Wer nicht weicht, wird aus dem Weg geräumt
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 06.06.2010, Nr. 22 / Seite 6
Aktion Himmelswind
Als israelische Marinesoldaten am Montagmorgen die Schiffe der Gaza-Solidaritätsflotte entern, ist auch unser Reporter an Bord: Ein Augenzeugenbericht von Mario Damolin
Seit vier Tagen sind mein Kollege Marcello Faraggi und ich an Bord der “Eleftheri Mesogeios” (Freies Mittelmeer). Wir haben uns entschlossen, beim Zwischenhalt in Rhodos vom reinen Passagierschiff “Sfendoni” hierher zu wechseln, weil der Frachter das an Bord hat, um was es wirklich geht – Hilfsgüter für Gaza: 1400 Tonnen Bauteile für hundert Fertighäuser aus Holz, Dachziegel, zwei Container mit Wasseraufbereitungsanlagen, mehrere hundert Elektrorollstühle, Medikamente. Wir haben beide kleine HD-Filmkameras dabei.
Gestern, am frühen Abend, ist Schriftsteller Henning Mankell zusammen mit der schwedischen Ärztin Viktoria Sand und dem Parlamentarier Mehmet Kaplan von den schwedischen Grünen an Bord gekommen. Die “Eleftheri Mesogeios” ist das Ergebnis einer schwedisch-griechischen Allianz namens “Ship-to-Gaza”. In beiden Ländern wurde Geld für den Kauf des Frachters und seiner Ladung gesammelt, die griechische Crew wurde übernommen. Mankell als Prominenter und Kaplan als Parlamentarier sollen dem Schiff etwas Schutz geben. “Chef de Mission” ist der 63 Jahre alte Professor für Wassertechnologie an der Technischen Universität Athen, Vangelis Pissias. Insgesamt sind jetzt 29 Personen an Bord.
Gegen Mittag Vollversammlung an Deck. Vangelis Pissias will die Strategie für den nächsten Tag besprechen, an dem man einen Angriff der israelischen Marine erwartet. Pissias ist grauhaarig, graubärtig, schlank, wie aus einem Film von Costa-Gavras, mit einer sanften Melancholie im etwas verwitterten Gesicht. Er wird von seinen zumeist jüngeren griechischen Mitfahrern geradezu verehrt: ein Sozialist alten Schlages, in Zeiten des griechischen Faschismus im Untergrund; seit damals ein Freund des Präsidenten Karolos Papoulias, der dieses Unternehmen auch unterstützt.
Es gibt schnell Übereinstimmung: Man will keinen physischen Widerstand leisten. Man geht davon aus, dass die Frachter mit den Hilfslieferungen im Zentrum des israelischen Interesses stehen. Dror Feiler, 58 Jahre alt, Musiker, Komponist und Künstler, meint, die Israelis würden es kaum wagen, ein Passagierschiff wie die “Mavi Marmara” mit 500 Muslimen an Bord anzugreifen. Feiler ist so etwas wie der Sprecher der schwedischen Gruppe an Bord, immer zu einem Spaß aufgelegt, schlagfertig. Er stammt aus einer jüdischen Familie, ist in Tel Aviv geboren und war drei Jahre bei den israelischen Fallschirmjägern, ehe er sich als einer der ersten Soldaten weigerte, in den besetzten Gebieten Dienst zu tun. Danach emigrierte er nach Schweden. “Ich kenne die Armee, die werden ein solches Wagnis höchstwahrscheinlich nicht eingehen. Schließlich sind die Türken noch so etwas wie ein Verbündeter”, sagt Feiler. Vorgestern hatte er, mitten auf dem Ladedeck stehend, auf seinem Saxophon mit Überblastönen und Hanns-Eisler-Liedern frenetisch den Zusammenschluss der “Freedom Flotilla” gefeiert, jetzt wirkt er nachdenklicher.
Die Runde der Kapitäne hat beschlossen, nach Einbruch der Dunkelheit in Formation zu fahren: an der Spitze die “Mavi Marmara”, danach, etwas seitlich versetzt, wir; hinter uns die “Sfendoni”, dann die beiden türkischen Frachter und dazwischen die kleine amerikanische “Challenger II”. Das Tempo wird von uns bestimmt, weil wir die schwächste Maschine haben: Wir machen durchschnittlich 7,5 Knoten. Wir vereinbaren, uns im Fall der Enterung auf der Brücke zu versammeln und das Steuerhaus durch unsere Anwesenheit so lange wie möglich zu verteidigen. Marcello Faraggi und ich sollen seitlich des Führerhauses auf den kleinen Terrassen genug Platz erhalten, um optimale Filmaufnahmen machen zu können. Zum Schluss werden noch Wachen eingeteilt.
