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Noam Chomsky spricht über Wahrheit und Macht


15. Juli 2010

Von DAVID TRESILIAN, 2. Juli 2010

Als eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen in der Welt und als führender Kritiker Israels hat sich Noam Chomsky während seiner Karriere stets auf die Seite der Machtlosen gestellt, während er die Mächtigen gleichzeitig an die unbequemen Wahrheiten erinnerte, die sie lieber vergäßen. Er sprach mit David Tresilian in Paris.

 

Professor Noam Chomsky ist für seine berufliche Arbeit in der Linguistik und der Philosophie genauso bekannt wie für seine Schriften über Politik und soziale Fragen. Er war letztes Wochenende auf Einladung von Le Monde diplomatique und dem Collège de France in Paris. Chomskys Terminplan, der aufgeteilt war zwischen einem von Jacques Bouveresse – Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie der Sprache und des Wissens am Collège de France – organisierten akademischen Seminar und einer Reihe von Interviews zu politischen Fragen, die in einer von Le Monde diplomatique organisierten öffentlichen Veranstaltung gipfelten, zeugte sowohl von der Spannweite seiner Arbeit als auch von dem großen Ansehen, das er in Frankreich genießt.

 

Er wurde 1928 geboren und ist jetzt über achtzig Jahre alt; dieser Terminplan wäre für einen nur halb so alten Mann ermüdend gewesen. Chomsky schien trotzdem gelassen zu bleiben als er bei beiden Veranstaltungen Fragen des Publikums bis spät in den Abend beantwortete, nachdem er mehrere Stunden ununterbrochen in breitgefächerten Vorträgen über US-Außenpolitik, aktuelle internationale Politik und die Situation in den Weltregionen, die zu seinen Sondergebieten gehören, wie Lateinamerika, der Nahe Osten und Südostasien, sprach.

 

Sowohl das Seminar am Collège de France, das sich auf Fragen der Wahrheit und öffentlichen Vernunft in einer mit dem englischen Philosophen Bertrand Russell und dem Schriftsteller George Orwell assoziierten Tradition konzentrierte und simultan per Internet übertragen wurde, als auch die spätere öffentliche Veranstaltung waren stark überlaufen und Chomskys Auftritt wurde beide Male mit Begeisterung und Zuneigung seitens derjenigen, die in einigen Fällen eine weite Anreise durch Europa auf sich genommen hatten, begrüßt.

 

Chomsky sprach überzeugend über aktuelle Themen – ein Zeichen dafür, dass seine außergewöhnliche Intelligenz und sein Einsatz für soziale Veränderung unvermindert sind. Er stützte sich dabei auf über ein halbes Jahrhundert politischen Aktivismus sowie Dutzende Bücher und Artikel, darunter seine schlagkräftigen Werke über den Vietnamkrieg, American Power and the New Mandarins (1969) und For Reasons of State (1973), seine Arbeiten über die Stellung Intellektueller im gesellschaftlichen Leben der USA und die Rolle der Medien, Manufacturing Consent (mit Edward Herman, 1988), seine spezialisierten Arbeiten über Israel und Palästina, Fateful Triangle: the United States, Israel and the Palestinians (1983 & 1999), den Nahen Osten, Perilous Power: the Middle East and US Foreign Policy (mit Gilbert Achcar, 2007) und über US-Außenpolitik, Hegemony or Survival: America’s Quest for Global Dominance (2003).

 

Ein neues Buch erschien zeitgleich mit Chomskys Aufenthalt in Paris; die mit Hopes and Prospects betitelte Ausgabe ist eine Sammlung kürzlich erschienener Artikel über Lateinamerika, die Vereinigten Staaten, den Nahen Osten und Israel.

 

Trotz seines vollgepackten Programms fand Noam Chomsky Zeit, mit Al-Ahram Weekly über seine Ansichten zur aktuellen Situation im Nahen Osten und zur US-Politik gegenüber Israel, Palästina und der gesamten Region zu sprechen. The Weekly ist geehrt, dieses Interview hier in der leicht überarbeiteten Version zu präsentieren.

 

The Weekly: Zunächst bitte ich Sie um eine Stellungnahme zu dem Angriff Israels auf die Freiheits-Flottille, die sich in internationalen Gewässern auf dem Weg nach Gaza befand.

 

Noam Chomsky: Die Entführung von Schiffen in internationalen Gewässern und die Tötung von Passagieren ist natürlich ein schwerwiegendes Verbrechen. Die Redakteure des Londoner Guardian haben völlig recht zu sagen: „Wenn eine bewaffnete Gruppe somalischer Piraten gestern sechs Schiffe auf hoher See geentert und dabei mindestens 10 Passagiere getötet und viele weitere verletzt hätte, dann wäre heute eine NATO-Einsatztruppe auf dem Weg an die somalische Küste.“

 

Man sollte bedenken, dass dieses Verbrechen nichts Neues ist. Seit Jahrzehnten entert Israel Schiffe in internationalen Gewässern zwischen Zypern und Libanon und tötet oder entführt dabei Passagiere, manchmal werden diese in israelische Gefängnisse gesteckt, einschließlich geheime Gefängnisse und Folterkammern, manchmal werden sie für viele Jahre als Geiseln gehalten. Israel geht davon aus, dass es solche Verbrechen ungestraft begehen kann, weil sie von den USA toleriert werden und Europa sich im Allgemeinen nach den USA richtet.

