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Die Mauer nährt den Widerstand


24. November 2010

Von Marlene Kalt, Dschayus

Mit wöchentlichen Protesten und unter den Augen von internationalen BeobachterInnen trotzen die PalästinenserInnen den Sperr­anlagen, die ihnen das Leben schwermachen. Und mit denen Israel unverhohlen Landraub begeht.

 

Im Oktober, nach dem ersten Regen der Saison, beginnt die Olivenernte. Dann ruckeln die palästinensischen BäuerInnen mit ihren Eselskarren oder Minitraktoren über das steinige Land, breiten zerschlissene Plastikblachen unter ihren Bäumen aus und streifen mit kleinen Handrechen die Früchte aus dem Geäst. In Dschayus, einem Dorf im Westjordanland, das an der Grenze zum israelischen Kernland liegt, bestimmt der israelische «Sicherheitszaun» den Arbeitsalltag. Das Durchgangstor, das die Bäuer­Innen auf dem Weg zu ihren Feldern passieren müssen, ist frühmorgens, mittags und abends jeweils eine halbe Stunde geöffnet. ­Israelische SoldatInnen kontrollieren die Passierscheine.

 

Der Zaun ist Teil der 759 Kilometer langen Sperranlage, die in städtischen Gebieten aus Beton und auf dem Land aus Maschendraht besteht. Sie schlängelt sich teilweise entlang der sogenannten Grünen Linie, der Waffenstillstandslinie von 1949 zwischen Israel und dem Westjordanland. Mancherorts reicht sie allerdings tief in palästinensisches Gebiet hin­ein. Israel betont, dass damit keine neue Grenze gezogen werde. Faktisch wird das Land jedoch der israelischen Seite zugeschlagen: Während darauf ungehindert jüdische Siedlungen entstehen und Israeli das Gebiet jederzeit betreten dürfen, müssen PalästinenserInnen, die in dieser Zone Boden besitzen, für den Zugang Passierscheine beantragen. Vor allem junge Menschen bekommen jedoch aus «Sicherheitsgründen» oft keine Genehmigung.

 

Zeugen- und Feldarbeit

 

Dschayus war der erste Ort, in dem sich organisierter Widerstand gegen die Sperranlage regte. 2003 wurde sie hier gebaut, sechs Kilometer diesseits der Grünen Linie auf palästinensischem Boden. Tausende Bäume wurden dafür gefällt. Den DorfbewohnerInnen war damit der Zugang zu ihrem grundwasserreichen, fruchtbaren Gebiet versperrt, auf dem 2004 eine jüdische Siedlung gebaut wurde. Zuerst schnitten die Dschayusi immer wieder den Maschendraht auf, bewarfen Armeejeeps mit Steinen, verschanzten sich auf ihren Feldern und weigerten sich, Passierscheine zu beantragen. Die Armee reagierte mit nächtlichen Razzien, Verhaftungen und Einschüchterungen. Danach änderten die BewohnerInnen ihre Strategie.

 

Abu Assam, Exkommunist, 7 Kinder, 23 Enkel und 3600 Olivenbäume, spielte dabei eine wichtige Rolle: «Ich bin wie der Olivenbaum», sagt der 67-Jährige. «Ich kann niemals von hier weg.» Um bleiben zu können, musste er dennoch zunächst fort: Abu Assam reiste ins Ausland, wo er über die Situa­tion in Dschayus informierte und Kontakte knüpfte. Dank seines Engagements sind heute das ganze Jahr über MenschenrechtlerInnen im Dorf präsent. Und die Olivenerntekampag­ne entstand: Jeweils im Herbst kommen Freiwillige aus Israel und anderen Ländern hierher, um die BäuerInnen auf die Felder zu begleiten. «Dabei geht es weniger um ihre Arbeit auf dem Feld», sagt Abu Assam. «Entscheidend ist ihre Anwesenheit.» Die Freiwilligen sind wichtige ZeugInnen, wenn SoldatInnen und aggressive SiedlerInnen die ­PalästinenserInnen von deren Land zu vertreiben suchen. Durch ihre Anwesenheit beugen sie Schikanen und Übergriffen vor.

 

Auch im Dorf al-Maasara, südlich von Bethlehem, sind solche ZeugInnen anwesend. Durch den – hier noch unvollendeten – Mauer­bau droht dem Dorf der Verlust von sechzig Prozent seines Landes an die umliegenden Siedlungen. Seit 2006 finden hier jeden Freitag Strassenproteste gegen den Mauerbau statt. An diesem Tag im Oktober demonstrieren rund vierzig Personen, die Hälfte von ihnen sind internationale AktivistInnen und MenschenrechtlerInnen.

