Beobachtungen in Moabit
Issa H. lebt schon 30 Jahre in Deutschland, er hat als Kind im palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon den israelischen Bombenterror erlebt. Die Richterin befragt ihn „zur Person“: geboren 1964; Herr H. weist darauf hin, dass im Polizeiprotokoll ein falsches Geburtsjahr eingetragen sei; der Staatsanwalt betont, dass dies die Ermittlungen erschwert und das Einholen eines Zentralregisterauszuges unmöglich gemacht habe, was wiederum prozessverzögernd wirke. Issa H. ist von Beruf Kinderkrankenpfleger und arbeitet derzeit als Krankenpfleger, falls wir bei der miserablen Akustik des Saales die fast geflüsterten Fragen der
Richterin und die leisen Antworten von Issa H. richtig verstanden habe.
Wir versuchen, uns nicht zu ärgern, dass die „Öffentlichkeit“ (rund 20 Menschen auf zwei Stuhlreihen an der dem Richtertisch gegenüber liegenden Schmalseite des Raumes) dem Prozess doch nur sehr eingeschränkt folgen kann wegen der Akustik und wegen der Sprechweise insbesondere der Richterin. Wir hoffen, gemeinsam das Wesentliche doch mitbekommen zu können. So liegt es wohl auch an der Akustik, dass uns verborgen bleibt, warum es zu dem immer schärferen Wortwechsel kommt zwischen einem zunehmend gereizten Staatsanwalt und einem überaus selbstbewussten Verteidiger, der immer wieder auf seine jahrelangen Erfahrungen bei Staatsschutzprozessen verweist. Wir hören eine Drohung in der Aussage des Staatsanwaltes, der darauf verweist, es könne sich auch um das Delikt der Volksverhetzung handeln, und da sei der staatenlose Angeklagte ja sogar mit Ausweisung bedroht. Und da sei zu fragen, ob der Verteidiger ihn wohl richtig berate. Das alles gipfelt in dem Antrag des Verteidigers auf Beistellung eines Pflichtverteidigers, da er sich gezwungen sehen könnte, die Verteidigung niederzulegen. Dass wir das Verhalten der beteiligten Juristen nicht verstehen, mag auch an unserem Mangel an Erfahrung in Gerichtssälen liegen.
Dann hören wir endlich, welcher Straftat Herr H. angeklagt ist: er hat auf einer der Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg ein selbstgemaltes Poster hochgehalten, das ein Hakenkreuz und einen Davidsstern nebeneinander zeigte und die Aufschrift trug: Wer wegsieht ist schuldig. Wir glauben, uns zu entsinnen, bei der Demo das Plakat gesehen und es als sehr prägnant empfunden zu haben. (Leider haben wir es nicht fotografiert wie Hunderte anderer Plakate; doch da wir die Fotos alle auf unsere Web-Site gestellt habe, säßen wir vielleicht jetzt neben Issa H. auf der Anklagebank…!)
Wo ist der Tatbestand? Der Staatsanwalt spricht von StGB 86a, also dem Paragraphen, wie wir später nachlesen, der im „Besonderen Teil“ des StGB unter der Kapitelüberschrift 1. Abschnitt – Friedensverrat, Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates (§§ 80 – 92b) 3. Titel – Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates (§§ 84 – 91) das „Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ unter Strafe stellt. Herr H. erklärt auf Befragen der Richterin, seine Absicht bei der Verwendung des Hakenkreuzsymbols sei gewesen, auf die Verbrechen der Deutschen zur Zeit des Nationalsozialismus und auf des Schweigen der Öffentlichkeit damals hinzuweisen und eine Verbindung herzustellen zu dem Schweigen der Öffentlichkeit heute zu dem, was an Grausamkeiten in Palästina, besonders in Gaza stattfinde. Ihm seien bei den Bildern der verstümmelten Kinder seine eigenen Kindheitserlebnisse wiedergekommen. Er habe aufrütteln wollen: schaut nicht wieder weg! Issa klingt glaubwürdig. Seine Betroffenheit ist greifbar.
