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Wegducken hilft nicht


11. Januar 2011

Die Friedensbewegung und der Nahostkonflikt: Nichts ist gut in Gaza, nichts ist gut im Westjordanland /Peter Strutynski

Am Samstag, den 27. Dezember 2008, begannen die israelischen Streitkräfte einen Krieg im Gazastreifen mit verheerenden Folgen für die dort lebende Bevölkerung. Es war ein »Krieg ohne Gnade«, wie Verteidigungsminister Ehud Barak vor dem Parlament in Jerusalem verkündete. Eine der am höchsten gerüsteten Armeen der Welt machte aus dem dichtbesiedelten, von allen Seiten abgeriegelten Gazastreifen ein
Trümmerfeld. Kampfflugzeuge, Panzer und Bulldozer verrichteten drei Wochen lang ihre zerstörerische Arbeit. Nach einem Bericht des britischen Fachmagazins The Lancet vom Februar 2009 sind schätzungsweise 1,5 Millionen Tonnen Sprengstoff auf Gaza abgeworfen worden, das macht pro Kopf der Bewohner eine Tonne! Ergebnis: Mehr als 1400 getötete Palästinenser, darunter etwa 300 Kinder, nahezu 6000 Verletzte. Israel gab die Zahl der eigenen Opfer mit 13 an: zehn Soldaten, von denen vier durch eigenes Feuer, und drei Zivilpersonen, die bei Raketenangriffen umkamen.

 

Die besondere Grausamkeit der israelischen Kriegführung, der Einsatz verbotener Waffen bzw. Munition (z.B. Phosphor, DIME-Geschosse) und die zahlreich begangenen Kriegsverbrechen sind hinlänglich belegt worden und haben nicht zuletzt auch dazu geführt, daß das Ansehen Israels in der Welt stark gesunken ist. Schon während des Krieges hatte der UN-Sicherheitsrat in einer Resolution (1860 vom 8. Januar 2009) Israel aufgefordert, die Kämpfe einzustellen und die Streitkräfte aus dem Gazastreifen zurückzuziehen. Ähnliche Appelle gab es von zahlreichen humanitären Organisationen und selbst von der Europäischen Union. Doch Israel zog seine Operation »Gegossenes Blei« erbarmungslos durch. In der erwähnten UN-Resolution wurde im übrigen auch die Aufhebung der israelischen Blockade gegen den Gazastreifen gefordert. Diese Forderung wurde in der Folge von der Zivilgesellschaft aufgegriffen, indem versucht wurde, die Land- und Seeblockade mit humanitären Hilfslieferungen zu überwinden. Dabei kam es Ende Mai 2010 zu einem folgenschweren Überfall der israelischen Armee auf eine Hilfsflotte, die sich noch in internationalen Gewässern befand; dabei kamen auf der unter Flagge der Komoren fahrenden »Mavi Marmara« neun türkische Passagiere ums Leben, mindestens 45 wurden zum Teil schwer verletzt. Auch gegen diesen Piratenakt erhob sich weltweit ein Sturm der Entrüstung.

 

Die Friedensbewegung hat sowohl während des Gazakriegs als auch anläßlich des Überfalls auf die Gaza-Hilfsflotte gegen die israelische Politik protestiert, mit Erklärungen und Petitionen, aber auch mit Demonstrationen und Mahnwachen. Daß es dabei zu gelegentlichen Haßäußerungen teilnehmender Palästinenser oder Türken kam, war verständlich. Begierig wurden aber genau solche Vorfälle von den Medien, insbesondere aber von den selbsternannten Israel-Freunden aus dem Zentralrat der Juden, der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und diversen »antideutschen« Gruppen zum Anlaß genommen, der Kritik an der israelischen Kriegs- und Blockadepolitik das Etikett »antiisraelisch« und »antisemitisch« anzuheften. Ein Vorwurf, der in Deutschland besonders schwer wiegt. Das wissen auch die sogenannten Israel-Freunde, weshalb sie dieses Etikett immer häufiger verwenden und damit zum Teil Erfolg haben, beispielsweise wenn Ausstellungen, die sich kritisch mit der israelischen Besatzung befassen, in Rathäusern oder anderen öffentlichen Einrichtungen oder Gewerkschaftshäusern verboten werden.

 

Auch Israel verstärkt seine Imagewerbung im Ausland. 2011 sollen die PR-Ausgaben in den wichtigsten europäischen Botschaften des Landes verdoppelt werden. Ziel ist eine öffentliche Pro-Israel-Kampagne, die mehr Verständnis für die Politik und die Rolle Israels im Nahostkonflikt wecken soll. Die Botschaften folgender Hauptstädte wurden für die Kampagne ausgewählt: London, Berlin, Rom, Madrid, Paris, Den Haag, Oslo und Kopenhagen. Schwerpunktmäßig sollen Personen rekrutiert werden aus lokalen Jüdischen Gemeinden, aktive Mitglieder christlicher Organisationen, Journalisten, Politiker, Intellektuelle,
Akademiker und Aktivisten studentischer Organisationen. Es ist also damit zu rechnen, daß die Hardliner unter den »Israel-Freunden« auch hierzulande ihre diffamierenden Aktivitäten – bezahlt oder nicht – verstärken werden.