 

Der Vorsteher des lokalen Volkskomitees, das die Demonstrationen organisiert, verkündet über ein Megafon die neusten Nachrichten: SiedlerInnen haben in einem benachbarten Ort in der Nacht eine Moschee angezündet, und in Hebron hat am Vortag ein israelischer Soldat drei Palästinenser erschossen. Bevor sich der Menschenzug in Bewegung setzt, erinnert der Vorsteher daran, dass dies ein friedlicher Protest ist.

 

Verletzung des Völkerrechts

 

Ob der Bau einer Mauer auf der Grenzlinie rechtens ist, ist umstritten. Israel beruft sich auf sein Recht auf Selbstverteidigung und Schutz vor SelbstmordattentäterInnen. Dem halten KritikerInnen entgegen, dass die Sperranlage die Bewegungsfreiheit und das Leben der PalästinenserInnen beeinträchtige. In einigen Punkten ist die Sache allerdings klar: Das Völkerrecht verbietet den Bau von Siedlungen in besetztem Gebiet – und diese beeinflussen den Mauerverlauf massgeblich. Zudem kam 2004 der Internationale Gerichtshof in Den Haag in einem Gutachten zum Schluss, dass die Sperranlagen dort, wo sie von der Grünen Linie abweichen, die Vierte Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten verletzen, einen auch von Israel ratifizierten Völkerrechtsvertrag.

 

Diese Sichtweise wurde vom Obersten Gericht Israels in mehreren Fällen indirekt bestätigt, so auch für al-Maasara. Pa­rallel zu den Protesten hatten die EinwohnerInnen ein Verfahren angestrengt, um den Verlauf der Mauer anzufechten. Das Obers­te Gericht entschied zugunsten des Dorfs. Doch das Militär kassierte den Entscheid mit Verweis auf die ­Sicherheitsinteressen der SiedlerInnen. Die Mauer wird wie geplant weitergebaut.

 

Der Protestzug von al-Maasara kommt am Dorfrand an. Von hier aus wollen die DemonstrantInnen auf eine grössere Strasse gelangen, doch israelische Soldaten und Polizisten stehen bereit, um die Gruppe zu stoppen. Die Strasse ist den SiedlerInnen vorbehalten. Die DemonstrantInnen rufen Parolen oder versuchen zu verhandeln, die Soldaten werfen rauchende Knallkörper, die die Menschen auseinandertreiben. Manchmal setzen die Soldat­Innen aber auch Tränengas ein oder verhaften DemonstrantInnen. Der Ablauf ist beinahe schon Routine.

 

In anderen Dörfern geht es bei den ­Freitagsdemonstrationen oft hitziger zu: ­Jugendliche werfen mit Steinen und beschädigen den Zaun, die SoldatInnen schiessen mit Gummi­schrot oder scharfer Munition. Bei den Zusam­menstössen gibt es unter den Palästinen­ser­Innen immer wieder Schwer­verletzte und Tote.

 

Dass die Widerstandsbewegung dadurch jedoch eher noch gestärkt wird, zeigte sich im April 2009. Damals wurde der 31-jährige Bassem Ibrahim Rahma im Dorf Bilin von einer Tränengaspetarde in die Brust getroffen und starb auf dem Weg ins Spital. Seine Freund­In­nen stellten daraufhin einen Kurzfilm über sein Engagement und seinen Tod ins Internet. Rahma gilt seither als Märtyrer und als «Symbol von Bilin».

 

Die Soldaten beschäftigen

 

Auch Masin Kumsiyeh nimmt an den Protesten in al-Maasara teil. Der 53-Jährige ist Bio­lo­gie­pro­fes­sor, Publizist, Buchautor, Aktivist und Organisator. «Der Zweck dieser Übung in al-Maasara ist es, diese Jungs beschäftigt zu halten», sagt Kumsiyeh lächelnd und deutet in Richtung der Soldaten. Israel zu beschäftigen, ist so etwas wie sein Lebensinhalt geworden. Nach 24 Jahren in den USA ist Kumsiyeh in seine Heimat ­zurückgekehrt, um sich für die Rechte der ­PalästinenserInnen einzusetzen. Im Bethlehem District, wo er lebt, ist der Verdrängungskampf besonders ausgeprägt: Bereits vierzig Prozent des Landes sind für die PalästinenserInnen nicht mehr zugänglich, weil Siedlungen oder Sperranlagen es blockieren.

