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Vergleich und Erinnerung


11. Dezember 2010

Die Grosser-Kontroverse – oder: Wann ist Kritik an Israels Besatzungspolitik passend und zeitgemäß?

 

 

Von Norman Paech *

 

Es ist immer wieder dasselbe. Ja, natürlich ist Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern berechtigt. Das ist der allgemeine Tenor ihrer Kritiker, ob vom Zentralrat der Juden oder den Antideutschen und ihrem Umfeld. Aber wird die Kritik vorgebracht, klar und unmißverständlich wie von Felicia Langer, Richard Falk, Richard Goldstone, Mosche Zuckermann, Norman Finkelstein, Ilan Pappe oder jüngst Alfred Grosser, so ist sie entweder antisemitisch, durch unzulässige Vergleiche mit dem Holocaust vergiftet oder – wie bei Grossers Rede zum 9. November – unzeitgemäß. Bemerkenswert ist, daß die Vorwürfe in wesentlich robusterer Manier vorgetragen werden, als die Kritiker ihre Kritik an der israelischen Regierung äußern. Das reicht von der Beschimpfung bis zum Verbot des Auftritts und man fragt sich, warum das so ist, was diesen Kreuzzug gegen die Kritik so motiviert?

 

Die Fakten können es nicht sein, denn sie sind kaum bestreitbar und werden auch von den Kritikern großenteils nicht bestritten. Sie werden nicht irgendwelchen dubiosen Quellen entnommen, sondern stehen fast täglich in der gängigen Presse, auch in Israel. Ob es sich um die Siedlungspolitik, die Vertreibungen in Ost-Jerusalem, die Zustände in der Westbank oder im Gazastreifen, die völkerrechtlichen Grundlagen oder die verbalen Ausfälle so mancher israelischer Prominenz handelt. Die Erwähnung der Fakten ist für sich genommen nicht antisemitisch. Sie stellt auch das Existenzrecht Israels nicht in Frage. Der Vorwurf des Antisemitismus – auf die jüdischen Kritiker als »Selbsthaß« zugeschnitten – bezieht sich offensichtlich auf etwas anderes: denn diese Kritik ist permanent und unnachgiebig, und gegen die Beweiskraft ihrer Fakten gibt es kein rationales Argument. Sie erzeugt ein Gefühl der argumentativen Ohnmacht, der man nur durch den Antisemitismusvorwurf zu entkommen glaubt. Dieser Vorwurf ist dank der deutschen Geschichte »tödlich«, er exkommuniziert gleichsam den Gegner und tabuisiert ihn. Daß sein inflationärer Gebrauch den Vorwurf zunehmend selbst entwertet und stumpf macht, wird offensichtlich mangels Alternative in Kauf genommen. Es hat aber auch dazu geführt, daß subtiler Argumentierende ihn nicht mehr bedienen.

 

Neue Kritikvariante

 

Ganz anders verhält es sich mit dem Vorwurf des unzulässigen Vergleichs der Situation der Palästinenser mit dem Vernichtungsschicksal der Juden, ob dies mit den Begriffen Holocaust oder Warschauer Ghetto geschieht. In der Tat wird dieser Vergleich vornehmlich von Juden gebraucht, deren eigene Familiengeschichte von diesem Grauen gezeichnet ist. Ein Vergleich ist immer noch keine Gleichsetzung. Dennoch halte ich diese Metaphern für ungeeignet, die Katastrophe des palästinensischen Volkes (Naqba) zu definieren, und dementsprechend eine Bezichtigung ehemaliger Opfer nun als Täter für unzulässig. Die Geschichte des jüdischen Staates, die Entstehung Israels und seine Notwendigkeit werden jedoch immer wieder mit dem Holocaust, dem Völkermord an den Juden im Faschismus, begründet, so daß diese Verbindung geradezu konstitutiv geworden ist für den jüdischen Diskurs auch um die Zukunft Israels. Die Anfänge der Siedlung in Palästina und die systematische Kolonisierung des Landes haben lange vor der Vernichtung der europäischen Juden begonnen. Die Legitimation – in den Augen der Juden selbst und der Staaten, deren Antisemitismus die Juden vertrieben und vernichtet hat – bekam der Staat jedoch erst mit dem Holocaust. Und so verständlich der Rückgriff auf den Holocaust als legitimatorische Basis für Existenz und Sicherheit Israels auch ist, so verständlich müßte dann auch die Erinnerung der Überlebenden an jene dunkle Zeit sein, wenn sie mit Bildern der aktuellen Gewalt gegen Palästinenser konfrontiert werden. So wie der israelische Journalist, der in Ari Folmans Film »Waltz with Bashir« beim Anblick der palästinensischen Frauen, die mit erhobenen Händen aus den Lagern Sabra und Shatila herauskommen, unmittelbar an Bilder aus dem Warschauer Ghetto erinnert wird. Oder jene protestierenden US-amerikanischen Juden, die bei den Bildern aus Gaza ebenfalls an das Warschauer Ghetto erinnert werden. Die Verklammerung von Geschichte und Gegenwart wird in Israel wie in der Diaspora nicht nur die positive Assoziation »Israel als sichere Zuflucht«, sondern immer auch den Schrecken der Gewalt wieder hervorrufen, wenn in Gaza die Gewalt jedes völkerrechtliche Maß überschreitet.

