„Antizionistisch“ und „evangelikal“ – gegensätzlich oder zusammengehörig?

F. Weber

Sehr geehrtes versammeltes Publikum!

Zunächst danke ich den Veranstaltern für die Einladung, bei dieser Kundgebung zu sprechen, wodurch ich Gelegen­heit habe, meine Sicht als freikirchlicher Christ zu dem derzeit im Parlament eingebrachten „Entschließungsantrag“ einiger Nationalratsabgeordneten darzulegen. Darin werden legitime Boykott-Aktionen gegen die Unterdrückungs­politik der israelischen Regierung gegenüber dem palästinensischen Volk zu Unrecht kompromittiert und mit „Antisemitismus“ gleichgesetzt.

Da ich als „evangelikaler Antizionist“ angekündigt worden bin, möchte ich meine Ausführungen folgendermaßen betiteln und dies zur Diskussion stellen:

„Antizionistisch“ und „evangelikal“ – gegensätzlich oder zusammengehörig?

Um Missverständnissen vorzubeugen, werde ich zunächst auf diese beiden Begriffe genauer eingehen und zugleich zum näheren Verständnis der Entwicklung des Nahost-Konflikts beitragen. Grundsätzlich ist zwischen politischem und religiösem Zionismus zu unterscheiden.

1. Zionismus und Antizionismus

a) Politischer Zionismus

Ich würde mich nicht mit „dem Antizionismus“ identifizieren, solange nicht geklärt ist, was überhaupt unter „dem Zionismus“ verstanden wird, weil sich dessen Bedeutungsinhalt im Laufe des 20. Jahrhunderts grundlegend gewan­delt hat. Der Begriff wurde 1890 durch den in Wien geborenen jüdischen Schriftsteller Nathan Birnbaum geprägt, dem ersten Generalsekretär der Zionistischen Organisation. Dieser war ein Vertreter der kulturellen Variante des Zionismus, die eine Besiedlung Palästinas auch ohne eigenen Staat propagierte. Später wandte er sich aber vom Zionismus überhaupt ab.

Sechs Jahre, nachdem der „Zionismus“-Begriff aufgekommen war, schrieb der assimilierte jüdische Journalist öster­reichisch-ungarischer Herkunft, Theodor Herzl, sein berühmtes Buch: „Der Judenstaat“, in dem er seinen „Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“ konzipierte. Damit gilt er als Begründer des politischen Zionismus.

Weitere sechs Jahre später präsentierte Herzl in dem Roman „Altneuland“ seine Utopie einer jüdischen Gesell­schaftsordnung in Palästina. Es war ihm darum gegangen, nach einer politischen und nationalen Lösung zu suchen, wodurch jüdische Menschen ohne Diskriminierung in Ruhe und Frieden leben könnten. Seine Motive waren nicht religiöser, sondern politischer, säkularer und kultureller Natur. Aus der jüdischen Religion hat sich Theodor Herzl nichts gemacht (er hat nicht einmal seinen Sohn beschneiden lassen). Die „Neue Gesellschaft für die Kolonisierung von Palästina“, wie er sie in seiner Utopie propagierte, verstand sich als weltbürgerlich und schloss Nichtjuden nicht aus, sondern sollte allen offenstehen, ungeachtet ihrer Herkunft, Abstammung und Religion.

Wenn es also vorrangig darum gegangen ist, dass verfolgte jüdische Menschen in einer Zufluchts- und „Heimstätte“ gleichberechtigt und in friedlichem Einverständnis mit ihren Nachbarn leben, dann wäre ein solches Anliegen unter­stützenswert, wie dies etwa der US-amerikanische Pionier der Sprachwissenschaft, Noam Chomsky, vertreten hat, der aus jüdischem Haus stammt. Vor einigen Jahren erwähnte er in einem Interview, in jungen Jahren als Aktivist im Nahen Osten gewesen zu sein. Zitat:

„Damals bezeichnete man uns als 'Zionisten'. Wir hatten die gleiche Haltung, die ich heute noch habe: Wir waren gegen den [exklusiv] jüdischen Staat und unterstützten eine Zwei-Staaten-Lösung, basierend auf arabisch-jüdischer Zusammenarbeit. Das wurde damals von der zionistischen Bewegung unterstützt.“ [1]

Und im Nachsatz sagte er: „Heute nennt man das 'Antizionismus'“.

Wir fragen uns: Wie nennt man dann den heutigen Zionismus? Die Antwort lautet: „Neozionismus“.
Aber was ist „Neo-Zionismus“?

Neozionismus ist eine politisch rechtsgerichtete, nationalistische und religiöse Ideologie in Israel, die in Israel nach dem Sechstagekrieg 1967 und der Einnahme des Westjordanlands und des Gazastreifens in Erscheinung trat.

b) Neozionismus

Im Rückblick stellt sich also heraus, dass Theodor Herzls politischer Zionismus, seine Vision von einer egalitären, säkular-demokratischen und offenen Gesellschaft, ins Gegenteil verkehrt wurde, und zwar bereits lange vor der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948. Zwar wurde in der Unabhängigkeitserklärung noch die Vision Herzls dahingehend bemüht, dass der Staat Israel „auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein“ [2] und „all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen [!]“ werde (Paragraph 13). Zudem war versprochen worden:

„Der Staat Israel wird bereit sein, mit den Organen und Vertretern der Vereinten Nationen bei der Durchführung des Beschlusses vom 29. November 1947 [Anm.: des von der UN-Generalversammlung als Resolution 181 (II) ange­nommenen UN-Teilungsplans für Palästina] zusammenzuwirken und sich um die Herstellung der gesamtpalästinen­sischen Wirtschaftseinheit bemühen. […] Wir reichen allen unseren Nachbarstaaten und ihren Völkern die Hand zum Frieden und zu guter Nachbarschaft und rufen zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe mit dem unabhängigen hebräischen Volk in seiner Heimat auf.“

Aber es spricht alles dafür, dass diese Absichtserklärungen nicht mehr als ein diplomatisches Kalkül waren, um die Staatengemeinschaft für eine Anerkennung Israels zu gewinnen. Dazu drei Hinweise:

  • Erstens basierten diese Zusagen ohnedies nur auf den verpflichtenden Vorgaben der Resolution zum UN-Teilungsplan für Palästina. Darin waren für beide Seiten (für die jüdische und die arabische) demokratische Verfassungen vorge­sehen, die (1) das allgemeine Wahlrecht enthalten sollten, (2) die Respektierung der Menschen- und Bürgerrechte, (3) der Schutz der heiligen Stätten aller in Palästina vorhandenen Religionsgemeinschaften und vor allem (4) der Schutz der nationalen und der religiösen Minderheiten. Doch schon 1917 die sog. Balfour-Erklärung zur „Schaffung einer jüdischen Heimstätte“, auf die sich die Zionisten stets berufen, war gebunden an die Wahrung der „bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nichtjüdischen Gemeinschaften in Palästina“ (Schutzklausel).

Ungeachtet dessen hat Israel es bis heute unterlassen, gemäß diesen bindenden Vorgaben eine Verfassung mit definierten Staatsgrenzen zu erstellen; damit hat es sich militärische Gebietserweiterungen offengehalten. Anders – wenn auch scheinheilig, weil die ultraorthodoxen Haredim trotz ihrer politischen Beteiligung den zionistischen Staat ablehnen –, argumentierte der Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, Rabbi Meïr David Loewenstein, gegen eine Staatsverfassung mit der Warnung: „Wenn sie der Torah Israels widerspricht, ist es eine Revolte gegen den Allmächtigen; wenn sie mit der Torah identisch ist, ist sie überflüssig. Eine Verfassung wird zu einem kompromisslosen Kampf führen... einem Kulturkampf“.[3]

  • Zweitens wurden diese „Garantien“ nicht nur nie in die Tat umgesetzt, sondern es wurde sofort eine entgegengesetzte Politik eingeleitet bzw. fortgesetzt.
  • Drittens hat die Knesset 2007 die in der Unabhängigkeitserklärung ausdrücklich „verbürgten“ (s. o.) Garantien lediglich zu „Leitprinzipien“ herabgestuft. Sie seien „weder ein Gesetz noch ein gewöhnliches Rechtsdokument“. Der Oberste Gerichtshof entschied schließlich, dass sie „keine verfassungsmäßige Gültigkeit hat und dass es sich nicht um ein oberstes Gesetz handelt, das zur Ungültigerklärung von Gesetzen und Vorschriften, die ihr widersprechen, heran­gezogen werden kann“. Welchen praktischen Zweck sollten diese wohlklingenden Erklärungen also haben? Wohl nur den, der Weltöffentlichkeit vorzutäuschen, einen egalitären Staat errichten zu wollen.[4]

