Poetische Ungerechtigkeit: Palästinensische Dichterin wegen Facebook-Beitrag verhaftet

Von Yoav Haifawi

Wegen Anstiftung zu Gewalt verbrachte die Dichterin und Aktivistin Dareen Tatour sechs Monate in Untersuchungshaft. Das wichtigste Beweismittel gegen sie war ein Gedicht, das sie auf Facebook veröffentlicht hatte.

 

Kurz vor Sonnenaufgang um 3:00 Uhr früh am 10. Oktober 2015 umstellten mehrere Streifenwagen der Polizei Nazareth in Begleitung einer Einheit der israelischen Grenzpolizei eine stilles Haus im nah gelegenen Dorf Al-Reineh. Auf der Suche nach der 33-jähringen Dareen Tatour, einer palästinensischen Dichterin, Fotografin und Aktivistin, verschafften sie sich gewaltsam Zutritt zu dem Gebäude und weckten die erschreckten Bewohner. Einen Hausdurchsuchungsbeschluss oder einen Haftbefehl hatten sie nicht, nahmen die schockierte Darren Tatour aber fest und zwangen sie mitzukommen.

 

 

Der Monat Oktober 2015 mündete in eine Woge des Volkskampfs unter den Palästinensern. Da es um eine Reaktion auf die Provokationen um die Al-Aqsa-Moschee ging, lag das Zentrum dieser Protestwelle in Jerusalem (Al-Quds). Von dort breitete sie sich später über den gesamten Gazastreifen, die Westbank und innerhalb der Grünen Linie aus. Zusammenstöße zwischen Demonstranten und israelischen Truppen waren an der Tagesordnung. Dareen Tatour war allerdings nicht davon ausgegangen, dass man sie verhaften würde. An den Demonstrationen hatte sie dieses Mal nicht teilgenommen, wenn sie auch früher in ihrer Eigenschaft als Fotografin öfter ins Visier der Polizei geraten und angegriffen worden war. Im Jahr 2008 war sie verwundet worden, als  Polizisten und andere Sicherheitskräfte den seit 1998 jährlich stattfindenden palästinensischen Rückkehrmarsch in  Saffuriya
 in Nordisrael attackierten. Nur, das alles war lange her. Aber was war jetzt passiert?

 

 

Anscheinend war der unmittelbare Grund für Tatours Verhaftung eine Stellungnahme, die sie auf Facebook veröffentlicht hatte. Am 9. Oktober 2015 war eine Palästinenserin, die Gentechnik-Doktorandin und Mutter dreier Kinder Israa Abed aus Nazareth, auf dem Heimweg von der Universität am zentralen Busbahnhof von israelischen Soldaten erschossen worden. Die Videoaufnahmen ihrer kaltblütigen Erschießung durch mehrere israelische Soldaten verbreiteten sich wie ein Lauffeuer, und die arabische Gemeinde reagierte geschockt. Nach Angaben der israelischen Polizei veröffentlichte Dareen Tatour ein Foto von Israa Abed und schrieb:  „Ich werde die nächste Märtyrerin sein.“ Alle von den israelischen Sicherheitskräften erschossenen Palästinenser und Palästinenserinnen werden von Israels Regime, in den Medien und in der israelischen Öffentlichkeit unweigerlich als " Mekhabel" dargestellt (wörtlich übersetzt "Saboteur") – dieser Begriff wurde extra in die hebräische Sprache eingeführt, um arabische Widerstandskämpfer zu entmenschlichen und gleichzeitig klarzustellen, dass sie nicht einmal gewöhnliche "Terroristen" sind. Während jeder einzelne Araber, der sich den Film angesehen hat, klar erkannte, dass Israa Abed niemanden angegriffen hatte, und daraus folgerte, dass  mittlerweile jeder
Araber ganz zufällig erschossen werden kann, interpretierten die israelischen Medien denselben Vorfall hysterisch als einen Beweis dafür, dass jeder Araber und jede Araberin ein "mekhabel" sein könne. (Glücklicherweise waren Israa Abeds Verletzungen nicht tödlich, und Israel ließ später alle "Sicherheits“-Vorwürfe gegen sie fallen).

 

 

Für die Israelis ist jeder palästinensische "Märtyrer" (shadid) ein Selbstmordattentäter. Für die Palästinenser sind nicht nur Freiheitskämpfer, sondern alle unschuldigen Opfer der Besatzung  shadids.
In dieser angespannten Zeit war Dareen Tatour schon als Feindin vorgemerkt. Sich kann sich sogar glücklich schätzen, dass sie nur inhaftiert und nicht auf sie geschossen wurde, so dass sie nicht wirklich zu einer shahida wurde, wie so viele andere. Die Sache gegen Dareen Tatour
Nachdem sie nun Dareen Tatour in Obhut genommen und ihren Computer und ihr Smartphone konfisziert hatten, gaben sich die besten und hellsten Köpfe der Polizei Nazareth alle Mühe zu beweisen, dass Dareen Tatour tatsächlich eine Bedrohung für die Sicherheit war, und eine Anklage gegen sie zusammenzuzimmern. Am Montag, dem 2. November 2015, wurde sie wegen Anstiftung zu Gewalt und Unterstützung einer Terrororganisation angeklagt. (Die offizielle Anklageschrift habe ich nicht gesehen, es gibt aber  Medienberichte darüber, die auf Arabisch und  Hebräisch nachzulesen sind.

