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»Ein Palästina für zwei Völker«


28. März 2010

Gespräch mit Yoav Bar. Über Okkupation, Apartheid und die Perspektive eines gemeinsamen demokratischen Staates für Israelis und Palästinenser

Interview: Das Gespräch führte Werner Pirker

 

Yoav Bar aus Haifa ist Aktivist der von israelischen Juden und Arabern gebildeten Organisation »Abnaa Al-Balad« (Kinder der Erde) und Initiator der Bewegung für einen demokratischen säkularen Staat in Palästina, deren bekanntester Exponent Professor Ilan Pape ist.

 

 

Wie rechtmäßig war die 1948 erfolgte Gründung des Staates Israel?

 

Die Geschichte der jüdischen Kolonisierung Palästinas geht weit vor die Staatsgründung Israels zurück und ist die Geschichte einer systematischen Verdrängung. 1948 fand dieser Prozeß aber seine extreme Zuspitzung. Die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung wurde von ihrem Land, aus ihren Dörfern und Häusern vertrieben. Das erfüllte eindeutig den Tatbestand einer ethnischen Säuberung. In diesem Sinn ist der zionistische Staat nicht mit dem Apartheid-Regime in Südafrika vergleichbar. Das weiße Regime in Südafrika schuf zwei ethnisch definierte Klassen, wobei die schwarze Arbeitskraft extrem ausgebeutet wurde. Das heißt: Die angestammte Bevölkerung wurde nicht aus ihrem Land vertrieben. Das zionistische Programm hingegen beruhte auf der totalen Negation der palästinensischen Existenz in Palästina. Millionen Flüchtlinge waren die Folge. Selbst innerhalb des von Israel seit 1948 kontrollierten Territoriums sind ungefähr ein Viertel der Palästinenser interne Flüchtlinge. Das sind Menschen, die aus ihren Dörfern und Häusern vertrieben wurden und denen es, auch wenn sie im Besitz der israelischen Staatsbürgerschaft sind, bis heute nicht erlaubt ist, zurückzukehren. Ein Gesetz, das sie zu Abwesenden erklärt, obwohl sie anwesend sind, beraubt sie jeglichen Ansprüche auf ihr vom Staat konfisziertes Eigentum. Oft müssen sie in ihren eigenen Häusern Miete an den Staat bezahlen. Diese Enteignungspolitik findet bis heute in allen Teilen Palästinas statt.

 

Die Realität widerspricht vollkommen den offiziellen Geschichtslügen, denen zufolge die Palästinenser »davongelaufen« wären, weil sie nicht in einem jüdischen Staat leben wollten oder von ihren Führern dazu aufgefordert worden wären. Es hat sich eindeutig um eine ethnische Säuberung gehandelt – begleitet von zahlreichen Massakern. Solchen, die bekannt geworden sind, und solchen, die es nicht wurden. Man hat Menschen in Moscheen getrieben, die dann angezündet wurden. Oder die männliche Bevölkerung Aufstellung nehmen lassen und jeden zehnten erschossen. Deshalb kam es zur Massenflucht. Nicht nur der Westen leistete Israel Rückendeckung und Waffenhilfe. Es gab auch einen sozialistische Beitrag zur ethnischen Säuberung Palästinas. Waffen aus der Tschechoslowakei.

 

In welcher Situation befinden sich die restlichen Palästinenser in Israel?

 

Zuerst muß erwähnt werden, daß die Elite fast zur Gänze vertrieben wurde. In Haifa zum Beispiel wurden die Schulen zerstört, das Erscheinen arabischen Zeitung unmöglich gemacht. Gewerkschaften und Parteien und andere den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft herstellende Organisationen aufgelöst. In Dörfern und kleinen Städten waren die Palästinenser, die den Säuberungen entkommen waren, zu einer terrorisierten Minderheit geworden. Zwischen 1948 und 1966 sahen sie sich einer direkten Militärverwaltung unterstellt. Um vom einen zum anderen Dorf zu gehen, brauchte man eine spezielle Erlaubnis. Das wurde natürlich als Mittel der politischen Kontrolle eingesetzt. Wer nicht parierte, konnte nicht einmal ein Krankenhaus aufsuchen.

 

Kann Israel als ein Apartheidstaat bezeichnet werden?