 

Aber niemand anders hat diese Erinnerung, niemand anders darf sie deshalb auch benutzen. Ein Verbot hütet jedoch nicht die Einmaligkeit des Verbrechens, die der Vergleich nicht antastet. Die Einmaligkeit kann überhaupt nur im Vergleich mit anderen Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen erkannt werden – und Erinnerungen lassen sich dabei nicht unterdrücken.

 

Alfred Grosser ist nun mit einer dritten Variante der Kritik an der Kritik konfrontiert worden: die falsche Rede zum falschen Zeitpunkt. Der 9. November habe allein dem Gedenken der Reichspogromnacht 1938, dem Beginn der Vernichtung der Juden gewidmet zu sein, Kritik an Israel an diesem Tag sei unpassend, pietätlos und zerstöre das Geschichtsbewußtsein. Wäre es nach dem Zentralrat der Juden gegangen, hätte er überhaupt nicht reden sollen. Dieses Verbot hat nun nichts mit dem 9. November zu tun. Es bezieht sich offensichtlich auf Grossers Unterstützung für Martin Walsers Kritik an der »Auschwitz-Keule«. »Ja«, hatte er im Oktober 2007 in einem Interview gesagt, »ich sehe diese Keule, die ständig gegen Deutsche geschwungen wird, falls sie etwas gegen Israel sagen. Tun sie es trotzdem, sagt die Keule sofort: ›Ich schlage dich mit Auschwitz.‹ Ich finde das unerträglich. Ich habe immer gegen Antisemitismus gekämpft. Und ich werde es immer tun! Aber Israel-Kritik per se mit Antisemitismus gleichzusetzen – das ist falsch und führt in die Irre.« Grosser drehte sogar den Spieß um und warf Israels Politik vor, Antisemitismus zu fördern.

 

Amputiertes Gedenken

 

Der Zentralrat hat die Rede nicht verhindern können. Aber ist es unzeitgemäß, an diesem Tag, 72 Jahre danach, auch den Umgang Israels mit den Palästinensern zu thematisieren? Wo jeder Tag neue Meldungen über die Zerstörung palästinensischer Häuser, die Vertreibung ihrer Bewohner, gezielte Tötungen, Gewalt gegen Beduinen im Negev, Aufrufe, keine Wohnungen an Araber zu vermieten, und das Verbot, der Naqba öffentlich zu gedenken, etc. in unseren Medien bringt? Es gibt keinen Tag, der von den israelischen Behörden oder ihrer Armee als unpassend angesehen wird, die Besatzung mit derartigen Maßnahmen zu verschärfen. Hat an einem solchen Tag die Mahnung der Menschenrechte Pause, da ihr ja einen Monat später am 10. Dezember ein eigener Gedenktag vorbehalten ist? Grosser tritt offensiv dafür ein, daß gerade an einem solchen Tag der aktuellen Situation gedacht werden muß: »Ich gehe sogar so weit zu sagen, daß junge Deutsche Auschwitz nur gedenken dürfen, wenn sie gleichzeitig für die Gleichheit der Menschen überall in der Welt eintreten, also auch für die Palästinenser. Das ist die zwingende Konsequenz aus Auschwitz und ein Gedenken daran verlangt geradezu, dies offen anzusprechen.«

 