 

Dabei ist klar: Nichts ist gut in Gaza, nichts ist gut im Westjordanland. Angesichts der wieder zunehmenden Gewalt und Repression gegen Palästinenser, angesichts der nach wie vor desaströsen humanitären Situation im abgeriegelten Gazastreifen, angesichts des Scheiterns der Friedensverhandlungen und der Kapitulation der US-Administration vor den Hardlinern der israelischen Rechtsregierung, angesichts der Untätigkeit der Europäischen Union und angesichts der nach wie vor als Staatsräson geltenden
»uneingeschränkten Solidarität« der Bundesregierung mit Israel muß die Friedens- und Menschenrechtsbewegung an ihren essentiellen Forderungen an die Bundesregierung und an die internationale Staatengemeinschaft festhalten:

 

– Stopp der Waffenlieferungen an Israel und Beendigung der Militärkooperation Israel–NATO;

 

– Schluß mit den privilegierten Handelsbeziehungen  Deutschland/EU–Israel; Einfuhrstopp für alle als »israelisch«  deklarierten Waren aus den besetzten Gebieten;

 

– eindeutige politische Initiativen zur Beendigung der Blockade des  Gazastreifens;

 

– Aufhebung der Kontaktsperre mit der Hamas-Administration im
Gazastreifen, der auf einer demokratischen Wahl beruhenden legitimen Vertretung der Palästinenser;

 

– sofortiger Stopp des illegalen Siedlungsbaus und des Landraubs im Westjordanland und in Ostjerusalem;

 

– internationaler Druck auf die israelische Regierung, endlich die
Vielzahl einschlägiger UN-Resolutionen anzuerkennen und auf ihrer Basis mit den Vertretungen der Palästinenser in Verhandlungen einzutreten.

 

In seiner Rede in Frankfurt am Main anläßlich des Gedenkens an die 72.Wiederkehr der Reichspogromnacht thematisierte Alfred Grosser am 9. November 2010 das »Leid der anderen«. Er meinte damit das Mitgefühl mit den Menschen im Nahen Osten, die vor über 60 Jahren ihre Heimat verloren haben und denen bis zum heutigen Tag grundlegende Menschen- und Bürgerrechte verweigert werden. »Heute sage ich, wenn es auch schockieren mag, daß man von keinem jungen Palästinenser erwarten kann, daß er das Schreckliche der Attentate einsieht, wenn man nicht ein echtes Mitgefühl zeigt für das große Leiden in Gaza und in den ›Gebieten‹.« Der Zentralrat der Juden in Deutschland und die israelische Botschaft in Berlin hatten im Vorfeld der Veranstaltung versucht, den Redner Alfred Grosser zu verhindern. Dessen Ansichten zu Israel seien »illegitim und unmoralisch«, behauptete die Botschaft.

 

Auch wenn die Auseinandersetzungen ungemütlicher werden: Ein Wegducken der Friedensbewegung hilft nicht. Wer das Feld den falschen Israel-Freunden überläßt, die in ihrer »uneingeschränkten Solidarität« zu Israel die Jahrzehnte dauernde Entrechtung der Palästinenser oder jeden noch so verheerenden Feldzug der israelischen Armee rechtfertigen, schädigt nicht nur das Ansehen Israels in der Welt, sondern trägt dazu bei, daß ein gerechter Frieden im Nahen Osten in immer weitere Ferne rückt. In einem aufsehenerregenden Brief an die Europäische Kommission haben vor kurzem angesehene ehemalige Staatschefs und hochrangige Minister ein »radikales Umdenken« in der europäischen Nahostpolitik angemahnt. Die »elder statesmen«, darunter Helmut Schmidt, Lionel Jospin, Mary Robinson, Javier Solana, Richard von Weizsäcker und Romano Prodi, plädieren für die Umsetzung des Völkerrechts und der entsprechenden Beschlüsse der Vereinten Nationen und der EU. Israel müsse die volle Verantwortung für sein Verhalten tragen. Daß hochrangige Politiker häufig erst dann ihre Stimme erheben, wenn sie nicht mehr im Dienst sind, ist beklagenswert. Noch beklagenswerter aber ist, daß dieser Brief bisher weder bei den Mainstream-Medien noch bei der Bundesregierung auf Resonanz gestoßen ist. Auch deshalb muß die Friedensbewegung der Stimme der Vernunft in der Öffentlichkeit mehr Ausdruck verleihen.

 

Der Kasseler Politikwissenschaftler Peter Strutynski ist Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag (www.ag-friedensforschung.de)

 

aus: Junge Welt, 4.1.2011–