Pissias und seine Mitstreiter haben eine kleine Hürde für etwaige Angreifer vorbereitet: Nato-Draht, den sie jetzt, kurz vor Dunkelheit, an der Reling rund um das Schiff ziehen. Die 30 Jahre alte Athener Bedienung Evyenia, die ihrem Freund auf das Schiff gefolgt ist, und Naim, der Exil-Ägypter mit griechischem Pass, bereiten in der kleinen Küche das Abendessen vor. Danach, ab zehn Uhr, wird Kaffee für die Wachen und alle jene, die nicht schlafen können, bereitgestellt. Die griechische Journalistin Maria hat sich mit Tesafilm auf ihren Anorak ganz groß “Press” geklebt. Wir tun das auch.
Um Mitternacht habe ich meine dreistündige Wache angetreten. Henning Mankell steht auf meiner Seite vorne Richtung Bug, er ist etwas unruhig. Die meisten können nicht schlafen, überall an Deck sind kleine Gruppen, reden, rauchen viel und lachen. In der Dunkelheit sieht man ab ein Uhr Lichter, die uns begleiten. Es ist Vollmond, das Mittelmeer glänzt mattschwarz. Es ist seltsam ruhig. Ich hole mir einen Kaffee, richte meine Kamera, Ersatzakku, Ersatzchip, Mikrofon und begebe mich wie vereinbart auf die linke Seite der Schiffsbrücke. Pissias steht beim Kapitän, er hat müde Augen.
Kurz nach vier Uhr: Helikoptergeräusche. Aus der Dunkelheit kommen von hinten mehr als ein halbes Dutzend kleine Schnellboote mit jeweils rund einem Dutzend Mann Besatzung. Sie rauschen an uns vorbei, als gäbe es uns gar nicht. Vorne links die “Marmara” – das ist offensichtlich ihr Ziel. Der Helikopter beginnt zu kreisen, verfolgt von grellen Suchlichtern, die von der “Marmara” auf ihn gerichtet sind. Das Schiff ist nur im unteren Teil richtig beleuchtet, dort wo die Kabinen sind; oben ist es ziemlich dunkel. Die Schnellboote umkreisen die “Marmara” in rascher Fahrt. Etwas weiter steht eine israelische Fregatte – offensichtlich das Befehlszentrum und Heimatstation der Schnellboote. Pissias kommt für einen Moment aus dem Führerhaus und sagt nur kurz: “Sie sind völlig verrückt!” Wir alle ziehen unsere Schwimmwesten an.
Von meinem Standpunkt, der Terrasse neben dem Führerhaus, etwa sieben Meter über der Wasserlinie, bietet sich ein Blick wie im Freilichtkino. Man hört Ansagen, Befehle über Megafone und Lautsprecher, ein sich verdichtendes Durcheinander. Durch mein Teleobjektiv sehe ich jetzt, etwas verschwommen und durch die Schiffsbewegungen verwackelt, wie sich aus dem Helikopter, der über der “Marmara” steht, Marinesoldaten nach unten abseilen. Ein zweiter Hubschrauber kreist. Offensichtlich haben die Israelis Probleme. Der zweite Hubschrauber kommt, noch mehr Soldaten seilen sich ab. Rauchbomben hüllen die Szenerie ein, die Mannschaften aus den Schnellbooten entern das Schiff, plötzlich der Knall von Blendgranaten, Schüsse fallen.
Hinter uns wird gerade die “Sfendoni” von den Marines eingesammelt. Die beiden türkischen Frachter sind offensichtlich zum Halten gebracht worden, man sieht von hier aus nur noch schwach ihre Positionsleuchten, die “Challenger” ist überhaupt nicht mehr zu sehen. Unser Schiff tuckert unbeirrt weiter, während vorne wohl die “Marmara” in den Händen der Israelis ist. Keine Kampfhandlungen mehr, es ist ungefähr halb sechs, als das Passagierschiff plötzlich eine scharfe Wendung nach rechts macht und Richtung Ägypten fährt.
Gegen halb sieben geht es bei uns los. Wieder das Kreisen der Schnellboote. Lautsprecheransagen: Wir sollten umdrehen und nach Norden fahren. Pissias kommt mit Megafon aus dem Führerhaus und schreit über das Meer: “Dies ist ein Akt von Piraterie. Wir sind 78 Meilen von der israelischen Küste entfernt. Dieses Meer ist frei. Es ist ein Verbrechen, was hier geschieht. Gegen internationales Recht. Dies ist ein griechisches Schiff, seit viertausend Jahren fahren wir auf diesem Meer. Es ist ein freies Meer.”