 

Ähnliches gilt für Israels Vorwand für sein jüngstes Verbrechen: dass die Freiheits-Flottille Materialien mitführte, die für den Bau von Bunkern oder Raketen benutzt werden könnten. Dies ist absurd und wenn Israel daran interessiert wäre, Raketenangriffe von Hamas zu stoppen, weiß es genau, was zu tun wäre: das Angebot der Hamas für eine Waffenruhe anzunehmen. Im Juni 2008 schlossen Israel und Hamas eine Waffenstillstandsvereinbarung ab. Die israelische Regierung hat offiziell bestätigt, dass Hamas bis zum 4. November, als Israel durch sein Eindringen nach Gaza und die Tötung von sechs Hamas-Aktivisten die Vereinbarung verletzte, keine einzige Rakete abgeschossen hatte.

 

Hamas bot an, die Waffenruhe zu verlängern. Das israelische Kabinett beriet über das Angebot und wies es zurück, stattdessen startete es am 27. Dezember seine mörderische und zerstörerische Operation „Gegossenes Blei“. Offensichtlich gibt es keine Rechtfertigung für den Einsatz von Gewalt „zur Selbstverteidigung“, es sei denn, alle friedlichen Mittel sind erschöpft worden. In diesem Fall hat man sie nicht einmal ausprobiert, obwohl – oder vielleicht weil – es allen Grund zu der Annahme gab, dass sie Erfolg haben würden. Die Operation „Gegossenes Blei“ ist daher reine kriminelle Aggression, ohne glaubhaften Vorwand, und dasselbe trifft auf Israels aktuelle Gewaltanwendung zu.

 

Für die Blockade Gazas selbst gibt es überhaupt keinen glaubwürdigen Vorwand. Sie wurde von den USA und Israel im Januar 2006 verhängt, um Palästinenser zu bestrafen, weil sie in einer freien Wahl „für die falsche Partei“ gestimmt hatten, und sie wurde im Juli 2007 stark verschärft als die Hamas einen Versuch seitens der USA und Israels, die gewählte Regierung durch einen militärischen Staatsstreich zu stürzen und Fatah-Diktator Mohammed Dahlan einzusetzen, blockierte. Die Blockade ist brutal und grausam; sie zielt darauf ab, die eingesperrten Tiere gerade noch am Leben zu erhalten, um internationale Proteste abzuwehren, aber kaum mehr als das. Es ist nur die jüngste Phase der langfristigen, von den USA unterstützten Pläne der Israelis, Gaza von der Westbank zu trennen.

 

Dies ist nur der knappe Umriss einer sehr hässlichen Politik.

 

The Weekly: Man hat Ihnen kürzlich auch die Einreise nach Israel verweigert. Wie sehen Sie die Situation in den besetzten Gebieten und Gaza?

 

Noam Chomsky: Also, das stimmt nicht ganz: Man hat mir die Einreise in die besetzten Gebiete verweigert und nicht nach Israel. Wenn ich nur nach Israel gereist wäre, hätten sie mich freilich einreisen lassen, und dann hätte ich in die besetzten Gebiete gehen können. Als Grund gaben sie an, dass ich nur zur Universität Birzeit gehen wollte und nicht zu einer israelischen Universität.

 

Israel entwickelt sich zu einem extrem paranoiden Land, das von einer ultra-nationalistischen Haltung eingenommen wird, und handelt von seinem Standpunkt aus auf eine sehr irrationale Weise. Es schadet seinen eigenen Interessen. Die Verweigerung meiner Einreise war nur ein kleines Beispiel davon. Hätten sie mich für meinen Vortrag an der Universität Birzeit einfach einreisen lassen, dann wäre dies das Ende der Geschichte gewesen. Tatsächlich sprach ich aber gar nicht über den Nahen Osten. Ich sprach über die Vereinigten Staaten und das wussten sie natürlich.

 

Bei Gaza handelt es sich einfach um grausame Folter. Sie halten die Bevölkerung gerade noch am Leben, weil sie nicht des Völkermordes bezichtigt werden wollen, aber mehr nicht. Es ist auf das Überleben beschränkt. Es ist nicht die schlimmste Grausamkeit in der Welt, aber eine der brutalsten. Ägypten kooperiert uneingeschränkt durch den Bau einer Mauer und seine Weigerung, Beton und ähnliche Dinge hineinzulassen; es ist also eine ägyptisch-israelische Operation, welche die Menschen in Gaza buchstäblich auf eine Art und Weise foltert, die meines Wissens noch nie dagewesen ist, und es wird immer schlimmer.