Schon vor dem Beschluss des UN-Teilungsplans hatten die Zionisten mit Kriegsvorbereitungen begonnen, nun aber, in den darauffolgenden fünfeinhalb Monaten bis zur Unabhängigkeitserklärung, forcierten die Untergrundmilizen ihre „aggressive Verteidigung“, [5] auch in dem im UN-Teilungsplan den Palästinensern zugesprochenen Gebiet:[6] Terror und Gegenterror, ethnische Säuberungen durch Vernichtung hunderter arabischer Dörfer und die Vertreibung und Massakrierung ihrer bodenständigen Einwohner, auch als Abschreckungsmaßnahme (Deir Jassin!). Um die Rückkehr von Flüchtlingen (sogenannter „Infiltranten“) an den Frontlinien zu unterbinden, erließ die Politik Anweisungen zu ihrer sofortigen Erschießung sowie entsprechende Rückkehr-Verhinderungsgesetze nach der Staatsgründung. Dies alles diente dazu, Fakten für ein „araberreines“ Territorium zu schaffen.[7] Das mit allen Mitteln und um jeden Preis angepeil­te Kriegsziel der Zionisten, so ist David Ben-Gurions Kriegstagebuch zu entnehmen, nämlich die militärische Erobe­rung des gesamten Territoriums bis zum Jordan, scheiterte zwar zunächst wegen des arabischen Widerstands und des Drucks der Großmächte, einen Waffenstillstand zu schließen, was 1949 zur Waffenstillstandslinie, der „Grünen Linie“ zwischen Israel und dem Westjordanland, führte. Bis zur Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens mit Syrien am 24. Juli 1949 hatten die Zionisten ihre Landfläche im Vergleich zum UN-Teilungsplan um fast 50% vergrö­ßert und diese Gebiete annektiert. Aber damit nicht genug, haben die Zionisten mittels eines offenbar lang vorbereite­ten Plans am 5. Juni 1967 und im darauffolgenden („6-Tage“-) Krieg ihr Kriegsziel alleiniger Oberherrschaft über ganz Palästina zwischen Mittelmeer und Jordan schließlich nachgeholt. Und diese geben sie erklärtermaßen nicht mehr aus der Hand, jedenfalls nicht über die wertvollsten und fruchtbarsten Gebiete wie das Jordantal. Spürbare Sankti­onen von außen könnten aber wirksamen Druck gegen die seit langem schleichende de facto-Annexion ausüben.

Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass schon mit dem Abzug der Briten und der Ausrufung des Staates „Israel“ das ursprüngliche Ziel einer „jüdischen Heimstätte in Palästina“ laut Balfour-Erklärung mehr als erreicht bzw. weit „übererfüllt“ war. Doch statt nun ihre Gründungsversprechen gegenüber der UNO und der verbliebenen nichtjüdi­schen Bevölkerung zu erfüllen, betrieben die „Gründungsväter“ unbeirrbar eine entgegengerichtete Politik, sodass spätestens ab dem Zeitpunkt der Staatsgründung die zionistische Vision Theodor Herzls tot war. Die Okkupation des Westjordanlandes 1967 förderte die Entwicklung zu dem, was wir als „Neo-Zionismus“ bezeichnen. Als grundlegen­der Paradigmenwechsel erwies sich zehn Jahre später (1977) die politische Wende von der Dominanz des bisher weitgehend sozial ausgerichteten, säkularen linken Spektrums, der Arbeitspartei (Labour-Zionism), zum wirtschafts­liberalen und nationalistisch-religiösen rechten Flügel, dem späteren Likud-Block von Menachem Begin, dem Jabotinsky-Schüler und Ex-Terror-Chef der Irgun (Etzel). Spätestens in der jüngsten Ära der Regierung Benjamin Netanjahus entwickelte sich das ehemals durch die sozialistische Kibbuz-Bewegung geprägte Land wirtschafts­politisch zu einer neoliberal-marktrabiaten Industriegesellschaft, in der sich die Schere zwischen arm und reich dramatisch geöffnet hat und ein Großteil des Kapitals in Israel von nur wenigen superreichen Milliardärsfamilien und eingebürgerten jüdischen Oligarchen kontrolliert wird.

c)  Religiöser Zionismus kabbalistischer Tradition: Osteuropäischer Chabad-Chassidismus schlägt orthodoxen Antizionismus der talmudischen Tradition („Drei Eide“).

Über einen Zeitraum von etwa eineinhalb Jahrtausenden hinweg galten die „Drei Eide“ („Drei Schwüre“) des talmu­disch-orthodoxen Judentums als unantastbare göttliche Weisung. Es handelte sich um die rabbinische Auslegung der dreimaligen „Beschwörung“ an die „Töchter Jerusalems“ in Salomos „Lied der Lieder“ (2,7; 3,5; 5,8): Die Juden im Exil sollten, so die erste Beschwörung (2,7), die Liebe zu ihrem Stammland „nicht zu früh wecken“. Gemäß Rabbi Ze'era (um 300 n. Chr.) bedeutete dies, dass sie nicht „geschlossen“ (wörtlich: „wie eine Mauer“) „hinaufziehen“ durften, um als „ganzes Volk“ – mittels Masseneinwanderung nach Palästina und mit Waffengewalt – „das Ende“ (d. h. die Ankunft des Messias) zu „erzwingen“, denn nur der Messias selbst könnte sie aus der „Zerstreuung“ (hebr. Galut) herausführen und wiederherstellen („erlösen“). Dieser berühmte talmudische Abschnitt im Traktat Kethuboth (bT 111a), der auch in anderen Teilen des Talmuds seinen Niederschlag findet, war von der überwiegenden Mehr­zahl der Talmudgelehrten (insbesondere von Maimonides) stets einem göttlichen Gebot gleich geachtet worden. Es versteht sich, dass dieses Verbot den zionistischen Zielen diametral widersprach und sie daher vom traditionellen Judentum vehement abgelehnt wurden und von einer ultraorthodox-antizionistischen Minderheit – bis heute – sogar bekämpft werden. Für sie war die Gründung des Staates Israel „eine echte Katastrophe, so wie es die Zerstörung des Tempels in Jerusalem war“ (Rabbi Samuel Josef Rabinov, Oberrabiner von London, 1953); in diesem „Staat der Hölle“ zu wohnen (Rabbi Asher Zelig Margaliot), bedeutete nichts anderes, als immer noch im Exil zu leben.

Ungeachtet des orthodox-rabbinischen Masseneinwanderungsverbots trat im Ostjudentum des 18. Jahrhunderts eine diametral entgegengerichtete Strömung auf. Darin wurde die religiös motivierte Einwanderung nach Palästina geradezu als notwendige Voraussetzung für das Kommen des Messias propagiert, somit noch vor dem Aufkommen der Haskala-Bewegung, der jüdischen Aufklärung, und lange vor der Entstehung des exklusiven Nationalismus und seiner jüdischen Variante, des säkularen Zionismus.

 

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Wie war es zu diesem Paradigmenwechsel gekommen?

Hierzu folgender Exkurs (1): Talmudisch-kabbalistische Auserwählungsreligion und Anti-Nonsemitismus

Der Verlust des Herodianischen Tempels und damit des levitisch-hohepriesterlichen Versöhnungsdienstes hatte im rabbinischen Judentum ab 70 CE eine unersetzliche Leere hinterlassen. Gleichsam als Surrogat entwickelten sich kabbalistische Strömungen aus vorrabbinischen Ansätzen zur Mystik wie die Merkava- und Hekhalot-Literatur, um, wie man meinte, mittels ekstatischer „Himmelsreise“ und magisch-theurgischer Beschwörung zur unmittelbaren Anschau­ung Gottes auf seinem Thron zu gelangen.[8] Rabbi Nechonja ben HaQana, Zeitgenosse von Rabbi Jochanan ben Zakkai, dem führenden Tannaiten im 1. Jahrhundert, wird als Verfasser des Sefer ha-Bahir (hebr. „Buch der Erleuch­tung“) angesehen. Bald entstand in Palästina der Sefer ha-Razim („Buch der Geheimnisse“), ein magisch-mystisches Zauberbuch. Zum bedeutendsten Schriftwerk der Kabbala wurde das Sefer ha-Sohar („Buch des Glanzes“), das zwar erst gegen Ende des 13. Jhts. in Spanien auftauchte, aber Schimon ben Jochai zugeschrieben wird, dem Schüler von Rabbi Akiba ben Joseph. R. Akiba gehört zu den bedeutendsten Vätern des rabbinischen Judentums und wird zu den Zehn Märtyrern gezählt. Er war es, der den Führer des neuerlichen, 135/6 CE verheerend gescheiterten Aufstands gegen die Römer, Simon bar Kochba, davor zum „Messias“ ausgerufen hatte.