Der Vorwurf, dies zerstöre historisches Bewußtsein, ist so grundfalsch wie die Verweigerung des Gedenkens selbst. Historisches Gedenken macht überhaupt nur dann Sinn und wird zu historischem Bewußtsein, wenn es sich in der Gegenwart verankert. D. h. es muß für die Gegenwart Sinn machen. Diese Gegenwart ist von dem Konflikt mit den Palästinensern geprägt. Wer sich aber an einem solchen Gedenktag von der Gegenwart befreien will, amputiert das Gedenken und degradiert es zum Seniorentreffen. Wie fern sich diese offiziellen Zeremonien bereits von den Gefahren der Gegenwart entfernt haben, zeigt die deutsche Politik. Ihre bedingungslose Unterstützung der israelischen Regierungspolitik, garniert mit vorsichtigen Mahnungen im diplomatischen Raum und Ablaßzahlungen an die Palästinenser, führt genau in das Gegenteil dessen, was sie vorgibt zu unterstützen: die Garantie der Existenz Israels in Frieden mit den Nachbarn. Es bedarf keines Beweises mehr, daß die Politik und die Kriege der letzten Regierungen Israels Position im Mittleren Osten dramatisch verschlechtert haben. Raub und Gewalt werden immer mehr zur Basis einer Besatzungspolitik, die nicht nur einfachen völkerrechtlichen Standards widerspricht, sondern allen Bekenntnissen zu Humanität und Menschenrechten Hohn spricht. Sollte es aus der Vergangenheit eine Lehre für die deutsche Politik geben, so wäre sie die, eine solche Politik nicht mehr zu unterstützen, sondern alle Hebel in Bewegung zu setzen, um eine Umkehr zu bewirken. Die allgemeine Losung lautet zwar, einen palästinensischen Staat in sicheren Grenzen neben Israel zu schaffen. Die Politik läuft aber in die entgegengesetzte Richtung und macht dieses Ziel immer mehr zur Farce. Nichts gefährdet die Existenz Israels stärker als das Andauern der Besatzung. Einen solchen Zustand unablässig zu kritisieren, ist an keinem Tag unpassend noch unzeitgemäß.

 

* Aus: junge Welt, 29. November 2010

 

Seine Ansichten zu Israel sind “illegitim und unmoralisch”
Botschaft Israels: Kritik an Einladung Alfred Grossers

Israels Gesandter in Berlin, Emmanuel Nahshon, hat die Entscheidung der Stadt Frankfurt am Main kritisiert, den französischen Politologen Alfred Grosser als Hauptredner zur Gedenkstunde an das Judenpogrom vom 9. November 1948 in der Paulskirche einzuladen…
Der Jerusalem Post teilte der Diplomat mit, dass diese Ehrbezeugung gegenüber dem für seine antiisraelischen Stellungnahmen bekannten Grosser einen „bedauerlichen und unnötigen Schatten“ auf die Veranstaltung werfe. Dessen Ansichten zu Israel seien „illegitim und unmoralisch“.

Grosser wurde 1925 in Frankfurt in eine deutsch-jüdische Familie hineingeboren, die 1933 nach Frankreich emigrierte. Er hat Israels Politik gegenüber den Palästinensern in jüngerer Zeit mit der antijüdischen Politik der Nazis in den frühen 30er Jahren verglichen.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland sprach sich bereits scharf gegen einen Auftritt Grossers bei der Gedenkstunde aus.

The Jerusalem Post, 07.11.10

Dokumentiert: Auszug aus der Rede Alfrede Grossers   09.11.2010

In meinen Augen gibt es zwei nicht gerade immer hervorgehobene Grundwerte, die für mich gerade bei der Betrachtung der abgründigen Vergangenheit zentral sind. Der eine ist das Mitgefühl mit dem Leiden der anderen. Ignatz Bubis hatte das. In der ihm gewidmeten Ausstellung im Frankfurter Jüdischen Museum konnte man sehen, wie er sofort mitfühlend da war, wenn ein türkisches Haus in Flammen stand. In einer harten Diskussion mit Erika Steinbach sagte ich: „ Sie brauchen mich nicht über deutsches Leiden aufzuklären. In meinem ersten Deutschland-Buch L’Allemagne de l’Occident 1945-1952, Anfang 1953 erschienen, sprach ich von den Bombennächten in Hamburg und in Dresden, auch von den Millionen Vertriebenen, von denen viele Tausende nie angekommen sind. Warum? Weil wir von keinem jungen Deutschen verlangen konnten, das Ausmaß von Hitlers Verbrechen zu verstehen, solange wir nicht ein echtes Mitgefühl gezeigt hatten für die Leiden der Seinen.