 

In der Westbank handelt Israel nicht allein: die Vereinigten Staaten und Israel handeln gemeinsam. Die USA legen den Handlungsspielraum fest und arbeiten mit Israel zusammen. Es ist eine Gemeinschaftsunternehmung, genauso wie der Angriff auf Gaza. Aber Israel lässt von seinem Würgegriff nicht ab und nimmt sich was es will. Es nimmt sich das Land innerhalb der Trennungsmauer, die in Wirklichkeit eine Annektierungsmauer ist. Es nimmt sich das Jordantal und es nimmt sich das Gebiet, das Jerusalem genannt wird und viel größer ist, als es Jerusalem jemals war, denn es ist ein riesiges, sich in die Westbank ausdehnendes Gebiet.

 

Und dann hat es diese gegen Osten gehenden Korridore; es gibt da also einen Korridor, der von Jerusalem durch Maal Adumim in Richtung Jericho geht. Sollte er jemals voll besiedelt werden, wird er die Westbank in zwei Teile zerschneiden. Interessanterweise haben die USA die israelischen Bemühungen, diesen Korridor voll zu besiedeln, bisher blockiert.

 

Vor etwa zehn Jahren rieten israelische Industrielle der Regierung, sie solle sich in der Westbank vom „Kolonialismus“ zum „Neo-Kolonialismus“ bewegen. Das heißt, sie soll in der Westbank neokoloniale Strukturen errichten. Nun wissen wir, welche das sind. Man nehme eine beliebige ehemalige Kolonie. Typischerweise gibt es dort eine extrem reiche und privilegierte Schicht, die mit der ehemaligen Kolonialmacht zusammenarbeitet und die von einer Masse des Elends und Horrors umgeben ist. Und das ist es, was sie andeuten und was gerade durchgeführt wird. Wenn man also nach Ramallah geht – ich wollte es selbst sehen, aber ich kam dort nicht hin –, ist es ein bisschen wie in Paris; man hat ein schönes Leben, es gibt elegante Restaurants und so weiter, aber wenn man das Umland besucht, dann ist die Sache vollkommen anders, überall sind Checkpoints und das Leben ist unmöglich. Nun, das ist Neo-Kolonialismus. Es gibt nur eine vollkommen abhängige Entwicklung. Israel lässt keine unabhängige Entwicklung zu und versucht, ein dauerhaftes Arrangement dieser Art festzulegen.

 

Salam Fayyad, den in Ramallah zu treffen ich erhofft hatte – wir haben telefonischen Kontakt –, hat seine Programme beschrieben, die mir vernünftig erscheinen. Zunächst ist da der Aufruf zu einem Boykott von Produkten aus israelischen Siedlungen, was ich für sehr vernünftig halte und meines Erachtens auf die ganze Welt ausgedehnt werden sollte, während versucht wird, Palästinensern Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb der Siedlungsgebiete zu geben, damit sie nicht zum Wachstum der Siedlungen beitragen. Weiterhin die Teilnahme an gewaltlosem Widerstand gegen ihre Ausdehnung und die Durchführung aller Bauarbeiten, die innerhalb des israelischen Rahmens zustande gebracht werden können, vielleicht sogar in Area C, dem von den Israelis kontrollierten Gebiet, und den Versuch, durch schrittweise Veränderungen eine Grundlage für ein zukünftiges unabhängiges palästinensisches Gemeinwesen zu legen.

 

Dann wird es sehr heikel, weil Israel dies durchaus akzeptieren könnte. Tatsächlich gab Silvan Shalom, meines Wissens ist er der israelische stellvertretende Premierminister, dazu ein Interview, in dem er gefragt wurde, wie er darauf reagieren würde, und er sagte, dies sei in Ordnung, wenn sie die Kantone, die wir ihnen lassen, einen Staat nennen wollen, dann geht das in Ordnung, aber es wird ein Staat ohne Grenzen sein…und damit wird im Grunde genommen die neokoloniale Struktur implantiert.

 

Ein anderes Element spielt hierbei auch eine Rolle, nämlich die militärische Macht. Es gibt eine von einem US-General, Keith Dayton, angeführte Armee, die von Jordanien mit israelischer Zusammenarbeit ausgebildet wird und in den USA für viel Begeisterung gesorgt hat. John Kerry, der Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses des US-Senats, hielt eine wichtige Rede über Israel-Palästina – er ist so etwas wie Obamas Bannerträger für den Nahen Osten –, er sagte, dass Israel das erste Mal einen legitimen Verhandlungspartner hätte. Warum? Weil die Dayton-Armee während des Angriffs auf Gaza Proteste verhindern konnte und Kerry das sehr gut fand und die Presse das sehr gut fand und nun ist sie ein legitimer Partner. Dayton selbst sagt, seine Armee war so effektiv während des Angriffs auf Gaza, dass Israel Streitkräfte aus der Westbank nach Gaza verlagern konnte, um die Attacke zu verlängern und Kerry und Obama halten das für eine gute Sache; also haben wir hier noch mehr von dem traditionellen neokolonialen Muster, mit paramilitärischen, von der Kolonialmacht kontrollierten Streitkräften, die die Bevölkerung unter Kontrolle halten.