Im 16. Jahrhundert begründete der revolutionäre sephardische Rabbi Isaak Luria (mit dem Akronym „ARI“ als Ehren­name, hebr. „Der Heilige Löwe“) in Safed in Galiläa nach intensivem Sohar-Studium die neuzeitliche Kabbala mit pantheistischem Ansatz. Sein bedeutendster Schüler und Hauptinterpret, Rabbi Chajim ben Joseph Vital, stufte ARIs Lehren als Enthüllungen durch göttliche Inspiration ein. In Sha'ar HaGilgulim („Tor der Reinkarnationen“) überlieferte er dessen Lehre von der kosmischen Unterschiedlichkeit der Seelentypen von Juden und Nichtjuden: Die nichtjüdische Seele stammt aus der satanischen Sphäre (aus deren weiblichem Teil) und ist ohne göttliches Wissen geschaffen, während die jüdische Seele von der „Heiligkeit“ (aus Gott) stammt.[9] In dem komplizierten „Prozess der Wiederher­stellung (Tiqqun) der in Unordnung geratenen Schöpfung“ gemäß der lurianischen Kabbalistik spielen die – lebens­lange – (Re-) Inkarnation (Gilgul) und die vorübergehende Schwängerung einer lebenden Seele durch eine andere gute (Ibbur) oder böse (Dibbuk) Seele eine Rolle. Der Unterschied betreffend Juden und Nichtjuden zwischen Talmud und Kabbala wird deutlich an dem Verständnis der Konversion eines Nichtjuden zum Judentum: Während der Talmud bzw. die Halacha den Konvertiten als neuen Juden betrachtet, ist das nach der Kabbala unmöglich. Sie lehrt, dass Konvertiten zwar wirkliche jüdische Seelen sind, aber zur Strafe in einen nichtjüdischen Körper gesendet worden waren und später, durch die Konversion zum Judentum, erlöst worden sind, weil entweder ihre Strafe zu Ende war oder ein heiliger Mann vermittelt hat. Nach kabbalistischer Anschauung kann wegen des kosmischen Unterschieds zwischen Juden und Nichtjuden eine satanische Seele allein durch Überzeugung nicht in eine göttliche Seele transformiert werden. Diese Art des kabbalistischen Glaubens an Metempsychosis ist in der Halacha nicht zu finden.

Nach Erscheinen des Sohar wurde die Reinkarnationslehre für einige Zeit Allgemeingut im Judentum, besonders im osteuropäischen Chassidismus, der im 18. Jht. entstanden und heute weltweit verbreitet ist. Als dessen Gründer gilt der Visionär Israel ben Elieser, genannt Baal Schem Tov („Meister des guten Namens“). Dieser trat bei seinen Grün­dungsreisen mit magischen Praktiken als Wunderheiler und Exorzist von Dämonen und bösen Geistern (Shaydim) auf. Einer seiner wichtigsten Schüler, Rabbi Dow Bär („der große Maggid“), war der Lehrer von Schnëur Salman von Ljadi (1745-1812), dem Ahnherrn der heute mächtigen und in Washington und Jerusalem höchst einflussreichen chassidi­schen Chabad-Lubawitsch-Bewegung. Sie ist mit ihren Institutionen und Emissären in rund 70 Ländern vertreten.

Chassiden versuchen, in persönlichem und gemeinschaftlichem Gebet, in Meditation, Musik, Liedern und Tänzen bis zur religiösen Ekstase, bei messiasähnlicher Verehrung ihres chassidischen Rabbi (jiddisch: Rebbe), dem Zaddik („Gerechten“), ganzkörperlich in eine höhere Existenzebene und Gott näher zu kommen. Jedes Jahr verbringen Zehn­tausende (2015: 30.000) das jüdische Neujahrsfest Rosch HaSchana im ukrainischen Uman, wo sich das Grab des Rabbi Nachman von Breslow befindet (dessen Wiederkehr sie erwarten), eines Urenkels von Baal Schem Tov, um ausgelassen zu feiern, zu tanzen und sein Grab zu küssen – das gilt als spirituell heilsam (https://bit.ly/2AwvWbD).

Die Chabad-Lubawitscher entwickelten einige vom Chassidismus des Baal Schem Tov abweichende, innovative Vor­stellungen, die sich auch in ihren Liedern niederschlugen. 1772 begann Schnëur Salman mit der Formulierung der Grundlehren der Chabad-Philosophie, 1797 veröffentlichte er sein religionsphilosophisches Hauptwerk, das Buch Tanja. 1803 veröffentlichte er einen Siddur (Gebetbuch), der dem Ritus von Isaak Luria folgt.

Entscheidend dabei ist: Mit seiner Rezeption der lurianischen Kabbala hatte Schnëur Salman einen radikalen Paradigmenwechsel im Verständnis der „Endzeit“ eingeleitet. Nach Isaak Luria müssten die Juden im Exil nicht geduldig auf den Messias warten; sie können seine Ankunft beschleunigen. Jeder einzelne jüdische Fromme („Chassid“) könne durch seine Handlungen und seine Gesetzestreue daran aktiven Anteil haben, die „Erlösung“ der Welt zu bewerkstelligen.

Auf Basis dieser Lehre entwickelte der Rabbiner Zvi Hirsch Kalischer (1795-1874) seine Vorstellung von der „Rückkehr des jüdischen Volkes“ nach Palästina in Form einer Masseneinwanderung. Einen entsprechenden Aufruf veröffentlichte er in seiner 1863 erschienenen Schrift „Drischat Zion“ (Sehnsucht nach Zion) als Beitrag zur „Erlösung“ des jüdischen Volkes, womit er die biblisch-heilsgeschichtliche Erlösungslehre profanierte.

Der siebte (und bisher letzte) Nachfahr der Chabad-Dynastie, Menachem Mendel Schneerson (gest. 1994), den ein Teil seiner Anhänger (die „Messianisten“) immer noch für den Messias selbst halten und zu ihm als Fürsprecher im Himmel beten, war berauscht von der Erwartung, dass der Messias bald erscheinen werde. Er lehrte, es sei Aufgabe seiner Generation, die Ankunft des Messias zu erwirken. Das Hauptziel des Chassidismus bestehe darin, „die jüdi­schen Massen aus dem Leben in der Diaspora heraus- und nach Zion heimzuführen“. Seit der Gründung des Staates Israel 1948 beteiligt sich daher die Chabad-Bewegung aktiv am Aufbau des Staates. Dabei lehnte Menachem Mendel Schneerson jeglichen territorialen Verzicht auf Teile des biblischen Landes Israel ab, das seiner Meinung nach dem jüdischen Volk zugesprochen sei, und bekämpfte deshalb den 1993 begonnenen Oslo-Friedensprozess „Land gegen Frieden“. Als weitere politisch einflussreiche Schlüsselpersonen in der Fortentwicklung des exklusiv jüdischen Staates zum rabbinistisch-fundamentalistischen „Großisrael“ mit zielgerichtet-brachialer „Re-Judaisierung“ der okkupierten Westbank (anachronistisch in „Judäa und Samaria“ umbenannt) gelten die geistigen Väter der Siedlerbewegung Gusch Emunim („Block der Getreuen“): der orthodoxe Großrabbiner Abraham Isaak Kook (1865-1935) und sein Sohn Zwi Jehuda Kook (1891-1982), und weiters der langjährige sephardische Oberrabbiner Ovadja Josef (1920-2013). Von diesem sind zahllose „umstrittene“ Aussagen bekannt wie: Palästinenser seien „Übeltäter und Schlangen“ (2000), man dürfe keine Gnade ihnen gegenüber zeigen und müsse Raketen auf sie schießen und insbesondere alle Christen aus dem Staatsgebiet von Israel ausrotten (2001), das sei eine „religiöse Pflicht“. Zwi Jehuda Kook galt als extrem feind­selig gegenüber allen Nichtjuden. Palästinenser waren laut ihm kein Volk, sie hatten somit keine Einheimischenrechte (ähnlich wie die Kanaanäer) und somit nur die Wahl zwischen Unterwerfung und Vertreibung.

