Der österreichische Sozialanthropologe und Journalist Leo Gabriel verteidigt von Ashdod aus im derStandard.at-Interview die Passagiere des geenterten Gaza-Hilfskonvois
von Anna Giulia Fink | 02. Juni 2010, 18:20
Gabriel verfolgte den Vorfall direkt von der südisraelischen Hafenstadt Ashdod aus. Er steht mit Organisationen und Gruppierungen, die sich für Gaza einsetzen, in Kontakt und hat bisher auf die Freilassung der inhaftierten Aktivisten gewartet. Die Ausweisung der 680 Inhaftierten ist im Gange und Gabriel überlegt nun, “wieder nach Hause zu fahren”.
derStandard.at: Warum sind Sie in Ashdod?
Leo Gabriel: Ich verfolge schon lange die Boots-Lieferungen Richtung Gaza und interessierte mich auch sehr dafür. Ich bin mit den Organisatoren befreundet und habe selbst überlegt, mitzufahren. Dann habe ich mich umentschieden und beschlossen, von der anderen Seite aus mitzumachen. Ich war lange in Lateinamerika und habe mir daher gedacht, dass es zu stressig sei, da ich eben erst von einer Reise zurückgekommen war. Ich war mit Leuten in Kontakt und habe bei der Informationsarbeit geholfen – das geht ohnehin besser an Land als vom Boot aus. Ich war in Haifa, Jerusalem und wollte jetzt eigentlich nach Gaza, bin durch den Vorfall allerdings doch nach Ashdod gekommen.
derStandard.at: Wie ist die Stimmung in Ashdod?
Leo Gabriel: Die Israelis lassen überhaupt keine Informationsarbeit zu, das ist Teil ihrer Strategie. Den Leuten, die sich auf den Booten befunden haben, hat man ihre Informationsmittel, also Handys, weggenommen. Das hat damit zu tun, dass Israel jetzt versucht, vor der öffentlichen Meinung rechtzufertigen, dass sie die Opfer sind und nicht die Täter. Im Großen und Ganzen glaubt ihnen eh niemand, aber einige beziehen sich politisch dann doch darauf. Wie die USA, die jetzt verlangen, es müsse eine Untersuchung geben. Ich glaube, es braucht diese Untersuchung nicht einmal mehr.
derStandard.at: Warum sind Sie gegen eine Untersuchung des Vorfalls?
Leo Gabriel: Weil ganz klar ist, was in diesem Fall passiert und wie er abgelaufen ist.
derStandard.at: Sind für Sie alle Leute, die als Passagiere auf die Hilfsflotte eingestiegen sind, alle als Friedensaktivisten bezeichnen? Selbst die, die mit Eisenstangen und Steinschleudern auf die Soldaten losgehen, wie Videos zeigen?
Leo Gabriel: Man muss bedenken, dass ein Militärkommando mit schwer bewaffneten Soldaten das Schiff geentert hat und die Leute – zu Recht – aufgebracht waren, weil die Aktion in internationalen Gewässern stattgefunden hat. Die Friedensaktivisten hatten die Fahrt und Route gut durchdacht und mitten in der Nacht kamen plötzlich die Israelis und haben sie überfallen. Dann nahmen ein paar Leute Eisenstangen und versuchten, die Soldaten ins Meer zu schmeißen. Das war nicht mehr als Selbstverteidigung.
derStandard.at: Dazu gibt es unterschiedliche Sichtweisen.
Leo Gabriel: Ja, ich bin sicher, dass die Israelis deshalb die Information abblocken, weil sie ihre eigenen Information generieren. Ich bin sicher, dass sie etwas von Rauchbomben behaupten. Oder über Taschenmesser, die man aber normalerweise auch braucht, um auf See Seile zu durchschneiden. Alles das wird plötzlich aufgegriffen. Es würde mich nicht wundern, wenn Gewehre und Pistolen auftauchen, die die Demonstranten mitgehabt haben sollen.
derStandard.at: Sie sind trotzdem gegen eine Untersuchung des Vorfalls?
Leo Gabriel: Eine Untersuchung müsste schon stattfinden, aber nicht in der Form, dass die Israelis einfach auspacken und sich alles zurechtlegen, wie sie möchten. Wenn es ernsthafte Bemühungen geben würde in Richtung einer Untersuchung, hätte die schon längst begonnen.
derStandard.at: Wie kommen Sie zu dem Schluss, dass die Israelis versuchen würden, die Informationen zu steuern?
Leo Gabriel: Die Aktivisten wurden verhaftet und mundtot gemacht, weil man unter dem Vorwand der Registrierung keinen Journalisten an sie herangelassen hat.
derStandard.at: Warum wollten sich die Inhaftierten nicht abschieben lassen, sondern lieber im Gefängnis bleiben?