 

Dies sind sehr zwiespältige Schritte. … Sollten die USA ihre Position nicht ändern und sich dem Rest der Welt anschließen, der eine politische Lösung wünscht, dann sieht es sehr düster aus, und ich halte die Haltung der Ägypter für nicht hilfreich.

 

The Weekly: Wird es infolge der Rolle, die die internationale öffentliche Meinung spielt, zu einer Veränderung kommen, vielleicht so wie es in Südafrika geschah?

 

Noam Chomsky: Südafrika ist ein interessanter Fall und man sollte die Geschichte genauer unter die Lupe nehmen. Etwa im Jahr 1960 realisierte Südafrika allmählich, dass es sich zu einem Pariastaat entwickelte und der südafrikanische Außenminister rief den US-Botschafter zu sich – wir haben nun die Aufzeichnungen ihres Gesprächs – und er sagte dem US-Botschafter: „Wir wissen, dass wir uns zu einem Pariastaat entwickeln und bei den Vereinten Nationen stimmt jeder gegen uns, aber Sie und ich verstehen, dass es bei den Vereinten Nationen nur eine Stimme gibt – Ihre.“ Das heißt, solange Sie uns unterstützen, ist es uns egal, was der Rest der Welt sagt. Und dies stellte sich als absolut korrekt heraus.

 

Im Laufe der folgenden Jahrzehnte verstärkten sich die Proteste gegen Südafrika, und bis Ende der 1970er Jahre gab es Sanktionen und Unternehmen verließen das Land. Der US-Kongress verabschiedete Resolutionen über Sanktionen, die Reagan umgehen musste, um Südafrika weiterhin zu unterstützen, was er bis zum Ende der 1980er Jahre getan hat, einem Zeitpunkt, zu dem schwere Gräueltaten verübt wurden, wie die Kriege in Angola und Mosambik, in denen Hunderttausende Menschen getötet wurden – dies geschah im Rahmen des Krieges gegen den Terror.

 

Der ANC wurde 1988 von Washington als eine der schlimmsten Terroristengruppen der Welt verurteilt; erst letztes Jahr wurde Mandela von der Terroristenliste der USA entfernt. Südafrika schien unbezwingbar: die Welt war gegen das weiße Regime, aber es gewann immer und alles lief gut. Um 1990 änderten die USA dann ihre Politik. Mandela wurde aus dem Gefängnis entlassen und die Apartheid brach innerhalb weniger Jahre zusammen; der südafrikanische Minister hatte also Recht.

 

Meiner Ansicht nach befindet sich Israel auf demselben Weg. Es ist egal, ob die ganze Welt gegen uns ist, solange ihr uns unterstützt. Doch sie bewegen sich auf dünnem Eis: die USA könnten sich dazu entscheiden, dass seine Interessen woanders liegen. Um auf Ihre Frage zur Rolle der internationalen öffentlichen Meinung zurückzukommen: die Meinung in Europa und im Nahen Osten beeinflusst die Dinge wesentlich. Die USA können in der Welt nicht alleine leben. Es gibt politische Persönlichkeiten, die der Ansicht sind, wir sollten uns in einen Käfig stellen und uns nicht darum kümmern, was in der Welt geschieht…dass wir einfach eine Mauer um das Land bauen, aus der UNO aussteigen und uns nicht um die Meinung der anderen kümmern sollten. Eine Spur davon ist in der Politik der USA sichtbar, doch die politische Führung und die multinationalen Konzerne können dies nicht akzeptieren, daher ist ihnen wichtig, was der Rest der Welt denkt.

 

Europa ist dabei nicht hilfreich. Ein Beispiel ist die Aufnahme Israels in den OECD: dies bestätigt nur die Legitimität der Besatzung. Europa bezahlt das Überleben in den besetzten Gebieten, aber es unternimmt keinen einzigen Versuch, die USA zur Akzeptanz der internationalen Meinung zu bewegen – und das könnte es. Zum Beispiel finden im Moment Annäherungsgespräche zwischen den Palästinensern und den Israelis statt, mit den USA als ehrlicher Vermittler in der Mitte. Europa kann bloßlegen, dass dies eine Farce ist. Es sollten Annäherungsgespräche zwischen der USA und dem Rest der Welt stattfinden, vielleicht mit der UNO als neutralem Vermittler, denn die USA stehen mit ihrer Blockade eines überwältigenden internationalen Konsenses alleine da und bis sich dies ändert, wird nichts passieren – und Israel verlässt sich darauf.

 

The Weekly: In seiner Rede im Juni 2009 in Kairo sagte US-Präsident Obama, dass er die US-Politik gegenüber dem Nahen Osten und der muslimischen Welt auf eine neue Basis stellen würde. Sehen Sie irgendwelche Anzeichen dafür?  

 

Noam Chomsky: Es gibt leichte Unterschiede. Aber zunächst einmal gab es Unterschiede zwischen den beiden Amtszeiten von Bush. Bushs erste Amtszeit war extrem arrogant, rüde und aggressiv. Die USA gingen zu den Vereinten Nationen und sagten sehr offen ‘ihr macht entweder, was wir sagen, oder ihr seid irrelevant’, und dies verursachte eine Menge Zwiespalt, sogar unter ihren Verbündeten. Die Leute möchten nicht direkt beleidigt werden. Es führte zu starker Kritik und das weltweite Prestige der USA sank in internationalen Umfragen so tief wie nie zuvor, es gab auch eine Menge Proteste von innen, sogar vonseiten des Establishments, denn es schadete den Interessen der USA.