 

Meinem Verständnis nach ist ein Apartheidregime dann gegeben, wenn es in einem Staat für verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Gesetze gibt. Das ist in Israel der Fall, wo für Juden, Araber und Arbeitsmigranten unterschiedliche Rechtsvorschriften gelten. Das gibt es seit dem Sturz des Apartheid-Regimes in Südafrika sonst nirgendwo in der Welt. Nehmen wir zum Beispiel das Staatsbürgerschaftsrecht. Nach Israel einreisende Juden können quasi binnen einer Minute die Staatsbürgerschaft erwerben, während Nichtjuden so gut wie keine Möglichkeit haben, sie jemals zu bekommen. Wenn zum Beispiel eine Frau aus dem Westjordanland mit einem israelischen Staatsbürger verheiratet ist, ist es für sie so gut wie unmöglich, israelische Staatsbürgerin zu werden, was sie praktisch aus dem israelischen Sozialsystem ausschließt.

 

Zur Frage des Landbesitzes: 1976 waren immerhin noch 20 Prozent des Bodens in arabischem Eigentum, nun sind es nur noch 3,5 Prozent. Der Boden ist von den Arabern nicht verkauft worden. Er wurde vom Staat konfisziert. Der sich im staatlichen Besitz befindende Boden wiederum darf nicht an Nichtjuden verkauft werden. Auch die Entwicklungspolitik beruht auf der totalen Diskriminierung der arabischen Bevölkerung. In Galiläa, wo mehr als 50 Prozent der Bevölkerung Araber sind und wo es mehr als 1000 arabische Dörfer gibt, werden die Industriezonen ausschließlich in der Nähe jüdischer Siedlungsgebiete errichtet. Die Löhne der Juden sind doppelt so hoch wie die der Araber. Das hat nicht nur damit zu tun, daß das Gros der jüdischen Bevölkerung qualifiziertere Berufe als die arabische ausüben. Auch bei gleicher Arbeit gibt es große Einkommensunterschiede. Die Benachteiligung der angestammten Bevölkerung zieht sich durch alle Lebensbereiche. Die Dienstleistungen sind schlechter, die Schulen ganz besonders. Die Ausgaben für ein jüdisches Schulkind sind dreimal so hoch wie für ein arabisches. In keinem der arabischen Bevölkerungszentren gibt es ein Krankenhaus. Die jüdische Bevölkerung in Palästina lebt auf dem Niveau der Menschen in entwickelten Industriestaaten, während die Araber Dritte-Welt-Verhältnisse vorfinden.

 

Ein Menschenrechtsproblem ist auch das israelische Gefängniswesen. Israel hat nicht außergewöhnliche viele Gefangene. Doch es hat außergewöhnlich viele politische Gefangene – vor allem aus Gaza und der Westbank. Aber auch unter den nichtpolitischen Gefangenen ist der Anteil der israelischen Araber an der Gesamtzahl der Gefangenen sehr hoch. Wie der der Schwarzen in den USA.

 

Israel fühlt sich eng mit der westlichen Wertegemeinschaft verbunden. Doch obwohl der Zionismus eine im wesentlichen säkulare Idee ist, ist Israel kein säkularer, sondern ein über das Judentum im ethnischen und religiösen Sinn definierter Staat.

 

Ein Widerspruch?

 

In Israel sind nicht einmal standesamtliche Trauungen möglich. Als jüdischer Staat sucht Israel seine Legitimität vor allem auch in der Religion. Die zionistischen Eliten aber sind nicht besonders religiös. Sie glauben nicht wirklich an Gott, wohl aber daran, daß er ihnen das Heilige Land versprochen hat.

 

Wie äußert sich der Widerstand der arabischen Israeli gegen ihre Diskriminierung?

 

Nicht in Form bewaffneter Aktionen, sondern als Massenkampf. Für die Araber in Israel bedeutet jeder Aspekt ihres Lebens Kampf. Der Kampf begann mit dem ersten Tag der Okkupation im Jahr 1948. Was die Verteidigung der unmittelbaren Lebensinteressen der Palästinenser betrifft, hat die Kommunistische Partei Israels vor allem in den ersten Jahren eine ausgesprochen positive Rolle gespielt – trotz ihrer Anerkennung des zionistischen Projekts. In ihrer täglichen Praxis hat sie aber wesentlich dazu beigetragen, daß die arabische Bevölkerung sich zu wehren begann. Als der 1956 während des Suezkrieges in zionistischen Kreisen entworfene Plan, eine zweite Vertreibungswelle zu organisieren, zwar wieder verworfen wurde, es in einem Dorf aber dennoch zu einem Massaker mit 56 Toten kam, war es die kommunistische Presse, die dieses Verbrechen aufdeckte. Hauptanliegen der Kommunisten ist, die arabische Bevölkerung in den israelischen Staat zu integrieren. Aus unsere Sicht aber sollen die Araber nicht zu einem Teil dieses neokolonialistischen Projekts werden. Aber auf der anderen Seite wollen die Zionisten gar nicht, daß die Araber in dieses Projekt integriert werden. Israelische Araber, die sich an diesem Projekt beteiligen wollten, wurden abgewiesen. Das ließ sie zu dem Bewußtsein gelangen, daß man den Zionismus bekämpfen müsse. Nach dem Junikrieg kam es zu einem Aufschwung der nationalen Bewegung in ganz Palästina, besonders in den 1967 besetzten Territorien. Aber auch innerhalb des 1948 besetzten Gebiets erwachte das nationale Bewußtsein. Unsere von Arabern und Juden gemeinsam getragene Organisation war sich stets bewußt, daß der Kampf um nationale Emanzipation einer fortschrittlichen sozialen Orientierung bedarf.