Aufgrund des Glaubens an ihre „Auserwähltheit“ behauptet Gusch Emunim, die politisch einflussreiche, messianisti­sche Siedlerbewegung, über die Ansprüche aller anderen Völker hinweg einen ungeteilten und alleinigen Anspruch auf das gesamte israelitische Land der Frühgeschichte („vom Euphrat bis Ägypten“ bzw. „bis Jamit“) zu haben und der moralischen Gesetze „von Gott“ entbunden worden zu sein, denen die „normalen“ Nationen unterworfen sind. Nach Kooks Lehre muss das Heilige zu seiner Vollendung den Weg durch das Unheilige gehen. Der Krieg von 1967 sei eine „metaphysische Transformation“ gewesen, wodurch „das Land aus der Macht Satans in die göttliche Sphäre über­geführt“ worden sei. Dies sei der Beweis, dass die „messianische Ära“ und der „Prozess der Erlösung“ angebrochen ist („Wir sind bereits mitten im Thronzimmer“). [Anm.: Ovadja Josef dagegen war der Ansicht, dass die „Zeit des Messias“ noch nicht gekommen ist und darum die Nichtjuden in „Judäa und Samaria“ noch nicht vertrieben werden können; dies, wie auch die Zerstörung aller götzendienerischen christlichen Kirchen, werde erst beim Kommen des Messias als einem metahistorischen Ereignis zur „Erlösung“ geschehen.]

Während der israelischen Invasion im Libanon war das Militärrabbinat in Israel deutlich von den Ideen der beiden Kooks beeinflusst, als es alle Soldaten ermahnte, den Fußspuren Josuas zu folgen und die (vermeintlich) göttlich aufgetragene Eroberung Israels wiederherzustellen. Gusch Emunim hatte sogar verlangt, den Libanon zu annektieren und in die alten israelitischen Stammesnamen Aser und Naphtali umzubenennen. Die Ermahnung zur Eroberung sollte auch die Ausrottung der nichtjüdischen Bewohner inkludieren, denn der Extrem-Chauvinismus der Messianisten richtet sich gegen alle Nichtjuden (Anti-Nonsemitismus oder Antigojismus). Die Ähnlichkeiten zwischen der jüdisch-politisch-messianistischen Bestrebung und dem deutschen Nazismus ist unübersehbar: Die Heiden sind für die Messianisten das, was die Juden für die Nazis waren. Die Vorstellung vom Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden in der NS-Rassenlehre erinnert frappant an jene der lurianischen Kabbala – mit umgekehrten Vorzeichen.

Die Ideologie der Kook-Rabbis ist sowohl eschatologisch („endzeitlich“) als auch messianisch ausgerichtet. Sie geht von einem bald bevorstehenden "Kommen des Messias" aus und behauptet, dass die Juden danach durch Gottes Hilfe über die Nichtjuden triumphieren und fortan über sie herrschen werden. Gusch Emunim argumentiert, dass das, was wie eine Beschlagnahmung von arabischem Land zwecks fortschreitender jüdischer Besiedlung erscheint, in Wirklich­keit kein Diebstahlsakt sei, sondern ein „Heiligungsakt“. Im Gegenteil betrachten die Gusch Emunim-Rabbis die in Israel lebenden Araber als Diebe, weil alles Land in Israel, basierend auf „Verheißung“, jüdisch war, ist und verbleibt und daher jegliches Eigentum darin den Juden gehört. [Exkurs Ende]

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All dies belegt, dass der Halacha- und Kabbala-Fundamentalismus in diametralem Gegensatz zum aufgeklärten Demokratieverständnis und zur Europäischen Menschenrechtskonvention steht und sich Israel infolgedessen unaufhaltsam zum intoleranten, faschistoid-neozionistischen und orthodox-rabbinischen „Ajatollah“-Staat entwickelt. Der religiöse Zionismus, der längst die Elite erfasst hat, erinnert in gewissem Sinn an das Begriffspaar „Blut und Boden“: jüdisches „Blut“ auf jüdischem Land, von nichtjüdischem „Blut“ gesäubert. „Er ist die neue Elite, und er ist nicht mehr an Kompromissen interessiert“, bekundete der rechtextreme Knesset-Abgeordnete und ehemalige Vorsitzende des Instituts für Zionistische Strategien (IZS), Yoaz Hendel. (Bericht in Jedi’ot Achronot, der zweitgrößten Tageszeitung Israels im Dez. 2015, zitiert in Ha’aretz vom 25. Dez. 2015 unter der Überschrift: „Religious Ultranationalist Zionists Have Taken Over Israel“).

Fazit: Es wurde hiermit der Nachweis erbracht, dass der nationalistisch-religiösen, neozionistischen Politik Israels eine Form von talmudisch-kabbalistisch inspiriertem Anti-Nonsemitismus inhärent ist, der sich in der Unterdrückung und Verdrängung des palästinensischen Volkes manifestiert (Antiarabismus, laut Chomsky: „antiarabischer Rassis­mus“, s. o.). Der gegenständlich debattierte „Selbständige Entschließungsantrag“ unserer Nationalratsabgeordneten zu „Antisemitismus“ und „BDS“ leistet dieser demokratiefeindlichen Ideologie auf erschreckende Weise Vorschub.

2. „Evangelikal“

a) Historisch-evangelikales Christentum

Damit kommen wir zum religiösen Zionismus evangelikaler Tradition. Was ist unter „evangelikal“ zu verstehen?

Diese Bezeichnung knüpft an den dritten (oder „linken“) – überwiegend gewaltfreien – Flügel der Reformation des Christentums im 16. Jahrhundert an, neben dem Augsburger und dem Helvetischen Bekenntnis und jenseits von Katholizismus und Protestantismus. Die Reformatoren und ihre Nachfolger waren nicht weit genug gegangen in der Wiederherstellung der ursprünglichen neutestamentlichen Glaubenslehre der Apostelzeit. Vor allem haben sie nicht mit der unseligen Machtverschränkung von Kirche und Staat gebrochen (die erst im 4. Jahrhundert entstanden war, nach der Konstantinischen Wende bzw. durch die Gründung der „Reichskirche“ unter Theodosius I.). Unter Zuhilfe­nahme weltlicher Obrigkeiten hatten die verschiedenen Lager samt der Gegenreformation einander bekämpft und sich um die Hegemonie im sogenannten „Heiligen Römischen Reich“ rivalisiert.

Die evangelikalen Bewegungen hingegen wie die Hutterer, Mennoniten, Baptisten, aber auch schon die vorreforma­torischen Waldenser praktizierten ein Verständnis von lose vernetzten, selbstorganisierten egalitären örtlichen Gemeinden gemäß der Lehre Jesu und der Apostel (vgl. Mat 23,8-12). Zudem lehnten sie die sakramentalistische Taufpraxis von Säuglingen ab, sondern tauften nur auf das persönliche Glaubensbekenntnis, wodurch sie lange Zeit von den Großkirchen diskriminiert, diffamiert, verfolgt, gefoltert und vertrieben wurden. Einer der Prominentesten: Balthasar Hubmaier (Die Wahrheit ist untödtlich.). Als Glaubensgrundlage erkennen Evangelikale – „evangeliums­gemäß“ – nur das Neue Testament an, das zugleich als die einzig autoritative Auslegung des Alten Testaments verstanden wird (Paradebeispiel: die „Bergpredigt“). Engagierte Evangelikale waren in England die Vorkämpfer zur Abschaffung der Sklaverei (allen voran William Wilberforce) und zur Durchsetzung der Religionsfreiheit für alle.

b) Evangelikaler Zionismus und seine Abkehr vom reformatorischen Erbe

Vor knapp zwei Jahrhunderten geschah jedoch etwas, das die evangelikale Bewegung zunehmend und nachhaltig gespalten hat und in jüngerer Zeit in der Öffentlichkeit – am Auffälligsten durch lautstark politisierende evangelikale Zionisten in den USA – pauschal in Verruf zu bringen und ihre Glaubwürdigkeit zu unterminieren vermag. Im 19. Jahr­hundert traten „Endzeit“-schwärmerische Bibelausleger mit spätapokalyptischen Sonderlehren auf, die es niemals zuvor in der Theologiegeschichte gegeben hat. Diese lassen sich in drei Punkten zusammenfassen:

Erstens wurden Juden plötzlich als „substanziell“ anders gegenüber Nichtjuden wahrgenommen, und zwar wesen­haft über die Religion hinaus, ohne freilich konkret erklären zu können, worin eigentlich der Unterschied bestehen soll. Offenbar wurde hier einfach dem talmudisch-kabbalistischen Selbstverständnis der orthodoxen Judenheit als die „Andersgearteten“ und über alle Heidenvölker erhobenen „Auserwählten“ Tribut gezollt. Tatsächlich bedeutete dies jedoch einen fatalen Rückfall gegenüber dem, was im Neuen Testament bereits klargestellt worden war, nämlich, dass es vor Gott eben „keinen Unterschied“ gibt – allein im Römerbrief wird dies sogar zweimal ausdrücklich betont. (Besonders ausgeprägt ist dieser „Andersartigkeits“-Dünkel bei sogenannten „Messianischen Juden“, d. s. Juden, die Jesus als Messias angenommen haben, aber ihr „Judesein“ weiterhin betonen.)

Zweitens sollten alle Juden, so vertreten es diese neuen „evangelikalen Zionisten“, darin gefördert werden, ihre bisherigen Wohnsitze unter den Völkern zu verlassen und in das sogenannte „Heilige Land“ einzuwandern, damit – drittens – diese vermeintliche „Wiederherstellung Israels“ letztendlich in ein sogenanntes „Tausendjähriges Friedens­reich“ mit „Juden“ als dessen „Herrschervolk“ münden könnte – ein jüdischer Chiliasmus.

Doch davor noch – und das ist das Beklemmende an dieser widerspruchsvollen Lehrverirrung – soll „bald“ das blut­rünstigste Massaker aller Zeiten im Nahen Osten auf einem Schlachtfeld namens „Harmagedon“ stattfinden, ein eschatologischer Entscheidungskampf, währenddessen „Christus wiederkommt“. Tatsächlich jedoch handelt es sich bei dieser obskuren Erwartung um einen antibiblischen Anachronismus, indem Weissagungen, die im 1. Jahrhundert längst nachweislich erfüllt wurden (in der Zeit bis 70 CE), in unsere Zukunft vorausprojiziert werden. Immerhin können so mit dieser „Endzeit“-Masche noch unbegrenzt Geschäfte gemacht werden, denn erstens ist das Reservoir an in aller Welt verstreuten jüdischen Menschen unerschöpflich, zweitens wollen die meisten ihre derzeitigen Stammländer (vor allem USA und Kanada) gar nicht verlassen (zumal es wohl keinen unsichereren Platz auf der Welt für jüdische Menschen gibt als im Staat Israel), umgekehrt kehren – drittens – immer wieder (und immer mehr) jüdische Einwanderer Israel enttäuscht den Rücken (was die zionistischen Akteure geflissentlich verschweigen), und viertens ist der beständige Ausblick auf „das Ende“ schlicht und ergreifend nichts als Chimäre – ein Trugbild.

Zugleich sind solche Schwärmer oft auch martialische Kriegstreiber (vor allem im Nahen Osten und neuerdings gegen den Iran), leisten oft einem Antiarabismus Vorschub (Palästinenser werden mit den antiken Philistern asso­ziiert, den ehemaligen Feinden des alten Israel), sind oft Klimawandelleugner, Umweltschutz-Muffel und – dazu passend – Trump-Anhänger, denn: Wenn „das Ende nahe“ ist, was brauchen wir uns da noch lange um die Umwelt zu sorgen! Geschäftstüchtige Reiseveranstalter organisieren zionistisch inspirierte („embedded“) Reisen in „God’s Promised Land“, um vermeintliche „Verheißungserfüllungen“ vor Augen zu führen, wenn etwa das ehemals kahle Hügelland und die Negev-Wüste durch Aufforstungen wieder ergrünen.

Diese neuen Prämissen (drei Punkte, s. o.) haben zu dem befremdlichen Kult geführt, dass evangelikale Zionisten seit 1948 – wie ehemals um Aarons „Goldenes Kalb“ – gleichsam um den Staat Israel tanzen und das heutige „jüdi­sche Volk“ bewundernd erheben, als sei es der „Augapfel Gottes“ selbst, sodass ein kritisches „Antasten“ Israels und seiner Politik als Sakrileg gilt. Bei christlich-zionistischen Veranstaltungen schwenken sie die israelische National­flagge und verehren ein Hexagramm-Symbol mit magisch abwehrender Bedeutung, das freilich schon durch das ganze Mittelalter hindurch von Muslimen, Christen und Juden gleichermaßen als Talisman gegen Dämonen und Feuergefahr verwendet wurde und bis ins 19. Jahrhundert ein allgemeines religiöses Symbol war, ehe es von den Zionisten als ihr exklusives Staatssymbol entdeckt wurde („Davidstern“).

Doch über all dem lassen alarmierende Verhaltensweisen der evangelikal-zionistischen Community aufhorchen: Nachdem ihre Protagonisten, einschließlich Buchautoren und Verleger, seit den Jahren nach 1948 das auf explizite Anweisung von Ben-Gurion bewusst selektiv[10] verbreitete Narrativ der israelischen Administration und ihre Jubel­propaganda für „Erez Israel“ gutgläubig übernommen hatten, verabsäumten sie es im Gegenzug bis heute, die längst veränderte Historiografie aufgrund der Öffnung israelischer Militär- und Staatsarchive seit den 1980er Jahren in Israel und damit die Neubewertung historischer Fakten überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn zu berück­sichtigen. Es „kann“ doch nicht sein, dass „Gottes [jüdisches] Volk“ himmelschreiende Verbrechen begehe oder gar die ganze zionistische Bewegung nur eine profane Spätgeburt kolonialistischer Ideologie sowie die „biblische“ Etikettierung ein genialer Marketinggag wäre – oder allenfalls ein gelungener Fall von „Self Fulfilling Prophesy“…! Diesbezüglich herrscht ein geradezu hermetisches Schweigen und Ignorieren der neuen zeitgeschichtlich-wissen­schaftlichen Erkenntnisse, die sich mittlerweile in der Fachwelt, insbesondere unter namhaften israelischen Histori­kern, längst durchgesetzt haben, sodass ein etwaiger „Antisemitismus-Vorwurf als [neozionistisches] Herrschafts­instrument“ – so Prof. Moshe Zuckermann – ins Leere zielt. Mit der standhaft beibehaltenen Tabuisierung der wahren Ereignisse während des sogenannten „Unabhängigkeitskrieges“ (passender: des Staatsgründungskrieges) folgen sie auffallend beflissen der praktizierten Verfälschung der Geschichte durch die Neozionisten.

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Dazu folgende Hintergrundinformation:

Exkurs (2): Wie der Staat Israel die Aufklärung seiner Kriegsverbrechen von 1948 behindert – eine Chronologie

1.  Auf Basis von freigegebenen historischen Dokumenten, die bis zum Ablauf der dreißigjährigen Geheimhaltungsfrist in Militärarchiven unter Verschluss gehalten waren, verfasste der israelische Historiker, Prof. Benny Morris, 1987 sein bahnbrechendes Werk über die „Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems 1947-1949“ („The Birth of the Palestinian Refugee Problem 1947–1949“. Cambridge University Press).

2.  1999 wurden Schulbücher für den Geschichtsunterricht in Israel eingeführt, welche die Nakba (arab. „Katastrophe“) als traumatisches Erlebnis der palästinensischen Bevölkerung und eine aktive Rolle des israelischen Staates und Militärs bei Vertreibungen während des Gründungskrieges von 1948 thematisierten.