 

Bushs zweite Amtszeit war mehr entgegenkommend, sie bewegte sich wieder in Richtung der Norm und wurde vom gemäßigten Lager eher unterstützt. Obama machte dort weiter, er erweitert also Bushs zweite Amtszeit. Die Rhetorik ist gemäßigter und die Haltung freundlicher, aber die Politik hat sich kaum verändert. Man nehme Kairo. Zunächst einmal hatte seine Rede inhaltlich sehr wenig vorzuweisen: er sagte einfach ‘lieben wir einander’. Doch auf dem Weg nach Kairo hielt er eine Pressekonferenz ab und wurde von einem Reporter gefragt: ‘Werden Sie sich zum autoritären Mubarak-Regime äußern?’. Und er sagte – das waren seine Worte: ‘Ich stecke die Leute ungern in eine Schublade. Er ist ein guter Mann. Er tut viel Gutes. Er ist also ein Freund.’ Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie die Menschenrechtssituation in Ägypten aussieht, aber die Menschen im Nahen Osten – wenn sie wach wären – sollten verstanden haben, dass sich nichts ändern würde.

 

Und dasselbe trifft auf die Politik im Hinblick auf Israel zu. Seine Politik ist im Endeffekt unnachgiebiger als die der Amtszeiten von Vater und Sohn Bush. Im Moment gibt es zum Beispiel eine Kontroverse in Hinblick auf die Ausdehnung der Siedlungen. Sie ähnelt sehr stark der Kontroverse, die vor 20 Jahren ausbrach, als George Bush senior US-Präsident und James Baker US-Außenminister waren. Wie Sie sich vielleicht erinnern gab es eine Zeit, in der jedes Mal, als Baker nach Jerusalem kam, der Premierminister Jitzchak Shamir diese Gelegenheit nutzte, eine neue Siedlung anzukünden und Baker war beleidigt – er war ein Patrizier und ihm gefiel es nicht, wenn er von Israel beleidigt wurde – und Bush bestrafte Israel sogar etwas. Er verhängte leichte Sanktionen in Form von einer Kürzung von Kreditgarantien, die den Ausgaben für Siedlungen entsprechen sollten, und Israel veränderte daraufhin seine Politik sehr schnell.

 

Nun, das ist ziemlich genau das, was jetzt passiert, mit einem Unterschied. Obama hat gesagt, dass er keine Sanktionen verhängen werde und dass sein Protest ein rein symbolischer sei, dies sagte sein Pressesprecher als Antwort auf eine Frage. Abgesehen davon ist das ganze Gerede über die Ausdehnung von Siedlungen wirklich nur eine Fußnote: die große Frage sind die Siedlungen, nicht die Ausdehnung der Siedlungen. Obamas Position war, nur das zu wiederholen, was George W. Bush gesagt hatte und was in der Roadmap enthalten ist, also den Wortlaut der Roadmap, dass es als erste Stufe keinen weiteren Siedlungsbau geben soll, auch für natürliches Wachstum. Obama wiederholte dies also, aber auf eine Art und Weise, die klar machte, dass er nichts dahingehend unternehmen würde und dasselbe trifft auch auf andere Punkte zu.

 

Als er die Ernennung von George Mitchell ankündigte, hielt er eine Rede über den Nahen Osten. Er sagte im Grunde genommen, ‘es besteht eine gute Hoffnung auf Frieden, auf dem Tisch liegt ein konstruktiver Plan’, und dann richtete er sich an die arabischen Länder und sagte, ihr sollt euch daran halten, was ihr gesagt habt und ihr sollt auf eine Normalisierung der Beziehungen mit Israel hinarbeiten. Er weiß ganz genau, dass dies nicht im Vorschlag enthalten war. Der Vorschlag war, eine Zweistaatenlösung zu erreichen und in diesem Zusammenhang auf eine Normalisierung hinzuarbeiten, er ignorierte also geflissentlich den Inhalt des Vorschlages und konzentrierte sich auf die Folgen, in gewisser Weise sagt er damit, dass wir unsere Position nicht verändern werden und wir uns nicht dem Rest der Welt in der Unterstützung einer Zweistaatenlösung anschließen werden – so stehen die Dinge seitdem.

 

The Weekly: Zur Zeit der Wahl waren die Leute voller Hoffnung, einen neuen Präsidenten zu sehen, vor allem nach acht Jahren George Bush. In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie Obama als ‘unbeschriebenes Blatt’, das die Leute beschreiben können, wie sie wollen. Wie bewerten Sie Obama?