Die Israelis sind unbeeindruckt, immer wieder das Kreisen der Schnellboote, die Aufrufe. Die Stimme von Pissias überschlägt sich. Die Israelis sind irritiert über den Nato-Draht, sie holen neue Befehle ein – und ein Schneidegerät. Inzwischen ist es hell. Sollten die Israelis gedacht haben, alles in der Dunkelheit zu erledigen, so hat sich das jetzt erübrigt. Die Verzögerungen bei der “Marmara” bieten uns bestes Blickfeld. Nur mühsam kommt die Eliteeinheit über die hochgeworfene Leiter an Bord. Sie sind sehr vorsichtig. Wir lassen die Kameras ohne Pause laufen. Als alle Marines an Bord sind, wechsele ich die Speicherkarte.
Alle haben sich auf der Schiffsbrücke versammelt. Die Israelis wühlen sich vorsichtig nach oben. Die zweite Speicherkarte nehme ich heraus, als sie den unteren Teil der Brücke betreten. Mit gezogenen Waffen gehen sie auf unbewaffnete Zivilisten zu. Wer nicht weicht, wie etwa der große, gemütliche Michalis, ein 65 Jahre alter Kleinunternehmer, wird auf kürzeste Distanz aus dem Weg geräumt. Michalis fällt wie vom Blitz getroffen neben mir um, als ihn Soldat Nr. 14 – alle haben Nummern – aus zehn Zentimetern Entfernung mit der Elektroschock-Pistole anschießt. Der gleiche Soldat schlägt mir vor die Brust und will mir die Kamera aus der Hand reißen. Ich halte anfangs noch dagegen, lasse dann los, um mir nicht die Hand brechen zu lassen, und werde nach unten abgeführt. Obwohl ich mehrere Mal darauf hinweise, dass ich von der Presse bin und meinen Ausweis zeige.
Pissias will im Führerhaus das Steuer nicht so einfach übergeben. Er hält sich fest, wird geschlagen und getreten, humpelt und blutet am Fuß. Nach und nach werden wir alle nach unten gebracht und auf zwei Bänke zusammengepfercht. Mankell zittert vor Wut und Ohnmacht, murmelt vor sich hin. Wir sollen jetzt unsere Pässe herausgeben. Einige Griechen weigern sich und werden brutal von Soldaten über das Deck gezogen – über scharfkantige Eisentreppen, Rohre und Metallstutzen. Mehmet Kaplan, der schwedische Parlamentarier, protestiert und verweist auf seine Immunität, aber die Marines kennen dieses Wort vermutlich gar nicht. Dror Feiler, der geborene Jude mit schwedischem Pass, kommt aus der Kapitänskajüte mit blutendem Ohr.
Unsere Invasoren sind allesamt junge Leute wohl zwischen 19 und 25. Sie sind maskiert, behelmt und für den militärischen Outsider so bewaffnet, als ob sie den dritten Weltkrieg gewinnen wollten. In nicht wenigen Augen steht blanke Angst, gemischt mit der Entschlossenheit, zu allem bereit zu sein. Jede falsche Bewegung kann gefährlich sein, das haben auch die impulsiven Griechen gemerkt und provozieren nur mit Worten.
Gegen acht Uhr knallt die Sonne auf das Deck, nach kurzen Verhandlungen wird uns erlaubt, eine Plastikplane einzuziehen. Wasser und Nahrung werden uns angeboten. Wir lehnen ab. Nur ein Grieche nimmt das dargebotene Sandwich – und wirft es, mit einer verächtlichen Bemerkung gewürzt, ins Meer. Ich überlege, wie ich meine Filmaufnahmen sichere. Da ich davon ausgehe, als filmender Journalist besonders gefilzt zu werden, frage ich Henning Mankell. Als Prominenter werde er wohl weniger stark gefilzt. Mankell nickt, nimmt die beiden Chips und steckt sie in die Hosentasche. Zwei Stunden später meint er, jetzt sei ja alles ruhig, und schiebt sie mir wieder hin. Offensichtlich ist ihm nicht wohl dabei. Viktoria Sand, die schwedische Ärztin, übernimmt statt seiner – mit Erfolg, wie sich später herausstellen wird.