 

 

Der wichtigste Punkt in der Anklageschrift war auf ein Gedicht gegründet, das Dareen Tatour (oder eine andere Person, die ihren Namen benutzte – das wird derzeit noch überprüft) unter dem Titel "Qawem ya sha’abi, qawemhum" (Wehre dich, mein Volk, widersetze dich ihnen) auf YouTube veröffentlicht hatte. An dem Gedicht ist nichts Illegales, nicht einmal nach den israelischem Recht. Aber die Umstände spielen auch eine Rolle, und das Gedicht erschien auf dem Hintergrund von Zusammenstößen palästinensischer Jugendlicher mit den Besatzungstruppen. Und die Bilder dieser Ereignissen zeigen laut der israelischen Staatsanwaltschaft und den Medien  „Palästinenser, die in terroristischen Aktivitäten begriffen sind“!
Ein weiterer wichtiger Punkt in der Anklageschrift bezieht sich auf eine Pressenotiz, die in einem Beitrag auf Dareen Tatours Facebook-Seite zitiert wurde und die lautete: „Die Bewegung des Islamischen Jihad ruft zur Fortführung der Intifada in der gesamten Westbank auf...“

 

Im selben Beitrag wird eine  „umfassende Intifada“ gefordert. Es lässt sich darüber streiten, was ein solcher Aufruf zur Intifada eigentlich bedeutet, der Beitrag selbst enthält aber keine offenkundige Unterstützung für den Islamischen Jihad. Dieselbe kurze Pressemeldung könnte in genau demselben Wortlaut in israelischen Medien erscheinen. Aber in Israel werden Palästinenser schon allein deshalb für schuldig befunden, weil sie ihre Unterdrücker nicht lieben. Endlose, unermüdliche Verfolgung Jedenfalls begann der mühseligste Teil der unendlichen Geschichte von Dareen Tatour erst, nachdem sie angeklagt worden war. In ähnlich geringfügigen Fällen, bei denen es um Beiträge auf Facebook ging, waren die Beschuldigten unter Hausarrest gestellt worden, so lange das Gerichtsverfahren lief.

 

 

In Dareen Tatours Fall führte die Staatsanwaltschaft einen Zermürbungskrieg, um ihre Untersuchungshaft so lange wie möglich auszudehnen. Sie schloss von vorn herein aus, dass Dareen Tatour bei ihren Eltern unter Hausarrest gestellt wird und verlangte, dass sie in einen anderen Teil des Landes gebracht wird. Das macht schon deshalb keinen Sinn, weil die Vorwürfe gegen Dareen Tatour sich auf Online-Statements beziehen, bei denen die Geografie überhaupt keine Rolle spielt. Aber zu diesem Zeitpunk hatten die israelischen Behörden die Anklage gegen sie schon zum Flaggschiff ihres Kreuzzugs zum Schutz „der Sicherheit der Region“ aufgebaut. Und in israelischen Gerichten genügt das bloße Aussprechen des Wortes „Sicherheit“, um fast jeden Richter von einem Hüter der Justiz in einen folgsamen Erfüllungsgehilfen zu verwandeln.

 

 

Die Staatsanwaltschaft verlangte weiter, dass Dareen Tatour unter ständiger Beobachtung durch freiwillige Wächter in einem Haus ohne Internetanschluss festgehalten und im Fall eines Verstoßes gegen den Hausarrest mit hohen Strafen belegt wird. Alle konkreten Vorschläge, die versuchten, diesen harschen Bedingungen zu entsprechen, lehnte die Anklage allerdings ab und legte beim Bezirksgericht Rechtsmittel gegen die ihrer Meinung nach zu milde Entscheidung des Amtsgericht im Fall Dareen Tatour ein.

 

 

Im Ergebnis verbrachte Dareen Tatour mehr als drei Monate in verschiedenen Haftanstalten, unter harten Bedingungen, und wurde von einer endlosen Gerichtsverhandlung zur nächsten geschleppt. Schließlich, am 14. Januar 2016, wurde sie in einem Haus unter Arrest gestellt, das ihr Bruder extra zu diesem Zweck in einem Vorort von Tel Aviv angemietet hatte. Sie musste sich die ganze Zeit über drinnen aufhalten. Eine elektronische Fußfessel, die an ihrem Fußgelenk angebracht war, wachte über jede ihrer Bewegungen – zusätzlich zu den unglückseligen "Wächtern".