 

Israelische Solidarität

Kumsiyeh hat verschiedene Friedens- und Menschenrechtsorganisationen gegründet. Er hilft mit, internationale AktivistInnen ins Land zu holen, und schreibt gegen Is­raels Besatzungspolitik an. In seinem kürzlich ­erschienenen Buch «Popular ­Resistance ­in Palestine» (Volkswiderstand ­in Palästina) beschreibt er den zi­vilen Widerstand seit den Anfängen der zionistischen Bewe­gung Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute.

 

Seit rund zehn Jahren internationalisiert sich laut Kumsiyeh die AktivistInnenszene zunehmend. Die jüngste Widerstandswelle hat einen klaren Auslöser: «Nach dem Bau der Mauer gab es einen qualitativen und quantitativen Sprung im zivilen Widerstand», schreibt Kumsiyeh. So gibt es neben den Freitags­demonstrationen und der Olivenerntekampagne immer wieder Blockadeaktio­nen gegen den Mauerbau, bei denen sich AktivistInnen beispielsweise an Bulldozer ketten.

 

Weil PalästinenserInnen von Gesetzes wegen härter angefasst werden – sie unterstehen dem israelischen Militärrecht, während für alle anderen das zivile Strafrecht gilt –, stellen sich AusländerInnen oft zuvorderst hin, wenn Verhaftungen drohen. Auch Israeli sind oft mit dabei, zum Beispiel der 28-jährige Jonathan Pol­lak, ein Anarchist aus jüdisch-liberalem Haus. Pol­lak gehörte zu den ersten Israeli, die sich 2003 der Widerstandsbewegung im Westjordanland ­angeschlossen haben. Im gleichen Jahr gründete er die Gruppe AnarchistInnen gegen die Mauer mit, die zusammen mit Paläs­tinenserInnen Widerstandsaktionen organisiert.

 

Pollak ist gerade mit Medienanfragen beschäftigt, da ein palästinensischer Demonstrationsveranstalter zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden ist. Dieses Urteil löste auch eine Protestnote der EU aus, die das «legitime Recht auf friedlichen Protest gegen die Mauer» verletzt sieht.

 

Das Engagement gegen die Mauer ist aber nicht nur für PalästinenserInnen gefährlich. So hatte Pol­lak durch eine Tränengaspetarde einen Schädelbruch erlitten. Bereits zweimal wurde er wegen Teilnahme an illegalen Demonstrationen verurteilt, und derzeit sind fünf weitere Verfahren gegen ihn hängig. Trotzdem ist es für ihn selbstverständlich, in diesem Konflikt Stellung zu beziehen. «Wir anerkennen dieses System der Besatzung nicht», sagt er im Gespräch mit der WOZ. «Für die Armee­einsätze, die Siedlungen und die Mauer gibt es keine demokratische Legitimation.» Das alles geschehe unter Militärrecht. «Weder Israeli noch Palästinenser dürfen darüber bestimmen und mitentscheiden.»

 

www.popularstruggle.org

 

Vorbild Südafrika

 

Erste Erfolge der Boykottkampagne

 

Manchmal hängt es in palästinensischen Amtsstuben neben einem Porträt des 2004 verstorbenen PalästinenserInnenführers Jassir Arafat: das Konterfei von Südafrikas früherem Präsidenten Nelson Mandela. Sein Freiheitskampf und die internationalen wirtschaftlichen Sanktionen, die zum Fall des Apartheidregimes beigetragen haben, sind Vorbild für eine breit angelegte internationale Kampagne, die langfristig die israelische Besatzung überwinden soll. Sie nennt sich Boycott, Divestment and Sanctions (Boykott, Rückzug von Investitionen und Sanktionen) und wurde im Juli 2005 von 172 palästinensischen Organisationen lanciert. Sie ruft zum wirtschaftlichen, militärischen, kulturellen, sportlichen und akademischen Boykott Israels auf.

 

Einige Erfolge gab es bereits zu verbuchen: So sagten Musiker wie Carlos Santana, Elvis Costello oder Gil Scott Heron ihre Auftritte in Israel ab. Zwei italienische Grossverteiler nahmen israelische Agrargüter aus dem Sortiment, weil diese teilweise aus illegalen Siedlungen stammen. Der staatliche norwegische Pensionsfonds zog Kapital aus israelischen Firmen zurück, die am Bau von Siedlungen oder Sperranlagen beteiligt sind. Daneben gibt es gezielte Kampagnen gegen Firmen, die von der israelischen Besatzung profitieren, darunter die US-Konzerne Caterpillar und Motorola. Auch in der Schweiz hat sich ein BDS-Unterstützungskomitee gebildet.

 

www.bdsmovement.net

 

www.bds-info.ch

 

WOZ vom 18.11.2010

 

http://www.woz.ch/artikel/newsletter/20046.html