 

Noam Chomsky: Ich habe darüber schon vor der Wahl geschrieben, sogar vor den Vorwahlen, und ich würde das Gleiche wieder sagen. Wenn man sich sein Programm ansah, dann erschien er einem wie ein typisch gemäßigter Demokrat mit ansprechender Rhetorik und gutem Verkaufstalent. Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, gewann er sogar eine Auszeichnung der Werbeindustrie für die beste Marketingkampagne des Jahres 2008 – das stimmt wirklich. Er ist gebildet, er ist intelligent, er kann gute Sätze bilden, er ist umgänglich und er wirkt als mag er die Menschen. Aber was war der Ruf nach Veränderung? Er war leer. Es war tatsächlich ein unbeschriebenes Blatt: man konnte darauf schreiben, was man wollte. Er sagte nie, was sich verändern würde oder worauf man hoffen könnte. Es hieß bloß ‘jetzt gibt es eine Veränderung’.

 

McCain hatte eigentlich dieselben Slogans und der Grund dafür ist offenkundig. Die Wahlen in den USA werden weitgehend von der Werbeindustrie dirigiert, die Parteimanager lesen die Wahlumfragen und sie wissen, dass die Umfragen zeigten, dass 80 Prozent der Bevölkerung der Meinung war, dass sich das Land in die falsche Richtung bewegte. Man spiegelt das also auf einer Wahlkampfplattform wider, die sich ‘Hoffnung und Veränderung’ nennt – und das ist Obama. Und er verpackte das in sehr nette Worte und ermutigte viele Menschen, um sie in Erregung zu versetzen und zu begeistern, doch die Tatsache ist: er hat hauptsächlich wegen der Unterstützung der Finanzinstitutionen gewonnen. Sie zogen ihn McCain vor und sie finanzierten ihn, dies ermöglichte seine Wahl. Er genoss zwar auch eine breite Unterstützung in der Bevölkerung, doch seine Wahl wurde hauptsächlich durch die Finanzinstitutionen möglich, und sie erwarteten eine Gegenleistung – so funktioniert die Politik – und diese erhielten sie auch.

 

Sie erhielten enorme staatliche Beihilfen und die großen Banken sind nun reicher und mächtiger als je zuvor. Als Obama schließlich auf die Wut in der Bevölkerung zu reagieren begann und damit anfing, von ‘gierigen Bankern’ zu reden und so weiter, sagten sie ihm ganz schnell, ‘Sie haben die Grenze überschritten’ und schichteten ihre Parteienförderung zu den Republikanern um. Inzwischen gehen institutionelle Parteispenden meistens an die Republikaner, die das Großkapital noch stärker befürworten als Obama. Aber das ist das Wesen der Politik in den USA.

 

 

The Weekly: Während Bushs Präsidentschaft erlebten wir, dass die USA im Irak Folter anwendeten, außerordentliche Überstellungen durchführten und in der internationalen Politik Gewalt anwendeten, wobei die UNO trotz internationaler Proteste ausgeklammert wurde. Werden die USA Anstrengungen dahingehend unternehmen, ihr internationales Ansehen wiederherzustellen, angesichts der Tatsache, dass Obamas Leistungen bisher nicht sonderlich beeindruckend sind?

 

 

Noam Chomsky: Sie sind nicht nur nicht sonderlich beeindruckend, sondern es ist fast nichts geschehen, in gewisser Hinsicht ist er schlimmer als Bush. Dies wird in meinem Buch eingehender erläutert. Es gab da einen Fall am Obersten Gerichtshof, in dem der Supreme Court bestimmte, dass die Inhaftierten in Guantanamo das Recht auf habeas corpus [A.d.Ü.: die Gewissheit, ohne hinreichenden Verdacht und ohne richterlichen Haftbefehl nicht endlos eingesperrt werden zu können] hatten; die Bush-Regierung akzeptierte das und argumentierte, dies träfe nicht auf Bagram zu. Sie ging damit vor Gericht und ein Richter der unteren Gerichtshöfe, der von Bush berufen worden war, also ein rechtskonservativer Richter an einem vorinstanzlichen Gericht, überstimmte die Regierung und sagte, ja, dies trifft auch auf Bagram zu. Obamas Justizministerium versucht, dieses Urteil aufzuheben, also zu sagen, nein, dies trifft nicht auf Bagram zu. In dieser Hinsicht geht er weiter als Bush.

 

Wenn ich ein Rechtsanwalt unter der Bush-Regierung wäre, dann würde ich darauf hinweisen, dass die Anklagepunkte gegen Bush im Hinblick auf Folter unter US-amerikanischem Recht nicht sonderlich gut standhalten. Fast alles, was Bush tat und autorisierte, geschah im Rahmen des US-Rechts. Die Vereinigten Staaten unterzeichneten nicht die Antifolterkonvention bzw. sie unterzeichneten sie, aber mit Einschränkungen. Sie wurde sehr sorgfältig umgeschrieben, damit die von der CIA entwickelten und in deren Folterhandbüchern enthaltenen Foltermethoden herausgelassen wurden. Sie werden ‘Folter, die keine Spuren hinterlässt’ genannt, d.h. psychologische Folter, geistige Folter. Die CIA hat aus den Handbüchern des KGB geborgt und es stellte sich heraus, dass sie entdeckt hatten, wie man aus einem Menschen am effektivsten ein dahinvegetierendes Wesen macht: durch psychologische Folter wie Isolationshaft, Erniedrigung und ähnliche Dinge. Das war es, was in Abu Ghraib und Guantanamo hauptsächlich geschah. Es handelte sich dabei vor allem um die so bezeichnete ‘psychologische Folter’, also nicht Elektroden an den Genitalien. Man konnte also argumentieren, dass man innerhalb des Rahmens des US-Rechts operierte.