 

Am Dienstag, dem 13. April 2016 fuhr ich nach Nazareth, um an der ersten Anhörung zu Dareens Verfahren teilzunehmen. Die kleine Unterstützergruppe bestand aus einigen ihrer Angehörigen sowie aus Muhammad Barakeh, dem Leiter des Hohen Arabischen Beobachterausschusses (das offizielle Vertretungsorgan der palästinensischen Bürger in Israel), und der Knesset-Abgeordneten Haneen Zoabi. Die Anklage begann ihre Einlassung, indem sie den Polizisten, der das Gedicht  "Qawem"  ins Hebräische übersetzt hatte, in den Zeugenstand rief. Die Szene war vollkommen surreal. Gedichte sind ihrem ureigensten Wesen nach mit dem Konzept der "Überzeugung jenseits aller vernünftigen Zweifel", das im Zentrum des Strafrechts liegt, völlig unvereinbar. Der Zeuge, ein Polizeibediensteter, hatte mit den Mehrdeutigkeiten des Gehalts des Gedichtes zu kämpfen und lieferte seine persönliche, intuitive Übersetzung der Wortverbindungen ab. Wir waren hin und her gerissen zwischen dem Drang laut aufzulachen und der Fassungslosigkeit, die uns ergriff, wenn wir daran dachten, dass die Freiheit unserer lieben Dareen von diesem Unsinn abhing.

 

 

Die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft und der Richter die vermeintliche Aufhetzung, die in dem Gedicht symbolisch dargestellt sein soll, allen Ernstes weiter diskutierten, demonstriert nur einmal mehr die Art und Weise, in der der israelische Unterdrückungsapparat durch seinen eigenen Hass und seine eigenen Lügen verblendet ist. Das Fehlen auch nur des geringsten Hauchs von Gerechtigkeit und ihre vollständige Geringschätzung für die grundlegenden Menschenrechte von Palästinensern zeigt sich allerdings noch offenkundiger in der achtlosen Entscheidung sich auf einen Polizeibediensteten ohne jede fachliche linguistische Kompetenz als Übersetzer zu verlassen. Unbekümmert bezeugte dieser, dass die Tatsachen, dass er in jungen Jahren auf der weiterführenden Schule das Fach Literatur belegt hatte und bis heute eine Liebe zur arabischen Sprache pflege, ihn für diesen Job geeignet machten.
Richter und Staatsanwalt waren zuversichtlich, Dareen ihrer Freiheit aufgrund einer Interpretation ihres Gedichts berauben zu
können, das nicht einmal ordentlich übersetzt war! 

 

Solidarität gefordert

 

Der Fall von Dareen Tatour ist nur ein weiteres kleines Beispiel für Israels Unterdrückung der Palästinenser. Bisher sind mir keine gezielten Solidaritätsaktionen für Dareen bekannt, weder innerhalb Palästinas noch im Ausland. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, dass durchschnittlich jeden Tag Palästinenser aller Altersgruppen erschossen und getötet werden und dass es Tausende von palästinensischen Häftlingen gibt (etliche davon Kinder) und viele Hundert, die über Jahre ohne ein gerichtliches Verfahren inhaftiert sind. Und doch denke ich, dass der Fall von Dareen Tatour eine besondere Aufmerksamkeit verdient. Sie ist eine Frau und eine Poetin. Die Hauptanklage gegen sie wird mit ihrem Gedicht begründet. Das bietet Dichtern und Schriftstellern eine gute Gelegenheit , sich gegen die Besatzung und ihre Praxis der Kriminalisierung aller palästinensischen Äußerungen des Wunschs nach Freiheit und Würde zu positionieren. Während der Verhandlung erhob Dareen Tatours Anwalt Abed Fahoum auch den Einwand, dass das Gesetz gegen die Anstiftung zu Straftaten auf diskriminierende Weise durchgesetzt wird. Die sozialen Medien und die Mainstream-Medien in Israel wimmeln nur so von Aufrufen, die Araber zu töten, manche verlautbart durch prominente Politiker und Rabbis. Die rassistische Einstellung der Staatsanwaltschaft, die sich ausschließlich gegen die freie Meinungsäußerung der arabischen Bevölkerung richtet, während sie gegenüber zionistischen Aufwiegeleien auf einem Auge blind ist, muss thematisiert werden. Diese Linie der Verteidigung weiter zu verfolgen, ist für die palästinensisch-arabische Öffentlichkeit generell von größtem Interesse. Dareen Tatour und ihr Anwalt werden – innerhalb und außerhalb des Gerichtssaals – jede Hilfe brauchen, die sie bekommen können, um diesem Punkt Gehör zu verschaffen.

 

 

Yoav Haifawi ist das Pseudonym eines in Haifa lebenden Aktivisten. Er betreibt den Blog Free Haifa in englischer, arabischer und  hebräischer
Sprache. Eine Version dieses Artikels ist auf der englischen Seite von Free Haifa zum ersten Mal erschienen.