Leo Gabriel: Sie haben im Inneren des Gefängnisses Widerstand geleistet, indem sie gezeigt haben, dass sie zusammenhalten und dass sie jetzt nicht gehen werden. Nicht wenn nur einpaar gehen oder wenn dafür in irgendeiner Form ein Schuldgeständnis notwendig ist.
derStandard.at: Derzeit ist ihre Freilassung im Gange.
Leo Gabriel: Ja, darum bin ich gerade dabei zu überlegen, ob ich auch zurückfahren soll.
derStandard.at: Hatten Sie schon mit jemandem von ihnen Kontakt?
Leo Gabriel: Nein, noch nicht.
derStandard.at: Die Organisation soll vorgewarnt gewesen worden, die Möglichkeit, die Hilfsgüter über das Festland nach Gaza bringen zu lassen, ausgeschlagen worden sein. Der IHH-Vorsitzende Bülent Yildirim hielt nach eigenen Worten daran fest, um den Finger auf Gaza zu richten. War diese Fahrt ein Himmelfahrtskommando?
Leo Gabriel: So war es auch wieder nicht. Es war ein Projekt, das schon mehrere Mal stattgefunden hat gegen die Blockade des Gazastreifens. Und auch jetzt sind ja wieder Schiffe unterwegs. Rein rechtlich ist es eine Autonomiebehörde, aber jedes Kind weiß, dass dort nichts hineinkommt, weil die israelische Armee alles abblockt. Jetzt haben sich eben Organisationen und Gruppierungen zusammengetan, selbst Güter organisiert und zusammengetragen und wollten die auch persönlich aushändigen. Man kann sich nicht verlassen darauf, dass die Israelis diese Güter überhaupt durchlassen. Ich sehe nicht ein, warum man einer Kriegspartei – die Israelis sprechen ja selbst von einem Kriegszustand – die Gegenstände der Gegenseite in die Hände geben soll.
derStandard.at: Die Eskalation war also nicht vorprogrammiert?
Leo Gabriel: Sie haben schon damit gerechnet, dass die Israelis, so wie sie gestimmt sind, alles versuchen werden, um diese Boote zum Umkehren zu bringen. Das war ja nicht das erste Mal. Aber zwischen dem Versuch, den Wasserweg zu sperren und zwischen dieser rambomäßigen Kommandoaktion auf hoher See im Stile Mogadischus gibt es einen Unterschied. Damit hatte keiner gerechnet.
derStandard.at: Sie kennen einige Aktivisten. Es gibt Spekulationen, wonach die Aktion mit der Hamas abgestimmt gewesen sein soll. Halten Sie das für wahrscheinlich?
Leo Gabriel: Es mag Leute gegeben haben oder noch immer geben, die auch mit der Hamas beziehungsweise mit ihren Vertretern außerhalb des Gazastreifens Kontakt gehabt haben. Aber die Organisation selbst ist schon deshalb nicht in den Händen der Hamas, weil die Hamas eine islamistische Organisation ist und sich hier Leute von beispielsweise katholischen Organisationen wie “Pax Christi”, also aus den verschiedensten religiösen Ecken, beteiligen. Der Kampf für die Palästinenser hat eine lange Tradition. Daran haben sich im Laufe der Geschichte auch amerikanische Kirchenleute, Friedensbewegungen aus der Schweiz, evangelische Kirchenvertreter beteiligt. Zu sagen, dass das alles Anhänger der Hamas sind, ist sehr billig von Seiten der israelischen Regierung.
derStandard.at: Wird der Vorfall der Hamas helfen, salonfähiger zu werden?
Leo Gabriel: Er wird sie etwas aus dem terroristischen Eck bringen, in das sie die Israelis gedrängt haben. Wobei sich die EU-Politik ohnehin schon etwas verändert hat. Vor allem die letzten Stellungnahmen von Catherine Ashton (Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Sie bezeichnete die Abriegelung des Gazastreifens als “inakzeptabel”, Anm.) fand ich sehr wichtig. Das gibt nicht unbedingt der Hamas, aber Gaza an sich einen größeren öffentlichen Spielraum.
derStandard.at: Wird Ihrer Meinung nach an der Blockade gerüttelt werden, wie es etwa der französische Präsident Nicolas Sarkozy fordert?
Leo Gabriel: Im Moment ist Israel sehr im Eck. Vor allem aufgrund der unheiligen Hardliner-Koalition Benjamin Netanjahu-Avigdor Lieberman. Alles deutet darauf hin, dass sie auf stur schalten, aber die Frage ist, wie lange sie sich das leisten können. Nicht dass Israel auf Diplomatie besonders sensibel reagieren würde, aber die Beziehung zur Türkei wird aufgrund der Wasser- und Energiezufuhr doch noch sehr interessant werden. Die Israelis sind jetzt einmal in der Defensive, auch wenn sie noch so aggressiv tun. Das ist ein objektives Faktum.