3.  Demgegenüber sprach sich der damalige Likud-Parteichef Ariel Sharon 2001 im Rahmen einer Wahlkampfrede dafür aus, die – mittlerweile erhärteten – Thesen der sog. Neuen Historiker um Simha Flapan, Benny Morris, Tom Segev, Ilan Pappé und anderen aus den Schulbüchern wiederum zu verbannen. Sharon gewann die Knesset-Wahl und wurde im März 2001 Ministerpräsident (Premierminister). Daraufhin begannen Teams des Verteidigungsminis­teriums, die Archive Israels zu durchsuchen und historische Dokumente zu entfernen. Hunderte von Dokumenten wurden in Rahmen der systematischen Bemühung, Beweise für die Nakba zu verbergen, in Tresoren verstaut. Während der Amtszeit des Historikers Tuvia Friling als israelischer Chefarchivar von 2001 bis 2004 führte MALMAB [ein Akronym für die geheime Sicherheitsabteilung des Verteidigungsministeriums] seine ersten Archivrazzien durch. Was als Operation zur Verhinderung des Durchsickerns nuklearer Geheimnisse begann, wurde mit der Zeit zu einem groß angelegten Zensurprojekt (dies war, wie Friling sagte, einer der Gründe für seinen Rücktritt nach nur dreijähriger Amtszeit). Yehiel Horev, der MALMAB zwei Jahrzehnte lang, bis 2007, leitete, erklärte, das Ziel sei es, die Glaubwürdigkeit von Studien über die Geschichte des Flüchtlingsproblems zu untergraben. Er hält es für sinnvoll, die Ereignisse von 1948 zu verschleiern, da, so die Argumentation, ihre Aufdeckung "zu Unruhe unter der arabischen Bevölkerung des Landes führen könnte".

4.  2008 verbot das israelische Ministerium für Kultur und Sport die Verwendung des Wortes Nakba auch in arabisch­sprachigen Schulbüchern. Gideon Sa'ar (Bildungsminister ab 2009) erklärte, es gebe keinen Grund, die Gründung des Staates Israel in offiziellen Unterrichtsprogrammen als „Katastrophe“ darzustellen.

5.  Nachdem die Geheimhaltungsfrist über die Ereignisse des Gründungskrieges längst abgelaufen war, wurde sie im Jahr 2010 auf 70 Jahre erstreckt und im Februar 2019 – trotz Widerstands des Obersten Archivrates – erneut verlängert – auf 90 Jahre.

6.  Im März 2011 beschloss die Knesset (das israelische Parlament) ein kontroverses Gesetz (das Nakba-Gesetz), das zwar nicht das Gedenken verbietet, aber jene Institutionen bestraft, die solche Gedenkfeiern abhalten oder unter­stützen. Zudem erlaubt es dem Finanzministerium, staatliche Förderungen für solche Institutionen zu kürzen.

7.  2013 reichte Shay Hazkani, ein Assistenzprofessor am Meyerhoff Center for Jewish Studies an der University of Maryland, zusammen mit Rechtsanwalt Avner Pinchuk von der Association for Civil Rights in Israel beim IDF-Archiv einen Antrag auf Freigabe der Verschlusssache für die Öffentlichkeit ein. Im November 2013 lehnte das IDF-Archiv diesen Antrag ab („IDF“ steht für Israeli Defense Forces).

8.  2015 entdeckte die Historikerin Tamar Novick ein Dokument im Archiv von Yad Yaari in Givat in der Akte von Yosef Waschitz von der damaligen Mapam-Partei über Ereignisse während des Krieges von 1948. Der Autor beschrieb Massaker, Plünderungen und Misshandlungen, die von israelischen Streitkräften verübt wurden. Benny Morris, mit dem sie sich darüber besprach, sagte ihr, dass auch er in der Vergangenheit auf ähnliche Dokumente im Archiv von Yad Yaari gestoßen sei. In einer Fußnote seines Buches hatte er auf Notizen des Mapam-Zentralausschusses verwiesen, die auf Aussagen von Israel Galali, des ehemaligen Stabschefs der Hagana-Miliz, beruhte. Als Novick in das Archiv zurückkehrte, um das Dokument mit diesen Notizen zu untersuchen, stellte sie überrascht fest, dass es nicht mehr vorhanden war. Als sie die Verantwortlichen fragte, wo das Dokument sei, erfuhr sie, dass es in Yad Yaari hinter Schloss und Riegel aufbewahrt worden sei – auf Anordnung des Verteidigungsministeriums. Gegen Ende des Mapam-Dokuments hatte es geheißen: „Was in Galiläa geschah – das sind Handlungen der Nazis!“

9.  Erst am 11. September 2016 trat auf Antrag des Chef-Archivars des israelischen Staatsarchivs der Ministeraus­schuss zusammen, um den von Shay Hazkani und Avner Pinchuk 2013 (s. o.) eingereichten Antrag auf Freigabe der Akte zu erörtern. Das Ergebnis war, dass Außen-, Verteidigungs- und Justizministerium kategorisch gegen die Freigabe der Akte stimmten. Hazkani stellte fest, dass es in den israelischen Archiven mehrere Akten und Doku­mente mit Bezug auf 1948 gibt, die die Öffentlichkeit noch nie gesehen hat, einschließlich Akten im Zusammenhang mit dem Massaker von Deir Yassin. Indem diese Entscheidung die Beamten in ihrer Geheimhaltung bestärkte, so sagte er, würden sowohl der Staat als auch die IDF-Archive "Forscher aus Israel und der Welt daran hindern, die Geschichte von 1948 in ihrer Gesamtheit zu erzählen" (https://bit.ly/3etL5ZX).

10. 2019: Die Teams des Verteidigungsministeriums untersuchen nach wie vor Dokumente auch anderer Archive, etwa in Yad Tabenkin, dem Forschungs- und Dokumentationszentrum der Vereinigten Kibbuz-Bewegung. Nach einer Ära der Offenheit und Transparenz „verdichten sich die Reihen. […]. Es gibt offenbar Kräfte, die in die entgegengesetzte Richtung ziehen", meinte Aharon Azati, der Direktor von Yad Tabenkin, gegenüber Ha'aretz
(Lesenswert: Wie Israel Beweise für die Vertreibung der Araber 1948 systematisch verbirgt, https://bit.ly/3fOvNPD).

Während eines Studienaufenthalts in Ostjerusalem im Frühjahr 2018 hatte ich Gelegenheit, die israelische Professorin für Sprachwissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem, Nurit Peled-Elhanan, kennenzulernen. Sie ist die Tochter des in Israel hoch angesehenen Generals, Gelehrten und Politikers Mattityahu „Matti“ Peled (1923-1995), der sich nach seiner aktiven Dienstzeit ab Mitte der 1970er Jahre für den Dialog zwischen jüdischen Israelis und Palästi­nensern engagierte. Kurz vor seinem Tod gehörte Peled 1993 noch zu den Mitbegründern von Gusch Shalom, zusam­men mit Uri Avnery. Auch Nurit Peled-Elhanan engagiert sich im Sinne ihres Vaters für die israelisch-palästinensische Verständigung. Sie wurde im Jahre 2001 dafür vom Europäischen Parlament mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet. 2012 verfasste sie eine Studie darüber, wie tendenziös in israelischen Schulbüchern über Palästina und die palästinen­sische Bevölkerung berichtet und dadurch Ressentiments und Rassenhass unter der israelischen Schuljugend gegen „die Araber“ geschürt wird. Diese außerordentlich lesenswerte Studie wurde in Buchform veröffentlicht: „Palestine in Israeli school books. Ideology and propaganda in education”. London: I.B. Tauris, 2012, ISBN 978-1-78076-505-3.

Es lohnt sich, Frau Peled-Elhanan in dem 28minütigen Interview aus dem Jahr 2011 auf YouTube kennenzulernen: https://bit.ly/3hr5noY. Landkartendarstellungen in israelischen Geographiebüchern weisen Palästina nicht mehr separat aus – das gesamte Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan wird in ein und derselben Farbe dargestellt. [Exkurs Ende]

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Nichtsdestoweniger trotzen evangelikale Zionisten nach wie vor der historischen Wahrheit, um stattdessen den Staat Israel pauschal als „Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen“ – ohne seriösen biblischen Nachweis – vorzeigen zu können und damit zu „legitimieren“. Mit diesem Argument meinen sie, auch seine völkerrechtswidrige und oftmals verbrecherische Politik gegenüber der bodenständigen Bevölkerung als „Gottes Werk“ (!) weißwaschen zu können – was eine geradezu blasphemische Unterstellung bedeutet. Zudem brechen sie damit wesentliche biblische Rechts­vorschriften, allen voran das Verbot einseitiger Parteinahme und die Unterdrückung von Beweismitteln.