Soldatin Nr. 23 ist das Ärgernis auf dem Schiff. Sie bringt vor allem die Griechen auf Hochtemperatur. In Abständen, mindestens fünfmal, kommt sie mit ihrer kleinen, privaten Filmkamera um die Ecke und will die Gruppe filmen. Ein großes Geschrei beginnt. Die Soldaten werden darauf hingewiesen, dass das nach internationalen Bestimmungen nicht erlaubt ist. Es kümmert sie wenig. Dror Feiler, der jüdische Schwede, ist für die Soldaten ein doppeltes Ärgernis: erstens seine freche Klappe, zweitens versteht er alles, was sie sagen, und übersetzt es prompt. Plötzlich Aufregung: Ein Soldat kommt zum Chef der Brigade gerannt und zeigt ihm, vor Empörung bebend, was er da gerade Gefährliches gefunden hat: zwei größere Obstmesser. Ein Waffenfund! Lautes Gelächter, selbst Mankell kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Mehr als zehn Stunden dauert die Fahrt in der Hitze, dann ist Ankunft im israelischen Hafen Ashdod. Wir werden zuerst nach unten in die kleinen Kabinen gesperrt. Ich muss als einer der Ersten nach oben, trete aus dem Schiff und sehe mich einer vielhundertfachen Menge gegenüber. Ungezählte Pressefotografen, Fernsehteams, Soldaten, Polizisten. Wir werden der israelischen Öffentlichkeit vorgeführt. Einzeln.
Gleich am Hafenkai: ein riesiger Zelttrakt, extra aufgebaut. Ein junger Beamter zieht mich am Arm zum ersten Tisch. Ein Formular wird mir vorgelegt. Ich soll unterschreiben, dass ich illegal eingereist bin und ausgewiesen werden will. Andernfalls käme ich ins Gefängnis und müsse mit einem Prozess rechnen. Ich verweigere die Unterschrift. Ein Übersetzer wird bestellt, weil ich behauptet habe, kein Englisch zu verstehen. Ein älterer Herr mit Bart und Kippa setzt sich freundlich neben mich und versucht in einer Mischung aus Jiddisch und Hebräisch deutsch zu formulieren. Ich sage, ich sei als Reporter gekidnappt worden. Er: “Jo, jo Kidnapp.” Und lacht herzlich. Eine ärztliche Untersuchung lehne ich ab und werde dann zur Leibesvisitation geführt. Sie greifen den ganzen Körper ab, ich muss mich ausziehen bis auf die Unterhose. Als ich aus dem Untersuchungsbereich trete, sehe ich, wie der amerikanische Klavierstimmer Paul auf dem Hafenboden liegt, zwei Mann halten ihn fest. Dann schleifen sie ihn auf einen Rollstuhl. Unterwegs erfahre ich, dass Paul ins Hafenbecken gesprungen sein soll, jetzt gilt er als besonders gefährlich.
Eine junge israelische Beamtin erzählt mir, dass es auf der “Marmara” sechzehn Tote gegeben habe: zehn Passagiere und sechs Israelis. Und schaut mich dabei bedeutungsvoll und anklagend an. Ein anderer Beamter fragt mich, woher ich käme. Deutschland? Er wendet angewidert sein Gesicht ab, als stünde er einem Nazi-Verbrecher gegenüber. Henning Mankell sehe ich an einem besonderen Tisch sitzen, er verhandelt gerade mit einigen zivil gekleideten Herren. Er wird früher als wir alle freikommen. Am Hinterausgang der Zeltstadt wartet ein vergitterter, abgedunkelter Gefängniswagen auf uns. Immer wieder werden wir fotografiert und gefilmt. Alle Rufe und Forderungen, das sein zu lassen, werden mit Lachen quittiert. Im Gefängnistransporter ist es unerträglich heiß und stickig. Erst nach einer halben Stunde Bitten wird die Tür offen gelassen, einer der Polizisten ist sehr zuvorkommend und verteilt Wasser. Vangelis Pissias kommt angehumpelt, er hat Schmerzen, sein Gesicht ist eingefallen. Wie er so in diesem altertümlichen Gefängnistransporter sitzt, erinnert er doppelt an Costa-Gavras.
Endlich fährt der Wagen los, es ist schon dunkel. Wir werden in ein Gefängnis gebracht. Wo das ist, wie es heißt, wie lange das sein soll, wird uns nicht gesagt.
Bis Mittwoch wurde der Autor im Gefängnis in Beerscheva festgehalten. Am Donnerstag kehrte er über die Türkei nach Deutschland zurück.