 

Agiert Ihre Gruppe »Abnaa Al-Balad« mit ihrer radikal antizionistischen Positionierung nicht allein auf weiter Flur?

 

Wir treten für einen säkularen demokratischen Staat für alle Bürger Palästinas ein. Neben uns gibt es andere nationale Bewegungen, die weniger fortschrittlich sind. Hier sei vor allem die Nationaldemokratische Allianz erwähnt, die auf ein Übereinkommen zwischen der Palästinénsischen Autonomiebehörde und dem israelischen Staat unter US-Schirmherrschaft setzen. Neben einem palästinensischen Staat in Gaza und auf der Westbank sollte ihrer Meinung nach Israel als Staat seiner Bürger – und nicht des jüdischen Volkes – existieren. Doch ist diese Forderung ebenso wie die der Kommunistischen Partei nach einer vollen Integration der arabischen Bevölkerung in die israelische Gesellschaft nicht zu verwirklichen, da es auf israelischer Seite keine Berereitschaft zu einer Veränderung der Natur Israels in Richtung eines Staates seiner Bürger gibt. Dieser Slogan wird zum Teil damit begründet, daß er die Unfähigkeit Israels, sich positiv zu verändern, demonstrieren soll. Oder damit, daß man zwar von der Idee eines demokratischen Staates für beide Völker überzeugt sei, zuerst aber Veränderungen innerhalb Israels anstoßen wolle.

 

Innerhalb der palästinensischen Widerstandsbewegung haben die islamistischen Kräfte die säkular-nationalistische Tendenz zurückgedrängt. Ist das auch bei den Arabern in Israel so?

 

Auch innerhalb des 1948er-Territoriums ist die islamische Bewegung die stärkste Kraft. Sie ist eine Graswurzelbewegung, die auf lokaler Ebene schon seit langem ihre Agenda verfolgt. Sie hat ein sehr weitreichendes politisches und soziales Programm, von der Erziehung über die Entwicklung einer lokalen Ökonomie bis zur Verteidigung heiliger Stätten. Eine politische Perspektive aber bietet sie nicht an.

 

Welche Perspektive bietet »Abnaa Al-Balad« an?

 

Unsere auf einen demokratischen Staat für alle Bewohner Palästinas gerichtete Perspektive ist die einfachste und natürlichste Lösungsvariante. Die Lösung eines Problems muß an der Entstehungsgeschichte des Problems orientiert sein. Ausgangspunkt ist die Vertreibung der Mehrheit der Palästinenser im Verlauf der zionistischen Landnahme. Die wichtigste Komponente einer Lösung müßte deshalb die Rückkehr der Flüchtlinge sein. Und zwar in alle Teile Palästinas, weil sie aus allen Teilen Palästinas vertrieben worden sind. Akzeptiert man die ethnischen Säuberungen als vollendete Tatsache, und genau das bedeutet die Anerkennung Israels als jüdischer Staat, dann ermutigt man weitere ethnische Säuberungen. Die Palästinenserführung hat Israel als jüdischen Staat anerkannt und ist in Verhandlungen über die Westbank eingetreten. Doch die Israelis haben mit dem Bau jüdischer Siedlungen auf palästinensischem Territorium weitere vollende Tatsachen geschaffen. Und das ermutigt sie zur Fortsetzung ihrer Expansion. Deshalb wollen wir die Vertreibungen rückgängig machen. Jede vertriebene Person soll das Recht auf Rückkehr haben. Das läßt sich am besten innerhalb des Rahmens eines gemeinsamen demokratischen Staates bewerkstelligen. Nur so kann der Problemkomplex aus ethnischen Säuberungen, Okkupation und Apartheid gelöst werden. Und nur so kann das Problem der Juden gelöst werden. Denn die von den Israelis behauptete Bedrohung ist, sofern sie tatsächlich existiert, eine von der zionistischen Konfrontationspolitik hervorgerufene Bedrohung.