So ist der Verdacht nur noch schwer von der Hand zu weisen, dass solche Kreise samt ihren Ausbildungsstätten von der „Hasbara“-Propaganda (das ist die mit jährlich zig Millionen Dollar dotierte „Erklärungs“-Strategie der Israel-Lobby) erfolgreich zum Stillhalten „angefüttert“ werden. Sie müssen sich jedenfalls den Vorwurf gefallen lassen, Zionismus-hörig auf der falschen Seite Israels zu stehen, statt auf der Seite der Gerechtigkeit, der historischen Wahr­haftigkeit und der Solidarität mit den Unterdrückten und Schwachen der Gesellschaft, wie es schon die biblischen Propheten immer wieder eingemahnt hatten und einer zentralen Forderung der Lehre Jesu entspricht.

Fazit:

Der „evangelikale Zionismus“ ist weder historisch gesehen „evangelikal“, noch konsequent „bibeltreu“.

Auch wenn sich dessen die meisten ihrer Fan-Gemeinden offenbar nicht bewusst sind, beweisen sie doch nicht einmal ein konsequentes Demokratieverständnis für Israel im Sinne der Trennung von Religion und Staat.

Die Übereinstimmung in den drei Lehrprämissen (s. o. 2.b) zwischen evangelikalem Neozionismus
und den halachisch-kabbalistischen Vorstellungen ist frappierend:

(1) die Behauptung eines grundlegenden „Unterschieds“ zwischen Juden und Nichtjuden,

(2) die vermeintliche Notwendigkeit einer aktiv zu betreibenden Sammlung („Rückführung“) aller jüdischen Menschen ins sogenannte „Heilige Land“ auf Basis territorialmagischer Vorstellungen und eines behaupteten „biblischen und historischen Rechts“ ihrer exklusiven Aneignung des Landes mit allen Mitteln,

(3) die Erwartung des „baldigen“ Anbruchs eines messianischen Chiliasmus mit jüdischer Vorherrschaft.

Diesen drei Punkten und den gewählten Mitteln widerspricht so gut wie alles, was die Verfasser des Neuen Testaments gemäß dem Schriftverständnis ihres Meisters als Vermächtnis hinterlassen hatten. Demgemäß ist der Begriff „christlicher Zionismus“ ein Oxymoron: Wenn mit dem Begriff „Zionismus“ – gleichgültig welcher Ausprägung – die Ausrichtung auf einen irdischen Tempelberg gemeint ist, kann dies nicht „christlich“ sein, weil die alttestamentliche „Zions“-Weissagung laut Neuem Testament in dem „himmlischen Jerusalem“ endgültig und ausschließlich erfüllt worden ist (Gal 4,26; Eph 2,21; Heb 12,22; Off 14,1), wodurch der irdische Tempelberg bedeutungslos geworden ist (Joh 4,20-24; Mat 23,37; 24,2; Luk 19,43-46; Gal 4,25).

Die „Land“-Verheißung an Abraham ist in dem „unverwelklichen Erbe“ durch das Evangelium ein für allemal und endgültig erfüllt (Mat 5,5-6; Röm 4,16; Gal 3,14.16.29; 4,28; Heb 6,17-20; 1Pet 1,4; Heb 11).

„Evangelikal“ im Sinne des Neuen Testaments – evangeliumsgemäß – kann nur sein, was der Lehre Jesu entspricht:

  1. die „Goldene Regel“ Jesu allen Menschen gegenüber, da es vor Gott kein Ansehen der Person gibt (Apg 10,34f; Jak 2,1-13): »Alles nun, was ihr von Menschen (= von anderen) erwartet, dass sie euch tun sollen, auf diese Weise tut auch ihr ihnen; denn dies ist das Gesetz und die Propheten.« (Mat 7,12; vgl. Röm 13,8; Phil 2,3.4ff)
  2. die Verurteilung unterlassener Hilfeleistung (Jak 4,17; vgl. Luk 10,25-42)
  3. der Verzicht auf Rache und Vergeltung (Röm 12,14-21)
  4. die Ächtung von Geld- und Machtgier (Luk 12,13-21; Mk 10,35-45; 1Tim 6,6-10f)
  5. die Verpflichtung, sich für Frieden und Gerechtigkeit aktiv einzusetzen, in der Erkenntnis, dass Gerechtigkeit die Voraussetzung für Frieden untereinander ist (Ps 85,11; Jes 32,17; Mat 5,5-9; Jak 3,18)
  6. Aufrichtigkeit und ungeheuchelte Wahrheitsliebe (Ps 15,2; 51,8; Sach 8,16; Eph 4,25; Röm 12,9)
  7. Verbot der Parteilichkeit („Parteiisch sein ist eine üble Sache, aber mancher lässt sich schon durch ein Stück Brot zum Bösen verführen.“ Buch der Sprüche 28,21; vgl. Deut 1,17; 1Tim 5,21; Jak 2,1)
  8. demütige Selbstprüfung, Selbstkritikfähigkeit (1Kor 11,28a; Gal 6,4; 2Kor 13,5; Mat 7,1-5)
  9. Gewissensfreiheit (1Tim 1,9; 1Pet 3,16; Röm 14)
  10. Solidarität („Tragt stets Einer des Anderen Lasten, und erfüllt auf diese Weise das Gesetz des Christus.“ Gal 6,2).[11]

Mit diesen Ausführungen hoffe ich, Ihnen anschaulich vor Augen geführt zu haben, welch verheerende Signalwirkung eine parlamentarische Annahme dieses „Entschließungsantrags“ sowohl für den friedliebenden Teil des jüdischen Volkes (der bei weitem überwiegt) als auch für das an die Wand gedrückte palästinensische Volk bedeuten würde.

Darüber hinaus sollte meine Darstellung dazu verhelfen, mittels klar definierter Begriffe ungerechtfertigten Pauschal- und Vorurteilen entgegenzuwirken und alles, was immer unter „christlich“ im Allgemeinen und unter „evangelikal“ im Beson­deren firmiert, differenziert zu betrachten. – Ich danke für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit!

Überarbeitetes und stark erweitertes Manuskript zur Kundgebung der Palästina Solidarität Österreich.
© Fritz Weber, benaja [at] gmx.at. Verfasst im Jan. 2020. Im Internet unter: www.palaestinasolidaritaet.at/4496. Ergänzt im Juni. – Mehr darüber:

  • Studie: Welchen Wert misst die nationalreligiös-fundamentalistische Orthodoxie dem Leben nichtjüdischer Menschen bei?
  • OFFENER BRIEF an die Nationalrats-Abgeordneten betreffend Verurteilung von Antisemitismus und BDS-Bewegung (2020)
  • Studie: Der Anspruch des Neozionismus auf Alleinbesitz Palästinas und seine Rechtfertigung auf dem Prüfstand der Hebr. Bibel

Nachtrag

Am 70. Jahrestag der Staatsgründung, am 14. Mai 2018, versammelte sich in Jerusalem zur Eröffnungszeremonie für die aus Tel Aviv-Jaffa übersiedelte US-amerikanische Botschaft eine illustre, hochpolitische und religiöse, bemerkenswert exklusive Gesellschaft – bestehend nicht nur aus säkular- und religiös-nationalistischen Politikern neben diplomatischen Delegationen und internationalen Vertretern, sondern auch aus Leitern evangelikal-zionistischer Organisationen und Bewegungen wie der Tele-Evangelist und Gründer von „Christians United for Israel“ (CUFI), John Hagee, und der baptistische „Mega-Church“-Pastor Robert Jeffress aus Texas, Seite an Seite mit Rabbi Zalman Wolowik und Trump-Schwiegersohn Jared Kushner, beide mit der lurianisch-kabbalistisch-messianistischen Chabad-Bewegung assoziiert. Von John Hagee ist der anmaßend-exklusivistische Anspruch und Vorwurf bekannt, den er 2014 in einem Interview erklärt hat:

„Entweder ist man ein Christ oder ein Antisemit. Schlussfolgerung: Wenn man nicht für Israel und das Jüdische Volk ist, ist man entweder ein biblischer Ignorant, oder man ist kein Christ.“

Zum selben Zeitpunkt, nicht allzu weit von diesem Event entfernt, fand simultan ein blutiges, mörderisches Vorgehen der hochgerüsteten israelischen Militärs statt, deren Kampfpanzer mit Sprenggranaten über den Grenzzaun des Gaza-Streifens, des größten „Freiluftgefängnisses“ der Welt, auf unbewaffnete Menschen feuerten, Nachkommen von Menschen, die 1948 aus ihrer Heimat vertrieben wurden (z. B. Jaffa, s. o.6), weil sie Nichtjuden waren und für fremde (jüdische) Einwanderer Platz machen sollten. Die verstörende Gleichzeitigkeit der von den Medien live gelieferten Bilder – triumphale Jubelfeier („campaign rally atmosphere“) in Jerusalem und Partystimmung in Tel Aviv auf der einen Seite, schwerverletzende und tödli­che Angriffe durch Tränengas und Scharfschützen gegen verzweifelte, gewaltfrei um Befreiung und Rückkehr in ihre Heimat demonstrierende, blutende und sterbende Männer, Frauen und Kinder auf der anderen Seite – offenbarte die Surrealität die­ses krassen Gegensatzes und der Antichristlichkeit dieser neozionistischen Bewegung. (Life-Mitschnitt: https://bit.ly/2XY5Xmj)

Dazu kann ich als ein dem Evangelium verpflichteter evangelikaler Christ nur nachdrücklich kundtun: „Not in my name!“

Druckversion zum Herunterladen (PDF, 9 A4-Seiten, 370 KB): „Antizionistisch“ und „evangelikal“ – gegensätzlich oder zusammengehörig?

