsthasser“, weil ich es wage gegen den brutalen israelischen Krieg zu protestieren. Nein, ich hasse keine Juden und mich selbst auch nicht. Ich schäme mich aber Jude zu sein angesichts der Heuchelei führender Juden wie Sie. Wenn ich trotzdem mich frei und offen zu meinem Judentum bekenne und es nicht leugne, dann nur deshalb, weil auch ich die Hoffnung nur am Ende verliere und noch ist kein Ende in Sicht. Ich bin aktiv bei der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden und in Tagen wie diesen kann ich nur ausrufen: Ich bin ein Palästinenser.