Heute sage ich, wenn es auch schockieren mag, dass man von keinem jungen Palästinenser erwarten kann, dass er das Schreckliche der Attentate einsieht, wenn man nicht ein echtes Mitgefühl zeigt für das große Leiden in Gaza und in den „Gebieten“. Dabei darf man doch die Hoffnung haben, dass eines Tages die Formeln zur Wirklichkeit werden, die David Ben Gurion am 14.Mai 1948 verwendet hat, die der Grundeinstellung des „laizistischen“ Theodor Herzl entsprachen und deren Anwendung durch vielseitiges Verschuldung vereitelt wurde:

Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der Juden im Exil offen stehen. Er wird sich der Entwicklung des Lands zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Propheten Israels gestützt sein. Er wird allen seiner Bürger, ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen.

Diese Anerkennung der Gleichheit aller, des Respekts für alle scheint mir wichtiger für den Frieden zu sein als die Waffengewalt. Vielleicht weil ich an den Sammelband denke, den mir Kollegen und ehemalige Studenten zu meinem 65. Geburtstag gewidmet haben und in dem alle das vielseitige Thema des Titels behandelten: L’Autre – der Andere.

Um das Leiden der Anderen zu verstehen – und das habe ich für Serben und Kroaten „gepredigt“, in Beirut, in Budapest, in Prag, in Warschau, auf Zypern – muss man den zweiten Grundwert praktizieren, jenen, den Immanuel Kant in seinem Was ist Aufklärung? gemeint hat, als er aufforderte, frei zu denken. Wenn ich allen Erziehern einen Auftrag stellen könnte, würde es sein: Stellt euch die Frage: „Wie kann ich befreien ohne zu entwurzeln?“. Jeder sollte seine Zugehörigkeiten in Frage stellen, ohne sich von ihnen loszulösen. Es ist, weil ich voll Franzose geworden war, dass ich während des Algerienkriegs ständig die französischen Dörfervernichtungen und Folterungen in Wort und Schrift brandmarkte. Es ist, um mit Hitler zu sprechen, weil meine vier Grosseltern und meine beiden Eltern Juden waren, dass ich mehr Hoffnung auf eine Veränderung der Politik Israels lege als wenn es sich um ein afrikanisches oder südamerikanisches Land handeln würde.

Aber nicht nur deswegen. Israel gehört zu unserer westlichen Welt. Im Namen derer Werte treten wir anderen Kontinenten gegenüber und verlangen von ihnen, dass sie diese unsere Werte praktizieren. Da sind wir nur glaubwürdig wenn wir exemplarisch sind. Das gilt für die französischen Gefängnisse, deren menschenunwürdigen Zustände regelmäßig vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Recht verurteilt werden. Das gilt für die vollstreckten Todesurteile in den USA, denen vor allem arme oft unschuldige Schwarze zu Opfer fallen. Das gilt für die Art, wie wir die Asylsuchenden behandeln.

Ist das leerer Moralismus, reine Naivität? Ich glaube es nicht. Warum haben wir denn gegen Hitler gekämpft, wenn nicht im Namen einer Moral? Am 9. November 1938 ist diese Moral noch verbrecherischer mit Füssen getreten worden, als es bereits seit dem 30. Januar 1933 geschehen war. Und die Pogromnacht, die Pogromtage, die folgten, waren ein Vorspiel für eine Menschenvernichtung, die in ihrer Methode und ihrem Ausmaß auch die schlimmsten Erwartungen bei weitem übertraf.

Mancher von Ihnen wird nicht eingesehen haben, was ich in meiner Rede gemeint und gewollt habe, wie sehr die schöpferische Erinnerung seit bald sieben Jahrzehnten mein Leben und ein Wirken bestimmt hat. Aber ich muss da hier sagen, wie Martin Luther vor dem Kaiser: “Hier stehe ich und kann nicht anders”.

Quelle: Presseamt der Stadt Frankfurt a.M.;

aus: Friedensratschlag Kassel: www.ag-friedensforschung.de