Ein Kontroverse zur Frage von Oral History als Teil antikolonialer Geschichtsschreibung am Beispiel Palästinas, 6. Mai 2010, Wien
Zentrales und immer noch bestimmendes Selbstverständnis hegemonialer Wissenschaften in Europa und den USA ist das Prinzip universeller Gültigkeit und Objektivität. Stillschweigend wird dabei vorausgesetzt, dass die eigenen Paradigmen und Standpunkte als universelle Maßstäbe unhinterfragt bleiben und dabei die eigene Situiertheit und Verwobenheit von WissenschaftreInnen in einen Macht-Wissens-Komplex unhinterfragt bleiben. Die kolonialen Wurzeln europäischer Wissenschaften werden bei einer derartigen Herangehensweise an Wissenschaft ausgeblendet. Kritische Alternativen gegen diese Wissenschaftstradition lieferten insbesondere WissenschafterInnen des Südens, FeminstInnen, VertreterInnen der postcolonial studies und GlobalhistorikerInnen.
Der palästinensisch-amerikanische Literaturtheoretiker und Vordenker postkolonialer Theorien, Edward W. Said schrieb 1978 in der Einleitung seines Werkes „Orientalismus“, dass der allgemeine Konsens, „wahres“ Wissen zu generieren sei grundsätzlich unpolitisch und umgekehrt, offen politisches Wissen nicht „wahres“ Wissen sein könne, die fein, doch ebenso obskur organisierten politischen Umstände verdunkle, die für die Zeit gälten, in der ein Wissen produziert werde.
In der Kritik und Weiterentwicklung der Ansätze Saids – den postcolonial studies – blieb und bleibt jedoch ausgerechnet Palästina als „postkolonialer Sonderfall“ weitgehend ausgespart. Said schrieb „Das Leben eines arabischen Palästinensers im Westen und besonders in Amerika ist entmutigend. Es gibt hier einen beinahe einstimmigen Konsens, dass er politisch nicht existiert, und wenn es einmal erlaubt ist, dass er dies tut, ist er entweder lästig oder eben ein Orientale.“
Tatsächlich tauchte aus europäischer Sicht beispielsweise die palästinensische Nakba von 1948 in der Geschichtsschreibung und Wissenschaft als „erforschenswertes Thema“ erst auf, als israelische WissenschafterInnen im Zuge des Osloer Prozesses und der kurzfristigen Öffnung israelischer Militärarchive in den 1990er Jahren damit begannen Arbeiten über die Vertreibung der PalästinenserInnen zu veröffentlichen. Der israelische Historiker Benny Morris argumentiert, dass es – im Gegensatz zu israelischen Archiven – keine vergleichbaren wissenschaftlichen Quellen von arabischer Seite zu den Geschehnissen von 1948 gäbe, und ignoriert bewusst, dass die meisten palästinensischen Quellen, Dokumente und Aufnahmen im Zuge der Kriege 1967, 1973 und 1982 in Palästina und im Libanon geplündert, geraubt und vernichtet wurden.
Die Jahrzehnte vor Oslo verfassten Arbeiten palästinensischer und arabischer AuorInnen und WissenschafterInnen wurden nicht wahrgenommen oder schlicht ignoriert. Auch heute werden palästinensische und andere arabische Quellen von einer hegemonialen Wissensproduktion latent als unobjektiv klassifiziert und folglich disqualifiziert.
Das vorherrschende Wissenschaftsverständnis versperrt allzu oft die Sicht auf jene Formen der Geschichtsdokumentation, die die Marginalisierten selbst organisieren. Erst durch die Einbeziehung des Wissens der Marginalisierten, könnte aus einem „monokulturellen Selbstgespräch“ eurozentrischer Geschichtsforschung eine multilaterale Globalgeschichte entstehen.
Die palästinensische und arabische Zivilgesellschaft erarbeitete sich in den letzten Jahren durch die Methode der „Oral History“ vielfältige Quellen, die die Geschichte Palästinas vor und nach 1948 dokumentieren. Dieses Wissen, die Erfahrungen der Marginalisierten aufrecht zu erhalten und zu bewahren, stellt für sich einen Akt des Widerstandes gegen koloniale Geschichtsschreibung dar.
Impulsreferate und Podiumsdiskussion mit:
– a.o. Univ. Prof. Dr. Andrea Komlosy, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Uni Wien
– Dr. Ali Hweidi – Generalsekretär der palästinensischen NGO „Thabit“, Experte für Projekte im Bereich Oral History, Libanon
– Dr. Yasser Ali – Chefredakteur der Zeitung „Al Awda“, Libanon
– Tarek Hommoud – Generalsekretär der palästinensischen NGO Wajeb, Syrien
Donnerstag, 6. Mai, 19 Uhr
Dar al Janub – Verein für antirassistische und Friedenspolitische Initiative
Kleistgasse 8/3
1090 Wien
www.dar-al-janub.net