 

Tatsächlich lag der einzige Unterschied zwischen Bush und früheren Regierungen wahrscheinlich darin, dass unter Bush die Folter von Amerikanern durchgeführt wurde. Die USA vergeben dies gewöhnlich an andere: an Südvietnamesen oder Guatemalteken oder Ägypter. Dies wird ‘außerordentliche Überstellungen’ (extraordinary renditions) genannt. Man schickt Leute in andere Länder, die die Folter erledigen. Doch in diesem Fall wurde sie direkt in Guantanamo erledigt.

 

Tatsächlich ist die einzige wirklich interessante Enthüllung in den Foltermemoranden – über die kaum berichtet wurde – die Zeugenaussage der Vernehmer, dass sie von Cheney und Rumsfeld unter starken Druck gesetzt wurden, um Informationen zu erhalten, die Saddam Hussein mit Al-Qaida in Verbindung bringen würden. Doch es gab keine solchen Informationen, weil es nicht stimmte. Und als sie diese Informationen nicht erbringen konnten, erhielten sie Anweisungen, harschere Verhörmethoden anzuwenden. Demnach war die Folter hauptsächlich ein Ausdruck der Anstrengungen Cheneys und Rumsfelds, auf irgendeine Weise ihre Position zu bekräftigen, dass wir den Irak überfallen mussten, weil eine Verbindung zu Al-Qaida bestand, was eine lächerliche Behauptung war. Aber das ist anscheinend der Hauptgrund für die Folter.

 

The Weekly: Ihr neuestes Buch hat den Titel Hopes and Prospects. Was sind die Hoffnungen?

 

Noam Chomsky: Im ersten Teil des Buches geht es um Südamerika und dort sind viele sehr hoffnungsfrohe Entwicklungen zu beobachten. Zum ersten Mal seit 500 Jahren, seit den Konquistadoren, macht Südamerika einige Fortschritte im Hinblick auf eine gewisse Unabhängigkeit und Integration und stellt sich zumindest einigen seiner schwierigen inneren Probleme. Die kolonialen Strukturen sind extrem in Südamerika, wo es eine sehr enge Konzentration des Reichtums in den Händen einer weitgehend europäisierten, manchmal weißen Elite gibt, umgeben von einer schrecklichen Tragödie und einigen der schlimmsten Fälle von Ungleichheit in der Welt, in einer Region, die eine Menge Ressourcen und eine Menge Potenzial hat. Es werden gerade einige Maßnahmen ergriffen, um dies anzugehen.

 

In den USA selbst sind auch einige Veränderungen zu beobachten. Ob sie schnell genug passieren, um die großen Probleme zu überwinden, weiß ich nicht, aber man nehme nur einmal Israel und Palästina. Nur vor wenigen Jahren war es so, dass ich Polizeischutz brauchte, wenn ich an einer Universität darüber einen Vortrag halten wollte, weil die Versammlungen jedes Mal gewaltsam aufgelöst wurden. Ich kann mich noch daran erinnern, als die Polizei darauf bestand, mich und meine Frau nach einem Vortrag an einer Universität zu unserem Wagen zurückzubegleiten. Das hat sich nicht vollständig geändert, aber es hat sich im Laufe der Jahre allmählich verändert und nach Gaza hat es sich radikal verändert. Nun gibt es ein begeistertes Publikum, das sehr engagiert und sehr involviert ist, und das sehr daran interessiert ist, etwas zu bewegen.

 

Dies hat sich nicht auf die Medien, die politische Klasse oder die Intellektuellen ausgewirkt, aber es verändert sich im ganzen Land, und früher oder später wird diese Entwicklung Auswirkungen haben. Gewissermaßen wurde diese Entwicklung von dem Obama-Phänomen abgelenkt, denn es brachte eine Mengen Erwartungen mit sich und zerstreute eine Menge Aktivismus. Doch nun hat die Enttäuschung eingesetzt. Wenn diese Entwicklung so weitergeht, kann sie schließlich bedeutsame Veränderungen herbeiführen, wie es im Fall von Südafrika geschehen ist.

 

The Weekly: In Ihrer Arbeit geht es oft um die Kontrolle der Medien und die Unzulänglichkeiten der intellektuellen Klasse in den USA, wo es schwierig ist, außerhalb eines engen Meinungsspektrums zu stehen. Wie bewerten Sie heute Ihre eigene Position?