[1]  Noam Chomsky hatte 1953 eine Reise nach Israel unternommen, wo er im HaZore'a-Kibbuz lebte. In den 1950er Jahren war dies ein Zentrum der Versuche der internationalen sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation Haschomer Hatzair, mit der lokalen arabischen Bevölkerung zu arbeiten. Sie kannte drei Schwerpunkte: Völkerfreundschaft, Pfadfinderschaft und Laizismus, und trat für eine binationale Regelung ein. Entsetzt war Chomsky über den jüdischen Nationalismus des Landes, den antiarabischen Rassismus und – innerhalb der linken Kibbuz-Bewegung – über den Pro-Stalinismus (Wikipedia).

Auch der österreichisch-israelische jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1954) vertrat eine binationale Lösung; eindring­lich mahnte er die Zionisten, gute Beziehungen zu den Arabern aufzubauen. Das trug ihm viel Widerspruch und Feindschaft ein.

[2]  Worin bestanden „die Visionen der Propheten Israels“? Nach Hesekiel: in der völligen Gleichstellung aller Mitbürger (47,21-23)!

[3]  Ganz anders die palästinensischen Araber (unter denen christliche Palästinenser maßgeblich vertreten waren): Sie strebten, wie im UN Yearbook: 1947-1948, S. 232f, festgehalten, einen arabischen Staat über ganz Palästina an, der demokratisch (nicht islamisch!) regiert, allen seinen Bürgern gleiche Rechte zuerkennen und die legitimen Rechte und Interessen aller Minderheiten garantieren würde. Angesichts des UN-Teilungsplans wollten die arabischen Länder den Internationalen Gerichtshof über die Zuständigkeit der UN-Generalversammlung für die Teilung eines Landes befragen, aber eine diesbezügliche UN-Resolution wurde abgelehnt.

Dagegen strebten die Zionisten in Wahrheit einen spezifisch jüdischen Staat an. Zwar befürwortete David Ben-Gurion den UN-Teilungsplan, aber er betrachtete den Vorschlag nur als einen ersten Schritt dahin, das ganze Land beidseits des Jordans zu beanspruchen. An seinen Sohn Amos schrieb er: „Ein jüdischer Teilstaat ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang. Unsere historischen Bemühungen, das Land in seiner Gesamtheit zu erlösen, werden dadurch gewaltigen Auftrieb erhalten.“ Und ein Punkt wiege ohnehin alle Nachteile auf: der „Zwangstransfer“, wie der israelische Historiker Tom Segev schrieb (in: „Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels“, 5. Aufl. 1999, S. 441; 636).

[4]  Weder der Begriff „demokratisch“ noch die Formulierung: „ein Recht für alle Einwohner“ wurde in die Unabhängigkeitserklärung aufgenommen. Auch gegen die Spezifizierung der Grenzen des zukünftigen Staates hatte sich Ben-Gurion ausgesprochen, und nicht einmal die vage Formulierung: „innerhalb seiner historischen Grenzen“ setzte sich durch. (Dafür hatten die Revisionisten plädiert, die sich für „einen jüdischen Staat auf beiden Seiten des Jordans“, d. h. einschließlich Transjordaniens, eingesetzt hatten.) Es bedeutete daher eine grobe Unwahrheit, dass der israelische Diplomat Eliahu Epstein am Tag der Proklamation an den US-amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman schrieb, dass der Staat „innerhalb der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution vom 29. November 1947 gebilligten Grenzen“ proklamiert worden sei. Auf Basis dieser wahrheits­widrigen „Zusicherung“ haben die Vereinigten Staaten – ahnungslos – Israel schon am Tag danach als erster UNO-Staat de facto anerkannt, obwohl sie nur kurz davor den Aufschub einer Unabhängigkeitserklärung verlangt und statt dessen für einen Waffen­stillstand plädiert hatten, den Israel freilich zugunsten einer unverzüglichen Proklamation ignorierte.

Fazit: Alles in allem sind die Indizien geradezu erdrückend dafür, dass die zionistischen Staatsgründer die Weltöffentlichkeit bzw. die UNO betreffend ihre wahren Absichten – ein „Araber-gesäubertes Großisrael“ statt einer bloßen „Heimstätte“ – schamlos hinters Licht geführt haben.

[5]  Ben-Gurion, der sich jetzt als „Oberbefehlshaber“ sah, schrieb am 19.9.1947 in sein Tagebuch: „Man muss die Methode aggressiver Verteidigung anwenden, bei jedem Angriff möglichst einen schweren Schlag landen, den Ort zerstören oder die Einwohner vertrei­ben und ihre Stelle einnehmen“. Er wollte „es nicht bei reinen Verteidigungstaktiken bewenden lassen“, sondern „den Feind aus­löschen, wo immer er sich befindet“, auch außerhalb „Erez Israels“. „Wir werden Port Said, Alexandria und Kairo bombardieren und so den Krieg beenden – werden die Rechnung unserer Vorväter mit Ägypten begleichen […].“ (Tom Segev: „David Ben-Gurion. Ein Staat um jeden Preis“, 2018, S. 424, 426).

[6]  Die alte arabisch-palästinensische Stadt Jaffa, im UN-Teilungsplan für den arabischen Staat vorgesehen, kapitulierte am 13. Mai vor dem Angriff einer gemeinsamen Militäraktion von Haganah und Irgun. Die hauptsächlich arabische Bevölkerung der Stadt (davon 20% christlich) wurde vertrieben; „von den 70.000 blieben nur 3.000“ (Shmuel Ettinger in: H. H. Ben-Sasson, "Die Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart” 2018, S. 1298). Insgesamt wurden 1947-1949 über 700.000 Einheimische vertrieben oder umgebracht („Al Nakba“, „die Katastrophe“).

[7]  Lit.: Ilan Pappé: „Aufstellung eines Masterplans“ und „Die Blaupause der ethnischen Säuberung: Plan Dalet“ in: „Die ethnische Säuberung Palästinas“, deutsche Ausgabe 2019, S. 67–176.

[8] Lit.: Peter Schäfer: „Die Ursprünge der jüdischen Mystik“, 2011, 671 Seiten.

[9] Lit.-Nachweise angegeben in: „Jewish Fundamentalism in Israel“, New Edition 2004, von Israel Shahak und Norton Mezvinsky.

[10] "Catastrophic Thinking: Did Ben-Gurion Try to Rewrite History?" Shay Hazkani, 16. Mai 2013 (https://bit.ly/3hW9Hws). Die so genannte "Nakba-Akte", deren Nummer 681-922/1975 lautet, enthält Material, das der damalige Ministerpräsident David Ben-Gurion Anfang der 1960er Jahre in Auftrag gab, um zu beweisen, dass fast eine Million Palästinenser, die 1948 in Städten und Dörfern auf dem Gebiet lebten, das 1948 israelisches Gebiet wurde, während des „Unabhängigkeitskrieges“ aus eigenem Antrieb flohen und nicht von der IDF vertrieben wurden.

[11] Ein wahrhaft evangeliumsgemäßes, vorbildhaftes und unterstützenswertes Friedens- und Begegnungszentrum mit über 100jähriger autarker Bio-Landwirtschaft auf Dahers Weinberg bei Bethlehem ist das private Familienprojekt: Zelt der Nationen arabischer Christen.