Der Verteidiger führt als Beweismittel u.a. einen Text von Uri Avnery ein, aus dem er ausführlich vorliest, um zu begründen, dass Issas Vergleich von nationalsozialistischem Völkermord mit dem derzeitigen Genozid an den Palästinensern zumindest verständlich ist und auch in der Öffentlichkeit sowohl in Israel (Uri Avnery) wie auch in Deutschland behandelt wird. Der Prozess wird vertagt, schon um den noch ausstehenden Zentralregisterauszug einholen zu können.
Wir verlassen nachdenklich das Gericht: Was wird hier inszeniert? Die Anklage gegen den Völkermord der Nazis wird gar nicht wahrgenommen. Die graphische Gestaltung dieser Anklage mittles des Hakenkreuzes wird als Verherrlichung des Dritten Reiches interpretiert. Welch widersinnige Konstruktion! Zu Hause, vor dem PC-Bildschirm, versuchen wir, zu verstehen, was hier juristisch abläuft.
Und siehe da, unser Rechtsystem ist keineswegs so „formalistisch“ wie die nackte Formulierung des 86a befürchten lässt. Eine einfache Suche lässt uns gleich zwei BGH-Urteile finden, die deutlich machen, dass die Rechtsprechung durchaus den „Schutzzweck“ des 86a beachtet und im Urteil des BGH 01.10.2008 – 3 StR 164/08 sagt: „Ein tatbestandliches Handeln scheidet aber dann aus, wenn sich aus den Gesamtumständen der Verwendung des Kennzeichens eindeutig ergibt, dass diese dem Schutzzweck des § 86 a Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht zuwider läuft.“
Und auch schon ein Jahr früher im Urteil vom 15.03.2007 – 3 StR 486/06 heißt es: „Der Gebrauch des Kennzeichens einer verfassungswidrigen Organisation in einer Darstellung, deren Inhalt in offenkundiger und eindeutiger Weise die Gegnerschaft zu der Organisation und die Bekämpfung ihrer Ideologie zum Ausdruck bringt, läuft dem Schutzzweck des § 86 a StGB ersichtlich nicht zuwider und wird daher vom Tatbestand der Vorschrift nicht erfasst.“ (http://dejure.org/dienste/lex/StGB/86a/1.html)
„Schutzzweck“? Die §§84-91 stehen unter dem Titel Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, der Schutz soll also dem Staat und seinem Charakter als demokratisch und als Rechtsstaat gelten. Ist dieser Schutz gefährdet, wenn die Verbrechen des Nazireichs und die Gleichgültigkeit der Deutschen damals genannt und mit dem Geschehen heute in Beziehung gesetzt werden? Wir meinen nein, im Gegenteil: der Staat wird geschützt, wenn wache Bürger auf Tendenzen hinweisen, die ihn gefährden können, z.B. eben die Gleichgültigkeit und das Wegsehen. Also können wir für Issa hoffen, aber auch für uns, denn was wäre das für ein Staat, der seinen Bürgern verwehrt, historisches Unrecht anzuklagen und plakativ zu vergleichen mit dem, was heute geschieht?! Doch der Prozess geht weiter, am 16.6., 11 Uhr, wieder in Moabit, Kirchstr. 6 Hier die Links zum Nachlesen und –denken: §130 http://dejure.org/gesetze/StGB/130.html
§86 http://dejure.org/gesetze/StGB/86.html §86 a http://dejure.org/gesetze/StGB/86a.html
Der Verteidiger von Issa H. hat auf seiner Internetsite (http://www.menschenrechtsanwalt.de/) eine Presseerklärung zum Prozess hinterlegt, die er vor dem Gerichtstermin veröffentlicht hat: http://racf.de/Presseerklaerung%20Gaza-Demo%20Symbole.pdf