 

Noam Chomsky: Zunächst einmal meine ich, dass die USA sich in dieser Hinsicht nicht so sehr von anderen Gesellschaften unterscheideen. Die Probleme sind vielleicht anderer Art, aber in England oder in Frankreich verhält es sich kaum anders. In jeder Gesellschaft gibt es einen Rand von Andersdenkenden. Das war in der Menschheitsgeschichte schon immer so. Wie verhalten jene sich? Sie sind gewissen Werten und Idealen verpflichtet und entschließen sich dazu, sich nicht anzupassen. Gewöhnlich werden sie nicht sehr gut behandelt und wie sie behandelt werden, hängt vom Wesen der Gesellschaft ab, aber höflich ist man ihnen gegenüber nie. In manchen Gesellschaften wird einem der Kopf weggeblasen, in einigen kommt man in den Gulag und in anderen wird man verunglimpft. Machtsysteme vertragen keine Kritik und sie setzten alle ihnen zur Verfügung stehenden Techniken ein, um sie zu unterminieren und zu verurteilen.

 

Im Laufe der Geschichte habe sich die intellektuellen Klassen typischerweise den Mächtigen unterworfen, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen. Doch es gibt immer noch Menschen, die sich nicht anpassen und einen unabhängigen Pfad einschlagen. In dieser Hinsicht sind die USA eigentlich nicht sehr harsch. Demnach sind Leute mit einer begrenzten Menge an Privilegien, also sehr viele Leute, und ich zähle gewiss dazu, vor brutalen Repressionen weitgehend geschützt. Ich sah einer langen Gefängnisstrafe entgegen und wurde beinahe verurteilt, aber das war wegen offenen Widerstandes. Ich konnte dagegen nichts einwenden, da ich Dinge tat, die im Widerstand gegen den Krieg offenkundig und bewusst illegal waren, wenn ich also inhaftiert worden wäre, hätte ich das nicht als Repression bezeichnen können. Die Strafe für Sprechen und Schreiben und so weiter ist Marginalisierung und Verunglimpfung, aber damit kann ich leben. In der Öffentlichkeit genieße ich jede Menge Unterstützung.

 

Der Journalist Chris Hedges führt eine Studie über die New York Times durch und vor einigen Wochen fiel ihm ein Memo des Chefredakteurs der New York Times an die Autoren und Kolumnisten in die Hände. Darin stand, dass es ihnen nicht gestattet war, meinen Namen zu erwähnen. Das National Public Radio, der öffentlich-rechtliche Rundfunk, lies schriftlich verlauten, dass ich die einzige Person wäre, die nie zu ihren Hauptnachrichten- und Diskussionssendungen zugelassen würde. Aber das ist keine große Strafe, denn wenn ich nach Hause komme, sind da Hunderte von E-Mails, darunter Dutzende Einladungen, um Vorträge überall im Land zu halten, und bei fast allen diesen Vorträgen ist ein großes Publikum voller interessierter und engagierter Leute zugegen, die teilnahmsvoll sind und etwas tun wollen; das ist für mich mehr als genug Ermutigung, um weiterzumachen.

 

Unter bestimmten Bedingungen habe ich Zugang zu ausländischen Medien. Also wenn ich die USA kritisiere, dann habe ich Zugang zu den Medien. Aber wenn ich diese Länder, von denen ich eingeladen werde, kritisiere, dann stoppt dieser Medienzugang systematisch. Mir ist das sogar in Kanada aufgefallen. Wenn ich in Kanada bin, hören es die Leute dort gerne, wenn ich Kritik an den USA übe, aber wenn ich damit anfange, an Kanada Kritik zu üben, schließt sich die Tür, so verhält es sich überall.

 

The Weekly: Abschließend möchte ich Sie fragen, warum Sie die Formel ‘den Mächtigen die Wahrheit zu sagen’ kritisiert haben – sie wurde von dem verstorbenen Edward Said benutzt, um die Rolle der Intellektuellen zu beschreiben?

 

Noam Chomsky: Tatsächlich ist dies ein Slogan der Quäker. Ich mag die Quäker und ich arbeite viel mit ihnen zusammen, aber dem Slogan stimme ich nicht zu. Zunächst einmal muss man den Mächtigen die Wahrheit nicht sagen, denn diese ist ihnen schon bekannt. Zweitens sagt man niemandem die Wahrheit, das ist zu arrogant. Man schließt sich mit anderen Leuten zusammen und versucht, die Wahrheit zu finden, man hört ihnen also zu und teilt ihnen seine eigenen Ansichten mit und so weiter, und man versucht, die Leute zu ermutigen, für sich selbst zu denken.

 

Es sind die Opfer, um die man sich sorgt, nicht die Mächtigen, der Slogan sollte also heißen: ‘sich für die Machtlosen zu engagieren und ihnen und sich selbst bei der Wahrheitsfindung zu helfen’. Es ist nicht leicht, den Slogan in eine Handvoll Worte zu fassen, aber er ist meiner Ansicht nach der Richtige.

 

Der Artikel erschien im Original unter dem Titel Noam Chomsky: speaking of truth and power bei Al-Ahram Weekly im Juni  2010.

 

Übersetzt von  Susanne Schuster. Herausgegeben von Fausto Giudice, Redaktionell überarbeitet von HINTERGRUND