 

In unserer Region prallen unversöhnliche Interessen aufeinander. Die Kräfte, die das Nahostproblem verursacht haben, sind stärker als jene, die imstande wären, es zu lösen. Die Macht des Zionismus ist eine vom Imperialismus geliehene. Die Konfrontation zwischen Siedlern und Einheimischen in Palästina ist ein Ergebnis der Konfrontation zwischen dem Imperialismus und den Völkern des Nahen Ostens. Es sieht danach aus, als könnte der Imperialismus die Region nicht mehr auf die gewohnte Weise beherrschen. Das ist im Irak, im Libanon und in Gaza deutlich geworden. Zionismus und Imperialismus befinden sich in einer großen Krise. Auch die zionistisch orientierten Menschen in Israel suchen nach einer Lösung. Nicht weil sie das Recht der anderen Seite anerkennen, sondern weil sie für sich selbst einen Ausweg suchen. Wie das in Südafrika der Fall war. Der Apartheidstaat war international isoliert. Er hätte noch zwanzig Jahre weiterkämpfen können, aber ohne Aussicht auf den Sieg. Auch der Zionismus hat die Kraft, weiter zu kämpfen. Aber er kann nicht gewinnen, weil die Völker der Region seinen Rassismus niemals hinnehmen werden.

 

Welchen Namen soll der demokratische Staat haben?

 

Palästina. Damit wäre zum Ausdruck gebracht, daß das zionistische Projekt zu Ende ist. Er entspricht dem ursprünglichen Konzept der PLO, ein demokratisches Palästina für alle dort lebenden Menschen zu schaffen.

 

Welche antiimperialistischen Kräfte außerhalb Palästinas betrachten Sie als unterstützenswert?

 

Eine hohe Wertschätzung verdient die libanesische Hisbollah. Das meinen nicht nur wir. Überall im Nahen Osten bewundern die Volkskräfte die Hisbollah. Das bezieht sich vor allem auf ihre militärischen Erfolge im Kampf gegen die israelische Aggression. Bewunderung verdient auch, daß sie keine sektiererische, sondern eine auf die Überwindung der religiösen Spaltung gerichtete Politik verfolgt. Sie hat eine Koalition aller progressiven Kräfte der libanesischen Gesellschaft gebildet. Sie hat zuwege gebracht, woran die historische Linke gescheitert ist, nämlich einen Bürgerkrieg entlang konfessioneller Frontlinien zu verhindern. Das ist vor allem deshalb interessant, weil es sich bei der Hisbollah um eine islamische Gruppe handelt. Das Hisbollah-Projekt ermutigt uns auch in unserem Land, gemeinsam mit islamischen Gruppen für einen demokratischen Staat in Palästina zu kämpfen.

 

Wie beurteilen Sie die Nahostpolitik der gegenwärtigen US-Administration?

 

Die Politik Barack Obamas hat keine politische Vision für den Nahen Osten, wie das die Bush-Leute mit ihrer »Greater Middle East«-Konzeption hatten.Sie kritisieren Israels Siedlungspolitik, aber sie können nichts vorweisen, was nach einer Zukunftsperspektive aussieht. Das verstärkt unter den Palästinensern die Einsicht, daß von den USA nichts Positives zu erwarten ist. .

 

Ende Mai soll in Haifa ein Kongreß die Perspektive eines demokratischen Staates für beide Völker erörtert werden …

 

Wir haben bereits 2008 einen solchen Kongreß durchgeführt. Daran haben Vertreter von Parteien und der Zivilgesellschaft und viele Wissenschaftler teilgenommen. Auf der im Mai stattfindenden zweiten Haifa-Konferenz soll eine internationale Koalition für eine demokratische Lösung des Palästinakonflikts gebildet werden. Von Haifa soll auch ein Anstoß für die Bildung einer Bewegung ausgehen, die Druck auf die westlichen Regierungen ausübt, damit diese Sanktionen gegen Israel verhängen. Erörtert werden soll, wie die Rückkehr der Flüchtlinge zu organisieren wäre, das heißt, wie man einen Slogan in ein Programm verwandeln kann.